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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 1te Februar.
Was sind die Tage? -- Zwillingsbrüder.
Ein blöder Blick verwechselt sie.
Doch keiner kommt noch einmal wieder,
Und jeder ruft: nun oder nie!


Der heutige Tag hat zwar einen andern Namen, als der ge-
strige; sonst aber sind beide sich so ähnlich, als Zwillings-
brüder. Die Sonne ist so unmerklich gestiegen, und der
Tag hat sich so wenig verlängert, daß ich Mühe habe, den Un-
terschied unter beiden zu finden. Der morgende Tag wird dem
heutigen wieder eben so ähnlich seyn, und sich so fest an seinen
Vorgänger anschliessen, daß ich auch sie beide für Eins halten
werde. So siehet man die Wellen eines Stroms. Jede schlägt
kurz hinter der andern her, und fließt mit ihr zusammen. Der
unbehutsame Zuschauer glaubt immer, dasselbe Wasser zu erbli-
cken, und jede Woge ist doch unter seinen Augen neu, und jede
bekommt er auch nur Einmal in seinem Leben zu sehen.

Der Schein betrügt demnach sehr. Und mögte er uns doch
bei Bächen und Flüssen betrügen; aber bei den Wellen unsers Le-
bens, deren jede uns dem Ufer der Ewigkeit näher führt! --
Jch will gegen die verführische Aehnlichkeit der Tage
auf meiner Hut seyn. Der heutige Tag ist allerdings verschieden
von dem gestrigen. Er vertieft, obgleich unmerklich die Furchen
meines Gesichts, und hinterläßt der Seele gleichsam eine Marke,
daß er bei ihr einen Besuch abgestattet habe. Der morgende Tag
wird sich schon darauf berufen, und die angefangne Arbeit seines
ältern Bruders fortzusetzen suchen. Gestern war ich noch nicht so
alt, hatte noch nicht so viel erfahren, noch nicht so viel gesündi-
get, und auch noch nicht so viele Wohlthaten von Gott empfan-
gen, als heute schon. Sind denn hunderttausend Othemzüge,
die ich seitdem beinahe geschöpft habe, eine Kleinigkeit? Hundert-
tausend, und jeder kan der letzte seyn?

Die
E 2


Der 1te Februar.
Was ſind die Tage? — Zwillingsbruͤder.
Ein bloͤder Blick verwechſelt ſie.
Doch keiner kommt noch einmal wieder,
Und jeder ruft: nun oder nie!


Der heutige Tag hat zwar einen andern Namen, als der ge-
ſtrige; ſonſt aber ſind beide ſich ſo aͤhnlich, als Zwillings-
bruͤder. Die Sonne iſt ſo unmerklich geſtiegen, und der
Tag hat ſich ſo wenig verlaͤngert, daß ich Muͤhe habe, den Un-
terſchied unter beiden zu finden. Der morgende Tag wird dem
heutigen wieder eben ſo aͤhnlich ſeyn, und ſich ſo feſt an ſeinen
Vorgaͤnger anſchlieſſen, daß ich auch ſie beide fuͤr Eins halten
werde. So ſiehet man die Wellen eines Stroms. Jede ſchlaͤgt
kurz hinter der andern her, und fließt mit ihr zuſammen. Der
unbehutſame Zuſchauer glaubt immer, daſſelbe Waſſer zu erbli-
cken, und jede Woge iſt doch unter ſeinen Augen neu, und jede
bekommt er auch nur Einmal in ſeinem Leben zu ſehen.

Der Schein betruͤgt demnach ſehr. Und moͤgte er uns doch
bei Baͤchen und Fluͤſſen betruͤgen; aber bei den Wellen unſers Le-
bens, deren jede uns dem Ufer der Ewigkeit naͤher fuͤhrt! —
Jch will gegen die verfuͤhriſche Aehnlichkeit der Tage
auf meiner Hut ſeyn. Der heutige Tag iſt allerdings verſchieden
von dem geſtrigen. Er vertieft, obgleich unmerklich die Furchen
meines Geſichts, und hinterlaͤßt der Seele gleichſam eine Marke,
daß er bei ihr einen Beſuch abgeſtattet habe. Der morgende Tag
wird ſich ſchon darauf berufen, und die angefangne Arbeit ſeines
aͤltern Bruders fortzuſetzen ſuchen. Geſtern war ich noch nicht ſo
alt, hatte noch nicht ſo viel erfahren, noch nicht ſo viel geſuͤndi-
get, und auch noch nicht ſo viele Wohlthaten von Gott empfan-
gen, als heute ſchon. Sind denn hunderttauſend Othemzuͤge,
die ich ſeitdem beinahe geſchoͤpft habe, eine Kleinigkeit? Hundert-
tauſend, und jeder kan der letzte ſeyn?

Die
E 2
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[67[97]/0104] Der 1te Februar. Was ſind die Tage? — Zwillingsbruͤder. Ein bloͤder Blick verwechſelt ſie. Doch keiner kommt noch einmal wieder, Und jeder ruft: nun oder nie! Der heutige Tag hat zwar einen andern Namen, als der ge- ſtrige; ſonſt aber ſind beide ſich ſo aͤhnlich, als Zwillings- bruͤder. Die Sonne iſt ſo unmerklich geſtiegen, und der Tag hat ſich ſo wenig verlaͤngert, daß ich Muͤhe habe, den Un- terſchied unter beiden zu finden. Der morgende Tag wird dem heutigen wieder eben ſo aͤhnlich ſeyn, und ſich ſo feſt an ſeinen Vorgaͤnger anſchlieſſen, daß ich auch ſie beide fuͤr Eins halten werde. So ſiehet man die Wellen eines Stroms. Jede ſchlaͤgt kurz hinter der andern her, und fließt mit ihr zuſammen. Der unbehutſame Zuſchauer glaubt immer, daſſelbe Waſſer zu erbli- cken, und jede Woge iſt doch unter ſeinen Augen neu, und jede bekommt er auch nur Einmal in ſeinem Leben zu ſehen. Der Schein betruͤgt demnach ſehr. Und moͤgte er uns doch bei Baͤchen und Fluͤſſen betruͤgen; aber bei den Wellen unſers Le- bens, deren jede uns dem Ufer der Ewigkeit naͤher fuͤhrt! — Jch will gegen die verfuͤhriſche Aehnlichkeit der Tage auf meiner Hut ſeyn. Der heutige Tag iſt allerdings verſchieden von dem geſtrigen. Er vertieft, obgleich unmerklich die Furchen meines Geſichts, und hinterlaͤßt der Seele gleichſam eine Marke, daß er bei ihr einen Beſuch abgeſtattet habe. Der morgende Tag wird ſich ſchon darauf berufen, und die angefangne Arbeit ſeines aͤltern Bruders fortzuſetzen ſuchen. Geſtern war ich noch nicht ſo alt, hatte noch nicht ſo viel erfahren, noch nicht ſo viel geſuͤndi- get, und auch noch nicht ſo viele Wohlthaten von Gott empfan- gen, als heute ſchon. Sind denn hunderttauſend Othemzuͤge, die ich ſeitdem beinahe geſchoͤpft habe, eine Kleinigkeit? Hundert- tauſend, und jeder kan der letzte ſeyn? Die E 2

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 67[97]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/104>, abgerufen am 21.12.2024.