Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Thomasius, Christian: Von der Kunst Vernünfftig und Tugendhafft zu lieben. Halle (Saale), 1692.

Bild:
<< vorherige Seite
Liebe aller Menschen
37.

Dieweil demnach der Endzweck aller
Versprechungen dahin zielet/ daß ein Mensch
dadurch dem andern sich vollkömmlich zu ver-
pflichten trachtet/ der ihm sonst/ wie wir allbeteit
erwehnet/ aus der Tugend der Leutseeligkeit un-
vollkommen/ und ohne zulänglichen Zwang ver-
bunden wäre/ auch die Natur des menschlichen
Geschlechts also beschaffen ist/ daß alle und jede
Menschen ordentlich fähig seyn/ durch derglei-
chen Versprechungen sich mit einander zu verbin-
den; als ist offenbahr/ daß die allgemeine Ruhe
und die Gleichheit der menschlichen Natur
erfordere/ daß ein jeder das gethane Versprechen
zu halten schuldig sey.

38.

Gleichwie es sich aber von sich selbst ver-
stehet/ daß man keine Treue und Glauben von
keinen Menschen praetendiren könne/ wenn kein
Versprechen vorhergegangen; also ist unsers
Thuns nicht/ alhier weitläufftig zu untersuchen/
was denn zu dem Wesen eines rechten Ver-
sprechens eigentlich gehöre/ in dem diese Lehre
mehr zu der Rechts-Gelahrheit/ als zu der Sit-
ten-Lehre gehöret/ wir auch oben allbereit gesagt
haben/ daß die Liebe/ von der wir hauptsächlich
hier reden/ sich weiter erstrecke/ als die strengen
Regeln der Gerechtigkeit/ und endlich über dieses/
wie wir schon anderswo ausführlich erwiesen
haben/ bey der Gerechtigkeit man einen grossen
Unterscheid unter demjenigen machen muß/ was
das Recht der Natur/ und die bürgerlichen par-

ticu-
O 4
Liebe aller Menſchen
37.

Dieweil demnach der Endzweck aller
Verſprechungen dahin zielet/ daß ein Menſch
dadurch dem andern ſich vollkoͤmmlich zu ver-
pflichten trachtet/ der ihm ſonſt/ wie wir allbeteit
erwehnet/ aus der Tugend der Leutſeeligkeit un-
vollkommen/ und ohne zulaͤnglichen Zwang ver-
bunden waͤre/ auch die Natur des menſchlichen
Geſchlechts alſo beſchaffen iſt/ daß alle und jede
Menſchen ordentlich faͤhig ſeyn/ durch derglei-
chen Verſprechungen ſich mit einander zu verbin-
den; als iſt offenbahr/ daß die allgemeine Ruhe
und die Gleichheit der menſchlichen Natur
erfordere/ daß ein jeder das gethane Verſprechen
zu halten ſchuldig ſey.

38.

Gleichwie es ſich aber von ſich ſelbſt ver-
ſtehet/ daß man keine Treue und Glauben von
keinen Menſchen prætendiren koͤnne/ wenn kein
Verſprechen vorhergegangen; alſo iſt unſers
Thuns nicht/ alhier weitlaͤufftig zu unterſuchen/
was denn zu dem Weſen eines rechten Ver-
ſprechens eigentlich gehoͤre/ in dem dieſe Lehre
mehr zu der Rechts-Gelahrheit/ als zu der Sit-
ten-Lehre gehoͤret/ wir auch oben allbereit geſagt
haben/ daß die Liebe/ von der wir hauptſaͤchlich
hier reden/ ſich weiter erſtrecke/ als die ſtrengen
Regeln der Gerechtigkeit/ und endlich uͤber dieſes/
wie wir ſchon anderswo ausfuͤhrlich erwieſen
haben/ bey der Gerechtigkeit man einen groſſen
Unterſcheid unter demjenigen machen muß/ was
das Recht der Natur/ und die buͤrgerlichen par-

