Warum hab' ich seit so langer Zeit keinen Brief von Ihnen erhalten? -- Ich bin darinn wie ein Kind, daß mir immer gleich tausend Uebel beifallen, die Ihnen zugestoßen seyn könn- ten; reißen Sie mich bald aus meiner Unruhe. -- Ich bin oft einsam und beschäftige mich in meinen Träumereien mit Ihrem Andenken, oft durchbohrt der Gedanke mein Herz: er hat dich vielleicht schon vergessen! und dann wein' ich und jammere, -- und werfe mir dann wieder das Unrecht vor, das ich Ihnen thue, und bit- te Ihrem kleinen Gemählde, das Sie mir hier- gelassen haben, meine Uebereilung ab. -- O schreiben Sie mir, selbst wenn Sie krank seyn sollten; seitdem ich keinen Brief von Ihnen er- halten habe, seh' ich nichts als Räuber und Banditen, die Sie überfallen und ermorden, ich sehe Sie ohnmächtig gegen die Wellen käm- pfen, -- oder höre Sie in einem brennenden Hause vergebens nach Rettung rufen, -- o schrei-
24. Amalie Wilmont an William Lovell.
London.
Warum hab’ ich ſeit ſo langer Zeit keinen Brief von Ihnen erhalten? — Ich bin darinn wie ein Kind, daß mir immer gleich tauſend Uebel beifallen, die Ihnen zugeſtoßen ſeyn koͤnn- ten; reißen Sie mich bald aus meiner Unruhe. — Ich bin oft einſam und beſchaͤftige mich in meinen Traͤumereien mit Ihrem Andenken, oft durchbohrt der Gedanke mein Herz: er hat dich vielleicht ſchon vergeſſen! und dann wein’ ich und jammere, — und werfe mir dann wieder das Unrecht vor, das ich Ihnen thue, und bit- te Ihrem kleinen Gemaͤhlde, das Sie mir hier- gelaſſen haben, meine Uebereilung ab. — O ſchreiben Sie mir, ſelbſt wenn Sie krank ſeyn ſollten; ſeitdem ich keinen Brief von Ihnen er- halten habe, ſeh’ ich nichts als Raͤuber und Banditen, die Sie uͤberfallen und ermorden, ich ſehe Sie ohnmaͤchtig gegen die Wellen kaͤm- pfen, — oder hoͤre Sie in einem brennenden Hauſe vergebens nach Rettung rufen, — o ſchrei-
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[172[170]/0180]
24.
Amalie Wilmont an William Lovell.
London.
Warum hab’ ich ſeit ſo langer Zeit keinen
Brief von Ihnen erhalten? — Ich bin darinn
wie ein Kind, daß mir immer gleich tauſend
Uebel beifallen, die Ihnen zugeſtoßen ſeyn koͤnn-
ten; reißen Sie mich bald aus meiner Unruhe.
— Ich bin oft einſam und beſchaͤftige mich in
meinen Traͤumereien mit Ihrem Andenken, oft
durchbohrt der Gedanke mein Herz: er hat dich
vielleicht ſchon vergeſſen! und dann wein’ ich
und jammere, — und werfe mir dann wieder
das Unrecht vor, das ich Ihnen thue, und bit-
te Ihrem kleinen Gemaͤhlde, das Sie mir hier-
gelaſſen haben, meine Uebereilung ab. — O
ſchreiben Sie mir, ſelbſt wenn Sie krank ſeyn
ſollten; ſeitdem ich keinen Brief von Ihnen er-
halten habe, ſeh’ ich nichts als Raͤuber und
Banditen, die Sie uͤberfallen und ermorden,
ich ſehe Sie ohnmaͤchtig gegen die Wellen kaͤm-
pfen, — oder hoͤre Sie in einem brennenden
Hauſe vergebens nach Rettung rufen, — o ſchrei-
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Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 1. Berlin u. a., 1795, S. 172[170]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell01_1795/180>, abgerufen am 21.11.2024.
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