Ich schreibe Dir, Eduard, aus einem Wirths- hause hinter York, es ist Nacht und Karl schläft im Nebenzimmer, -- alles umher ist feier- lich und still, die Klocke eines entfernten Dorfes tönt manchmal wie Grabgeläute zu mir her- über. --
Einsam sitz' ich hier, wie ein Elender, der aus einem goldenen Traume in seiner engen Hütte erwacht. -- Die schmelzenden Accorde der Symphonie sind geschlossen, das Theater ist zugefallen, ein Licht nach dem andern verlöscht. -- In diesem Gefühle schreib' ich Dir, Freund, Bruder, meine Seele sucht Theilnahme und fin- det sie bei Dir am reinsten und wärmsten.
Ich bin nie so aufmerksam als in diesen Au- genblicken darauf gewesen, wie von einem kleinen Zufalle, von einer unbedeutenden Kleinigkeit oft die Wendung unsers Charakters abhängt. Ein unmerklicher Schlag richtet und formt unsern Geist oft anders; wer kennt die Regeln, nach
2. William Lovell an Eduard Burton.
am 18ten May —
Ich ſchreibe Dir, Eduard, aus einem Wirths- hauſe hinter York, es iſt Nacht und Karl ſchlaͤft im Nebenzimmer, — alles umher iſt feier- lich und ſtill, die Klocke eines entfernten Dorfes toͤnt manchmal wie Grabgelaͤute zu mir her- uͤber. —
Einſam ſitz’ ich hier, wie ein Elender, der aus einem goldenen Traume in ſeiner engen Huͤtte erwacht. — Die ſchmelzenden Accorde der Symphonie ſind geſchloſſen, das Theater iſt zugefallen, ein Licht nach dem andern verloͤſcht. — In dieſem Gefuͤhle ſchreib’ ich Dir, Freund, Bruder, meine Seele ſucht Theilnahme und fin- det ſie bei Dir am reinſten und waͤrmſten.
Ich bin nie ſo aufmerkſam als in dieſen Au- genblicken darauf geweſen, wie von einem kleinen Zufalle, von einer unbedeutenden Kleinigkeit oft die Wendung unſers Charakters abhaͤngt. Ein unmerklicher Schlag richtet und formt unſern Geiſt oft anders; wer kennt die Regeln, nach
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0026"n="18[16]"/><divn="2"><head>2.<lb/>
William Lovell an Eduard Burton.</head><lb/><dateline><hirendition="#et">am 18ten May —</hi></dateline><lb/><p><hirendition="#in">I</hi>ch ſchreibe Dir, Eduard, aus einem Wirths-<lb/>
hauſe hinter <hirendition="#g">York</hi>, es iſt Nacht und Karl<lb/>ſchlaͤft im Nebenzimmer, — alles umher iſt feier-<lb/>
lich und ſtill, die Klocke eines entfernten Dorfes<lb/>
toͤnt manchmal wie Grabgelaͤute zu mir her-<lb/>
uͤber. —</p><lb/><p>Einſam ſitz’ ich hier, wie ein Elender, der<lb/>
aus einem goldenen Traume in ſeiner engen<lb/>
Huͤtte erwacht. — Die ſchmelzenden Accorde<lb/>
der Symphonie ſind geſchloſſen, das Theater iſt<lb/>
zugefallen, ein Licht nach dem andern verloͤſcht. —<lb/>
In dieſem Gefuͤhle ſchreib’ ich Dir, Freund,<lb/>
Bruder, meine Seele ſucht Theilnahme und fin-<lb/>
det ſie bei Dir am reinſten und waͤrmſten.</p><lb/><p>Ich bin nie ſo aufmerkſam als in dieſen Au-<lb/>
genblicken darauf geweſen, wie von einem kleinen<lb/>
Zufalle, von einer unbedeutenden Kleinigkeit oft<lb/>
die Wendung unſers Charakters abhaͤngt. Ein<lb/>
unmerklicher Schlag richtet und formt unſern<lb/>
Geiſt oft anders; wer kennt die Regeln, nach<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[18[16]/0026]
2.
William Lovell an Eduard Burton.
am 18ten May —
Ich ſchreibe Dir, Eduard, aus einem Wirths-
hauſe hinter York, es iſt Nacht und Karl
ſchlaͤft im Nebenzimmer, — alles umher iſt feier-
lich und ſtill, die Klocke eines entfernten Dorfes
toͤnt manchmal wie Grabgelaͤute zu mir her-
uͤber. —
Einſam ſitz’ ich hier, wie ein Elender, der
aus einem goldenen Traume in ſeiner engen
Huͤtte erwacht. — Die ſchmelzenden Accorde
der Symphonie ſind geſchloſſen, das Theater iſt
zugefallen, ein Licht nach dem andern verloͤſcht. —
In dieſem Gefuͤhle ſchreib’ ich Dir, Freund,
Bruder, meine Seele ſucht Theilnahme und fin-
det ſie bei Dir am reinſten und waͤrmſten.
Ich bin nie ſo aufmerkſam als in dieſen Au-
genblicken darauf geweſen, wie von einem kleinen
Zufalle, von einer unbedeutenden Kleinigkeit oft
die Wendung unſers Charakters abhaͤngt. Ein
unmerklicher Schlag richtet und formt unſern
Geiſt oft anders; wer kennt die Regeln, nach
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 1. Berlin u. a., 1795, S. 18[16]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell01_1795/26>, abgerufen am 21.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.