Thomasius, Christian: Von der Kunst Vernünfftig und Tugendhafft zu lieben. Halle (Saale), 1692.Das 5. Hauptst. von der allgemeinen mein Freund. Hast du schon vergessen/ daß wirerwehnet/ die Gleichheit der menschlichen Natur in der sich die allgemeine Liebe gründet/ könne durch keine Ungleichheit auffgehoben werden. Hast du des gemeinen Sprichworts vergessen: der Laster Feind/ der Person Freund. Ein wei- ser Mann erzürnet sich nicht über die Jrrenden und Lasterhafften/ sondern er erbarmet sich vielmehr über sie und betauret sie/ weil er siehet/ daß sie sich das gröste Unglück auff den Halß laden. 20. Nun wollen wir die absonderliche Liebe 21. Die Leutseeligkeit ist eine Tugend/ die derer
Das 5. Hauptſt. von der allgemeinen mein Freund. Haſt du ſchon vergeſſen/ daß wirerwehnet/ die Gleichheit der menſchlichen Natur in der ſich die allgemeine Liebe gruͤndet/ koͤnne durch keine Ungleichheit auffgehoben werden. Haſt du des gemeinen Sprichworts vergeſſen: der Laſter Feind/ der Perſon Freund. Ein wei- ſer Mann erzuͤrnet ſich nicht uͤber die Jrrenden und Laſterhafften/ ſondern er erbarmet ſich vielmehr uͤber ſie und betauret ſie/ weil er ſiehet/ daß ſie ſich das groͤſte Ungluͤck auff den Halß laden. 20. Nun wollen wir die abſonderliche Liebe 21. Die Leutſeeligkeit iſt eine Tugend/ die derer
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Das 5. Hauptſt. von der allgemeinen
mein Freund. Haſt du ſchon vergeſſen/ daß wir
erwehnet/ die Gleichheit der menſchlichen Natur
in der ſich die allgemeine Liebe gruͤndet/ koͤnne
durch keine Ungleichheit auffgehoben werden.
Haſt du des gemeinen Sprichworts vergeſſen:
der Laſter Feind/ der Perſon Freund. Ein wei-
ſer Mann erzuͤrnet ſich nicht uͤber die Jrrenden
und Laſterhafften/ ſondern er erbarmet ſich
vielmehr uͤber ſie und betauret ſie/ weil er ſiehet/
daß ſie ſich das groͤſte Ungluͤck auff den Halß
laden.
20. Nun wollen wir die abſonderliche Liebe
biß zu ſeiner Zeit ein wenig ausſetzen/ und die all-
gemeine Liebe etwas genauer betrachten. Es
begreifft aber dieſelbe eigentlich fůnff andere
Tugenden unter ſich; die Leutſeeligkeit/
Wahrhafftigkeit/ Beſcheidenheit/ Ver-
traͤgligkeit/ Gedult. Alle fuͤnffe kommen da-
rinnen mit einander ůberein/ weil ſie ſich in
der allgemeinen menſchlichen Natur gruͤnden/
und man dieſelbigen gegen jederman erweiſen
muß/ gleich wie man dieſelbigen wider von jeder-
man gewaͤrtig iſt. So beſtehen auch dieſe Tu-
genden alle fuͤnffe mehr darinnen/ daß man an-
dern nichts zu leide thue oder etwas hartes er-
weiſe/ als in Bezeugung einer gutthaͤtigen Liebe.
21. Die Leutſeeligkeit iſt eine Tugend/ die
den Menſchen antreibet/ allen Menſchen
die deſſen von noͤthen haben/ mit allen de-
nen Dingen/ die er nicht hoch æſtimiret/ oder
derer
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Zitationshilfe: | Thomasius, Christian: Von der Kunst Vernünfftig und Tugendhafft zu lieben. Halle (Saale), 1692, S. 208[206]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/thomasius_einleitungsittenlehre_1692/238>, abgerufen am 04.03.2025. |