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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 19te Februar.
Die Heiligung erfodert Müh;
Du wirkst sie nicht, Gott wirket sie:
Du aber ringe stets nach ihr,
Als wäre sie ein Werk von dir,


Wie blutsauer lassen es sich doch die Menschen werden, um auf
wenige Jahre, (vieleicht sinds Tage!) die sie zu leben
hoffen können, Geld, Ehre und Vergnügen zu erwerben! Und
das alles meistens auf Kosten der Ewigkeit! Gleich als wäre die
vernachläßigte Seele
ein Spielzeug des Körpers, oder nur
ein Stiefkind, dem man alles abdarbet, um es dem geliebten
Körper zuzuwenden! Zeit, Gesundheit, Verstand, Kosten und
Mühe, nichts ist zu theuer, wenn es auf Erwerbung irdischer
Güter ankomt. Aber auf himlische wendet man -- nicht viel.
Um diese verkehrte Haushaltung einzusehen, darf ich nur folgende
Untersuchung anstellen;

Alles zusammen gerechnet, so beträgt der Dienst, welchen
ich dem Körper und meinem zeitlichen Glücke geleistet habe, ge-
wiß Jahre; wenn die Sorge für meine unsterbliche Seele kaum
so viel Tage austrägt. Ist es nicht höchst unverantwortlich, daß
ich mich stundenlang bemühete, Menschen zu gefallen, und dann
erst, gähnend und abgetrieben, eine übrige Minute an Gott ver-
loren dachte? Ich bin krank gewesen: aber in wessen Dienst ward
ich es? Schien mir nicht der Sontag kälter, und seine Witte-
rung furchtbarer zu seyn, als in den Wochentagen, wo mich Ver-
gnügen und Gesellschaft rief? Ich habe seit meiner Kindheit sehr
viel erlernt: aber was? Verdoppelten sich jährlich meine Einsich-
ten in Religionswahrheiten? Oder bin ich seit meinem funfzehn-
ten Jahre nicht viel weiter gekommen? Und ach! auch bis dahin

mogte
G 4


Der 19te Februar.
Die Heiligung erfodert Muͤh;
Du wirkſt ſie nicht, Gott wirket ſie:
Du aber ringe ſtets nach ihr,
Als waͤre ſie ein Werk von dir,


Wie blutſauer laſſen es ſich doch die Menſchen werden, um auf
wenige Jahre, (vieleicht ſinds Tage!) die ſie zu leben
hoffen koͤnnen, Geld, Ehre und Vergnuͤgen zu erwerben! Und
das alles meiſtens auf Koſten der Ewigkeit! Gleich als waͤre die
vernachlaͤßigte Seele
ein Spielzeug des Koͤrpers, oder nur
ein Stiefkind, dem man alles abdarbet, um es dem geliebten
Koͤrper zuzuwenden! Zeit, Geſundheit, Verſtand, Koſten und
Muͤhe, nichts iſt zu theuer, wenn es auf Erwerbung irdiſcher
Guͤter ankomt. Aber auf himliſche wendet man — nicht viel.
Um dieſe verkehrte Haushaltung einzuſehen, darf ich nur folgende
Unterſuchung anſtellen;

Alles zuſammen gerechnet, ſo betraͤgt der Dienſt, welchen
ich dem Koͤrper und meinem zeitlichen Gluͤcke geleiſtet habe, ge-
wiß Jahre; wenn die Sorge fuͤr meine unſterbliche Seele kaum
ſo viel Tage austraͤgt. Iſt es nicht hoͤchſt unverantwortlich, daß
ich mich ſtundenlang bemuͤhete, Menſchen zu gefallen, und dann
erſt, gaͤhnend und abgetrieben, eine uͤbrige Minute an Gott ver-
loren dachte? Ich bin krank geweſen: aber in weſſen Dienſt ward
ich es? Schien mir nicht der Sontag kaͤlter, und ſeine Witte-
rung furchtbarer zu ſeyn, als in den Wochentagen, wo mich Ver-
gnuͤgen und Geſellſchaft rief? Ich habe ſeit meiner Kindheit ſehr
viel erlernt: aber was? Verdoppelten ſich jaͤhrlich meine Einſich-
ten in Religionswahrheiten? Oder bin ich ſeit meinem funfzehn-
ten Jahre nicht viel weiter gekommen? Und ach! auch bis dahin

mogte
G 4
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[103[133]/0140] Der 19te Februar. Die Heiligung erfodert Muͤh; Du wirkſt ſie nicht, Gott wirket ſie: Du aber ringe ſtets nach ihr, Als waͤre ſie ein Werk von dir, Wie blutſauer laſſen es ſich doch die Menſchen werden, um auf wenige Jahre, (vieleicht ſinds Tage!) die ſie zu leben hoffen koͤnnen, Geld, Ehre und Vergnuͤgen zu erwerben! Und das alles meiſtens auf Koſten der Ewigkeit! Gleich als waͤre die vernachlaͤßigte Seele ein Spielzeug des Koͤrpers, oder nur ein Stiefkind, dem man alles abdarbet, um es dem geliebten Koͤrper zuzuwenden! Zeit, Geſundheit, Verſtand, Koſten und Muͤhe, nichts iſt zu theuer, wenn es auf Erwerbung irdiſcher Guͤter ankomt. Aber auf himliſche wendet man — nicht viel. Um dieſe verkehrte Haushaltung einzuſehen, darf ich nur folgende Unterſuchung anſtellen; Alles zuſammen gerechnet, ſo betraͤgt der Dienſt, welchen ich dem Koͤrper und meinem zeitlichen Gluͤcke geleiſtet habe, ge- wiß Jahre; wenn die Sorge fuͤr meine unſterbliche Seele kaum ſo viel Tage austraͤgt. Iſt es nicht hoͤchſt unverantwortlich, daß ich mich ſtundenlang bemuͤhete, Menſchen zu gefallen, und dann erſt, gaͤhnend und abgetrieben, eine uͤbrige Minute an Gott ver- loren dachte? Ich bin krank geweſen: aber in weſſen Dienſt ward ich es? Schien mir nicht der Sontag kaͤlter, und ſeine Witte- rung furchtbarer zu ſeyn, als in den Wochentagen, wo mich Ver- gnuͤgen und Geſellſchaft rief? Ich habe ſeit meiner Kindheit ſehr viel erlernt: aber was? Verdoppelten ſich jaͤhrlich meine Einſich- ten in Religionswahrheiten? Oder bin ich ſeit meinem funfzehn- ten Jahre nicht viel weiter gekommen? Und ach! auch bis dahin mogte G 4

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 103[133]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/140>, abgerufen am 21.11.2024.