Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 1. Berlin u. a., 1795.

Bild:
<< vorherige Seite
2.
Karl Wilmont an Mortimer.


Ja Freund, bald, vielleicht in wenigen Tagen
seh' ich Dich wieder, es ist endlich Zeit, daß
ich Bonstreet verlasse. Oder ich hätte es viel-
mehr früher verlassen sollen, denn um meine
ganze Ruhe wieder mitzubringen, ist es itzt zu
spät. -- Wie viele Lächerlichkeiten und Wider-
sprüche im menschlichen Leben! -- Seit Mona-
then
trag' ich mich nun mit einer Wunde her-
um, deren Verschlimmerung ich recht gut wahr-
nahm, die ich aber nicht zu heilen suchte, außer
itzt, wo sie vielleicht unheilbar ist. Manche
Moralisten mögen dagegen sagen, was sie wol-
len, ich wenigstens finde gerade darinn einen
Trost, daß ich an meinem Schaden selber Schuld
bin, ich weiß, wie er nach und nach durch mei-
ne eigene Nachläßigkeit entstanden ist, und in-
dem ich der Geschichte dieser Entstehung nach-
gehe, und für jede Wirkung eine hinreichende
Ursache entdecke, falle ich unvermerkt in eine
Art von Philosophie, und gebe mich so über

2.
Karl Wilmont an Mortimer.


Ja Freund, bald, vielleicht in wenigen Tagen
ſeh’ ich Dich wieder, es iſt endlich Zeit, daß
ich Bonſtreet verlaſſe. Oder ich haͤtte es viel-
mehr fruͤher verlaſſen ſollen, denn um meine
ganze Ruhe wieder mitzubringen, iſt es itzt zu
ſpaͤt. — Wie viele Laͤcherlichkeiten und Wider-
ſpruͤche im menſchlichen Leben! — Seit Mona-
then
trag’ ich mich nun mit einer Wunde her-
um, deren Verſchlimmerung ich recht gut wahr-
nahm, die ich aber nicht zu heilen ſuchte, außer
itzt, wo ſie vielleicht unheilbar iſt. Manche
Moraliſten moͤgen dagegen ſagen, was ſie wol-
len, ich wenigſtens finde gerade darinn einen
Troſt, daß ich an meinem Schaden ſelber Schuld
bin, ich weiß, wie er nach und nach durch mei-
ne eigene Nachlaͤßigkeit entſtanden iſt, und in-
dem ich der Geſchichte dieſer Entſtehung nach-
gehe, und fuͤr jede Wirkung eine hinreichende
Urſache entdecke, falle ich unvermerkt in eine
Art von Philoſophie, und gebe mich ſo uͤber

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0208" n="200[198]"/>
        <div n="2">
          <head>2.<lb/>
Karl Wilmont an Mortimer.</head><lb/>
          <dateline> <hi rendition="#et">Bon&#x017F;treet.</hi> </dateline><lb/>
          <p><hi rendition="#in">J</hi>a Freund, bald, vielleicht in wenigen Tagen<lb/>
&#x017F;eh&#x2019; ich Dich wieder, es i&#x017F;t endlich Zeit, daß<lb/>
ich Bon&#x017F;treet verla&#x017F;&#x017F;e. Oder ich ha&#x0364;tte es viel-<lb/>
mehr fru&#x0364;her verla&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ollen, denn um meine<lb/>
ganze Ruhe wieder mitzubringen, i&#x017F;t es itzt zu<lb/>
&#x017F;pa&#x0364;t. &#x2014; Wie viele La&#x0364;cherlichkeiten und Wider-<lb/>
&#x017F;pru&#x0364;che im men&#x017F;chlichen Leben! &#x2014; Seit <choice><sic>Mona-<lb/>
theu</sic><corr>Mona-<lb/>
then</corr></choice> trag&#x2019; ich mich nun mit einer Wunde her-<lb/>
um, deren Ver&#x017F;chlimmerung ich recht gut wahr-<lb/>
nahm, die ich aber nicht zu heilen &#x017F;uchte, außer<lb/>
itzt, wo &#x017F;ie vielleicht unheilbar i&#x017F;t. Manche<lb/>
Morali&#x017F;ten mo&#x0364;gen dagegen &#x017F;agen, was &#x017F;ie wol-<lb/>
len, <hi rendition="#g">ich</hi> wenig&#x017F;tens finde gerade darinn einen<lb/>
Tro&#x017F;t, daß ich an meinem Schaden &#x017F;elber Schuld<lb/>
bin, ich weiß, wie er nach und nach durch mei-<lb/>
ne eigene Nachla&#x0364;ßigkeit ent&#x017F;tanden i&#x017F;t, und in-<lb/>
dem ich der Ge&#x017F;chichte die&#x017F;er Ent&#x017F;tehung nach-<lb/>
gehe, und fu&#x0364;r jede Wirkung eine hinreichende<lb/>
Ur&#x017F;ache entdecke, falle ich unvermerkt in eine<lb/>
Art von Philo&#x017F;ophie, und gebe mich &#x017F;o u&#x0364;ber<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[200[198]/0208] 2. Karl Wilmont an Mortimer. Bonſtreet. Ja Freund, bald, vielleicht in wenigen Tagen ſeh’ ich Dich wieder, es iſt endlich Zeit, daß ich Bonſtreet verlaſſe. Oder ich haͤtte es viel- mehr fruͤher verlaſſen ſollen, denn um meine ganze Ruhe wieder mitzubringen, iſt es itzt zu ſpaͤt. — Wie viele Laͤcherlichkeiten und Wider- ſpruͤche im menſchlichen Leben! — Seit Mona- then trag’ ich mich nun mit einer Wunde her- um, deren Verſchlimmerung ich recht gut wahr- nahm, die ich aber nicht zu heilen ſuchte, außer itzt, wo ſie vielleicht unheilbar iſt. Manche Moraliſten moͤgen dagegen ſagen, was ſie wol- len, ich wenigſtens finde gerade darinn einen Troſt, daß ich an meinem Schaden ſelber Schuld bin, ich weiß, wie er nach und nach durch mei- ne eigene Nachlaͤßigkeit entſtanden iſt, und in- dem ich der Geſchichte dieſer Entſtehung nach- gehe, und fuͤr jede Wirkung eine hinreichende Urſache entdecke, falle ich unvermerkt in eine Art von Philoſophie, und gebe mich ſo uͤber

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell01_1795
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell01_1795/208
Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 1. Berlin u. a., 1795, S. 200[198]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell01_1795/208>, abgerufen am 21.12.2024.