Wollte der Himmel, Mortimer, es wäre so, wie Sie vermuthen! Der Mensch mag elend genug seyn, wenn er sich hundertfaches Unglück fingirt und jedes kleine Leiden durch ein trübes Vergrößerungsglas sieht: aber er kann doch hoffen, von seiner Krankheit geheilt zu werden, sein schwerer Traum wird ihn doch endlich ver- lassen. Der aber, der wirklich an der Quelle der Trübsale sitzt, ist unheilbar, er ist verloren, wenn er nicht das Glück einer völligen Unem- pfindlichkeit genießt; diese aber ist mir nicht zu Theil geworden. Ich mochte Ihnen in meinem Briefe nicht mit einer weitläuftigen Schilde- derung meiner Leiden lästig werden, aber sie sind wirklich so, daß sie wohl standhaftere Schul- tern zusammendrücken könnten. Schon nach ei- nigen Wochen meiner Heirath resignirte ich auf eine völlig glückliche Ehe, so gut sich auch die Comtesse noch anfangs verstellte; aber ich dachte nicht, so vielen Kränkungen und Widerwärtig-
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16. Der Graf Melun an Mortimer.
Paris.
Wollte der Himmel, Mortimer, es waͤre ſo, wie Sie vermuthen! Der Menſch mag elend genug ſeyn, wenn er ſich hundertfaches Ungluͤck fingirt und jedes kleine Leiden durch ein truͤbes Vergroͤßerungsglas ſieht: aber er kann doch hoffen, von ſeiner Krankheit geheilt zu werden, ſein ſchwerer Traum wird ihn doch endlich ver- laſſen. Der aber, der wirklich an der Quelle der Truͤbſale ſitzt, iſt unheilbar, er iſt verloren, wenn er nicht das Gluͤck einer voͤlligen Unem- pfindlichkeit genießt; dieſe aber iſt mir nicht zu Theil geworden. Ich mochte Ihnen in meinem Briefe nicht mit einer weitlaͤuftigen Schilde- derung meiner Leiden laͤſtig werden, aber ſie ſind wirklich ſo, daß ſie wohl ſtandhaftere Schul- tern zuſammendruͤcken koͤnnten. Schon nach ei- nigen Wochen meiner Heirath reſignirte ich auf eine voͤllig gluͤckliche Ehe, ſo gut ſich auch die Comteſſe noch anfangs verſtellte; aber ich dachte nicht, ſo vielen Kraͤnkungen und Widerwaͤrtig-
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[291[289]/0299]
16.
Der Graf Melun an Mortimer.
Paris.
Wollte der Himmel, Mortimer, es waͤre ſo,
wie Sie vermuthen! Der Menſch mag elend
genug ſeyn, wenn er ſich hundertfaches Ungluͤck
fingirt und jedes kleine Leiden durch ein truͤbes
Vergroͤßerungsglas ſieht: aber er kann doch
hoffen, von ſeiner Krankheit geheilt zu werden,
ſein ſchwerer Traum wird ihn doch endlich ver-
laſſen. Der aber, der wirklich an der Quelle
der Truͤbſale ſitzt, iſt unheilbar, er iſt verloren,
wenn er nicht das Gluͤck einer voͤlligen Unem-
pfindlichkeit genießt; dieſe aber iſt mir nicht zu
Theil geworden. Ich mochte Ihnen in meinem
Briefe nicht mit einer weitlaͤuftigen Schilde-
derung meiner Leiden laͤſtig werden, aber ſie
ſind wirklich ſo, daß ſie wohl ſtandhaftere Schul-
tern zuſammendruͤcken koͤnnten. Schon nach ei-
nigen Wochen meiner Heirath reſignirte ich auf
eine voͤllig gluͤckliche Ehe, ſo gut ſich auch die
Comteſſe noch anfangs verſtellte; aber ich dachte
nicht, ſo vielen Kraͤnkungen und Widerwaͤrtig-
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Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 1. Berlin u. a., 1795, S. 291[289]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell01_1795/299>, abgerufen am 03.12.2024.
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