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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 10te März.
O! könt ich mir die Jugend wieder geben:
Wie wolt ich sie so wohlgenützt verleben!


Je klüger ein Mensch ist, desto früher bedauert er seine nicht
genug genützten Jugendjahre. Die bereuete Unwis-
senheit ist um desto heisamer, je weniger sie sich verspätet. O!
wie viel hätte ich lernen können, sagt ein dreißigjähriger Weiser:
im funfzigsten giebt so gar der Thor es halb und halb zu. "Gott
&q;hatte mir gute Fähigkeiten gegeben; meine rechtschafne Eltern
&q;und Lehrer meinten es so gut, und wendeten alles an: ich aber
&q;war flatterhaft, folgte bösen Exempeln, und liebte zügellose
&q;Freiheit. Jetzt empfinde ich die ekle Folgen meines Unfleisses.
&q;Wie glücklich und geehrt, mir selbst eine Lust, könte ich seyn,
&q;wenn ich ihre Ermahnungen nicht verachtet hätte!"

Siehe, Mensch! so wirst du auch, nach zurückgelegter an-
dern Kindheit klagen, wenn du sie eben so leichtsinnig verlebet
hast. Der verstorbne unwissende Greis, der nichts als Sünde
und Thorheit gelernet hatte, wird sich der vergeblichen Warnun-
gen und Bitten seines himlischen Vaters, der Lehren Jesu, und
der Zucht des heiligen Geistes mit Schaudern erinnern. "O!
&q;was hätte ich in meiner sechzig, siebzigjährigen Schule auf Er-
&q;den nicht lernen und thun können! wie ewig unglücklich! Die
&q;Schuljahre kommen nicht wieder, und ich kan nun nichts mehr
&q;lernen, als -- daß ich ein abscheulicher Thor bin!" -- Sün-
der! zweifelst du noch, daß eine Hölle sey?

Nicht ohne gütige Absichten entdeckt uns Gott den ersten
Betrug, den uns unser Leichtsinn gespielet hat: damit wir dem

andern,
Tiedens Abendand. I. Th. K


Der 10te Maͤrz.
O! koͤnt ich mir die Jugend wieder geben:
Wie wolt ich ſie ſo wohlgenuͤtzt verleben!


Je kluͤger ein Menſch iſt, deſto fruͤher bedauert er ſeine nicht
genug genuͤtzten Jugendjahre. Die bereuete Unwiſ-
ſenheit iſt um deſto heiſamer, je weniger ſie ſich verſpaͤtet. O!
wie viel haͤtte ich lernen koͤnnen, ſagt ein dreißigjaͤhriger Weiſer:
im funfzigſten giebt ſo gar der Thor es halb und halb zu. „Gott
&q;hatte mir gute Faͤhigkeiten gegeben; meine rechtſchafne Eltern
&q;und Lehrer meinten es ſo gut, und wendeten alles an: ich aber
&q;war flatterhaft, folgte boͤſen Exempeln, und liebte zuͤgelloſe
&q;Freiheit. Jetzt empfinde ich die ekle Folgen meines Unfleiſſes.
&q;Wie gluͤcklich und geehrt, mir ſelbſt eine Luſt, koͤnte ich ſeyn,
&q;wenn ich ihre Ermahnungen nicht verachtet haͤtte!„

Siehe, Menſch! ſo wirſt du auch, nach zuruͤckgelegter an-
dern Kindheit klagen, wenn du ſie eben ſo leichtſinnig verlebet
haſt. Der verſtorbne unwiſſende Greis, der nichts als Suͤnde
und Thorheit gelernet hatte, wird ſich der vergeblichen Warnun-
gen und Bitten ſeines himliſchen Vaters, der Lehren Jeſu, und
der Zucht des heiligen Geiſtes mit Schaudern erinnern. „O!
&q;was haͤtte ich in meiner ſechzig, ſiebzigjaͤhrigen Schule auf Er-
&q;den nicht lernen und thun koͤnnen! wie ewig ungluͤcklich! Die
&q;Schuljahre kommen nicht wieder, und ich kan nun nichts mehr
&q;lernen, als — daß ich ein abſcheulicher Thor bin!„ — Suͤn-
der! zweifelſt du noch, daß eine Hoͤlle ſey?

Nicht ohne guͤtige Abſichten entdeckt uns Gott den erſten
Betrug, den uns unſer Leichtſinn geſpielet hat: damit wir dem

andern,
Tiedens Abendand. I. Th. K
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[145[175]/0182] Der 10te Maͤrz. O! koͤnt ich mir die Jugend wieder geben: Wie wolt ich ſie ſo wohlgenuͤtzt verleben! Je kluͤger ein Menſch iſt, deſto fruͤher bedauert er ſeine nicht genug genuͤtzten Jugendjahre. Die bereuete Unwiſ- ſenheit iſt um deſto heiſamer, je weniger ſie ſich verſpaͤtet. O! wie viel haͤtte ich lernen koͤnnen, ſagt ein dreißigjaͤhriger Weiſer: im funfzigſten giebt ſo gar der Thor es halb und halb zu. „Gott &q;hatte mir gute Faͤhigkeiten gegeben; meine rechtſchafne Eltern &q;und Lehrer meinten es ſo gut, und wendeten alles an: ich aber &q;war flatterhaft, folgte boͤſen Exempeln, und liebte zuͤgelloſe &q;Freiheit. Jetzt empfinde ich die ekle Folgen meines Unfleiſſes. &q;Wie gluͤcklich und geehrt, mir ſelbſt eine Luſt, koͤnte ich ſeyn, &q;wenn ich ihre Ermahnungen nicht verachtet haͤtte!„ Siehe, Menſch! ſo wirſt du auch, nach zuruͤckgelegter an- dern Kindheit klagen, wenn du ſie eben ſo leichtſinnig verlebet haſt. Der verſtorbne unwiſſende Greis, der nichts als Suͤnde und Thorheit gelernet hatte, wird ſich der vergeblichen Warnun- gen und Bitten ſeines himliſchen Vaters, der Lehren Jeſu, und der Zucht des heiligen Geiſtes mit Schaudern erinnern. „O! &q;was haͤtte ich in meiner ſechzig, ſiebzigjaͤhrigen Schule auf Er- &q;den nicht lernen und thun koͤnnen! wie ewig ungluͤcklich! Die &q;Schuljahre kommen nicht wieder, und ich kan nun nichts mehr &q;lernen, als — daß ich ein abſcheulicher Thor bin!„ — Suͤn- der! zweifelſt du noch, daß eine Hoͤlle ſey? Nicht ohne guͤtige Abſichten entdeckt uns Gott den erſten Betrug, den uns unſer Leichtſinn geſpielet hat: damit wir dem andern, Tiedens Abendand. I. Th. K

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 145[175]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/182>, abgerufen am 03.12.2024.