ticu-
O 4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0247" n="217[215]"/>
          <fw place="top" type="header">Liebe aller Men&#x017F;chen</fw><lb/>
          <div n="3">
            <head>37.</head>
            <p>Dieweil demnach der Endzweck aller<lb/>
Ver&#x017F;prechungen dahin zielet/ daß ein Men&#x017F;ch<lb/>
dadurch dem andern &#x017F;ich vollko&#x0364;mmlich zu ver-<lb/>
pflichten trachtet/ der ihm &#x017F;on&#x017F;t/ wie wir allbeteit<lb/>
erwehnet/ aus der Tugend der Leut&#x017F;eeligkeit un-<lb/>
vollkommen/ und ohne zula&#x0364;nglichen Zwang ver-<lb/>
bunden wa&#x0364;re/ auch die Natur des men&#x017F;chlichen<lb/>
Ge&#x017F;chlechts al&#x017F;o be&#x017F;chaffen i&#x017F;t/ daß alle und jede<lb/>
Men&#x017F;chen ordentlich fa&#x0364;hig &#x017F;eyn/ durch derglei-<lb/>
chen Ver&#x017F;prechungen &#x017F;ich mit einander zu verbin-<lb/>
den; als i&#x017F;t offenbahr/ daß die allgemeine Ruhe<lb/>
und <hi rendition="#fr">die Gleichheit der men&#x017F;chlichen Natur</hi><lb/>
erfordere/ daß ein jeder das gethane Ver&#x017F;prechen<lb/>
zu halten &#x017F;chuldig &#x017F;ey.</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head>38.</head>
            <p>Gleichwie es &#x017F;ich aber von &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t ver-<lb/>
&#x017F;tehet/ daß man keine Treue und Glauben von<lb/>
keinen Men&#x017F;chen <hi rendition="#aq">prætendir</hi>en ko&#x0364;nne/ wenn kein<lb/>
Ver&#x017F;prechen vorhergegangen; al&#x017F;o i&#x017F;t un&#x017F;ers<lb/>
Thuns nicht/ alhier weitla&#x0364;ufftig zu unter&#x017F;uchen/<lb/>
was denn zu dem We&#x017F;en eines rechten Ver-<lb/>
&#x017F;prechens eigentlich geho&#x0364;re/ in dem die&#x017F;e Lehre<lb/>
mehr zu der Rechts-Gelahrheit/ als zu der Sit-<lb/>
ten-Lehre geho&#x0364;ret/ wir auch oben allbereit ge&#x017F;agt<lb/>
haben/ daß die Liebe/ von der wir haupt&#x017F;a&#x0364;chlich<lb/>
hier reden/ &#x017F;ich weiter er&#x017F;trecke/ als die &#x017F;trengen<lb/>
Regeln der Gerechtigkeit/ und endlich u&#x0364;ber die&#x017F;es/<lb/>
wie wir &#x017F;chon anderswo ausfu&#x0364;hrlich erwie&#x017F;en<lb/>
haben/ bey der Gerechtigkeit man einen gro&#x017F;&#x017F;en<lb/>
Unter&#x017F;cheid unter demjenigen machen muß/ was<lb/>
das Recht der Natur/ und die bu&#x0364;rgerlichen <hi rendition="#aq">par-</hi><lb/>
<fw place="bottom" type="sig">O 4</fw><fw place="bottom" type="catch"><hi rendition="#aq">ticu-</hi></fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[217[215]/0247] Liebe aller Menſchen 37. Dieweil demnach der Endzweck aller Verſprechungen dahin zielet/ daß ein Menſch dadurch dem andern ſich vollkoͤmmlich zu ver- pflichten trachtet/ der ihm ſonſt/ wie wir allbeteit erwehnet/ aus der Tugend der Leutſeeligkeit un- vollkommen/ und ohne zulaͤnglichen Zwang ver- bunden waͤre/ auch die Natur des menſchlichen Geſchlechts alſo beſchaffen iſt/ daß alle und jede Menſchen ordentlich faͤhig ſeyn/ durch derglei- chen Verſprechungen ſich mit einander zu verbin- den; als iſt offenbahr/ daß die allgemeine Ruhe und die Gleichheit der menſchlichen Natur erfordere/ daß ein jeder das gethane Verſprechen zu halten ſchuldig ſey. 38. Gleichwie es ſich aber von ſich ſelbſt ver- ſtehet/ daß man keine Treue und Glauben von keinen Menſchen prætendiren koͤnne/ wenn kein Verſprechen vorhergegangen; alſo iſt unſers Thuns nicht/ alhier weitlaͤufftig zu unterſuchen/ was denn zu dem Weſen eines rechten Ver- ſprechens eigentlich gehoͤre/ in dem dieſe Lehre mehr zu der Rechts-Gelahrheit/ als zu der Sit- ten-Lehre gehoͤret/ wir auch oben allbereit geſagt haben/ daß die Liebe/ von der wir hauptſaͤchlich hier reden/ ſich weiter erſtrecke/ als die ſtrengen Regeln der Gerechtigkeit/ und endlich uͤber dieſes/ wie wir ſchon anderswo ausfuͤhrlich erwieſen haben/ bey der Gerechtigkeit man einen groſſen Unterſcheid unter demjenigen machen muß/ was das Recht der Natur/ und die buͤrgerlichen par- ticu- O 4

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/thomasius_einleitungsittenlehre_1692
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/thomasius_einleitungsittenlehre_1692/247
Zitationshilfe: Thomasius, Christian: Von der Kunst Vernünfftig und Tugendhafft zu lieben. Halle (Saale), 1692, S. 217[215]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/thomasius_einleitungsittenlehre_1692/247>, abgerufen am 21.11.2024.