Fast alle Gedächtnißsachen erfodern, daß schon in der Kindheit mit ihnen angefangen werde, oder daß doch ähnliche alsdenn erlernet sind, wovon der Uebergang zu den neuen, der Aehnlichkeit wegen, leichter ist, wenn nämlich eine sich auszeichnende Fertigkeit darinn errei- chet werden soll. Jst jemand über das dreyßigste Jahr, so gehört schon mehr als gemeine Geschmeidigkeit des Verstandes dazu, neue Wissenschaften mit Fortgang zu studiren, wozu nicht in den vorhererworbenen Kennt- nissen die Samen schon enthalten sind. Hr. Tissot hat ein warnendes Beyspiel angeführt, wie sehr ein Mensch der Natur Gewalt anthun müssen, der in seinem vierzig- sten Jahr anfing sich auf Philosophie und Mathematik zu legen. Wir sammlen zwar von selbst, so lange wir leben, immer neue Empfindungen auf, und machen immer neue Reihen und Faden von Gedanken in uns: aber es fallen auch viele von den vorher empfangenen wieder aus, oder werden doch verdunkelt und unerweck- bar, daß, wenn allein auf die erweckbaren Jdeenrei- hen gesehen wird, an deren Bearbeitung die Vorstel- lungskraft sich üben kann, solche weder an Menge, noch an Stärke, noch an Länge, um ein merkliches mehr zu- nehmen, wenn die Entwickelung einmal ihre höchste Stufe erhalten hat.
5.
Die Ursachen, welche die Perfektibilität der See- lenvermögen innerlich und natürlich begrenzen, können auf diese zwey, auf den Mangel an Gelegenheiten die Kräfte zu einer höhern Anstrengung zu bringen, und auf den Nichtgebrauch derselben, gebracht werden. Alle übrige Zufälle bey Seite gesetzt, so müssen diese allein nothwendig die Perfektibilität des Menschen ein- schränken. Jndessen ist doch die Perfektibilität des Menschen nicht die Perfektibilität der Seele, des
unkörper-
IITheil. Z z
und Entwickelung des Menſchen.
Faſt alle Gedaͤchtnißſachen erfodern, daß ſchon in der Kindheit mit ihnen angefangen werde, oder daß doch aͤhnliche alsdenn erlernet ſind, wovon der Uebergang zu den neuen, der Aehnlichkeit wegen, leichter iſt, wenn naͤmlich eine ſich auszeichnende Fertigkeit darinn errei- chet werden ſoll. Jſt jemand uͤber das dreyßigſte Jahr, ſo gehoͤrt ſchon mehr als gemeine Geſchmeidigkeit des Verſtandes dazu, neue Wiſſenſchaften mit Fortgang zu ſtudiren, wozu nicht in den vorhererworbenen Kennt- niſſen die Samen ſchon enthalten ſind. Hr. Tiſſot hat ein warnendes Beyſpiel angefuͤhrt, wie ſehr ein Menſch der Natur Gewalt anthun muͤſſen, der in ſeinem vierzig- ſten Jahr anfing ſich auf Philoſophie und Mathematik zu legen. Wir ſammlen zwar von ſelbſt, ſo lange wir leben, immer neue Empfindungen auf, und machen immer neue Reihen und Faden von Gedanken in uns: aber es fallen auch viele von den vorher empfangenen wieder aus, oder werden doch verdunkelt und unerweck- bar, daß, wenn allein auf die erweckbaren Jdeenrei- hen geſehen wird, an deren Bearbeitung die Vorſtel- lungskraft ſich uͤben kann, ſolche weder an Menge, noch an Staͤrke, noch an Laͤnge, um ein merkliches mehr zu- nehmen, wenn die Entwickelung einmal ihre hoͤchſte Stufe erhalten hat.
5.
Die Urſachen, welche die Perfektibilitaͤt der See- lenvermoͤgen innerlich und natuͤrlich begrenzen, koͤnnen auf dieſe zwey, auf den Mangel an Gelegenheiten die Kraͤfte zu einer hoͤhern Anſtrengung zu bringen, und auf den Nichtgebrauch derſelben, gebracht werden. Alle uͤbrige Zufaͤlle bey Seite geſetzt, ſo muͤſſen dieſe allein nothwendig die Perfektibilitaͤt des Menſchen ein- ſchraͤnken. Jndeſſen iſt doch die Perfektibilitaͤt des Menſchen nicht die Perfektibilitaͤt der Seele, des
unkoͤrper-
IITheil. Z z
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0751"n="721"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b">und Entwickelung des Menſchen.</hi></fw><lb/>
Faſt alle Gedaͤchtnißſachen erfodern, daß ſchon in der<lb/>
Kindheit mit ihnen angefangen werde, oder daß doch<lb/>
aͤhnliche alsdenn erlernet ſind, wovon der Uebergang zu<lb/>
den neuen, der Aehnlichkeit wegen, leichter iſt, wenn<lb/>
naͤmlich eine ſich auszeichnende Fertigkeit darinn errei-<lb/>
chet werden ſoll. Jſt jemand uͤber das dreyßigſte Jahr,<lb/>ſo gehoͤrt ſchon mehr als gemeine Geſchmeidigkeit des<lb/>
Verſtandes dazu, neue Wiſſenſchaften mit Fortgang<lb/>
zu ſtudiren, wozu nicht in den vorhererworbenen Kennt-<lb/>
niſſen die Samen ſchon enthalten ſind. Hr. <hirendition="#fr">Tiſſot</hi> hat<lb/>
ein warnendes Beyſpiel angefuͤhrt, wie ſehr ein Menſch<lb/>
der Natur Gewalt anthun muͤſſen, der in ſeinem vierzig-<lb/>ſten Jahr anfing ſich auf Philoſophie und Mathematik<lb/>
zu legen. Wir ſammlen zwar von ſelbſt, ſo lange wir<lb/>
leben, immer neue Empfindungen auf, und machen<lb/>
immer neue Reihen und Faden von Gedanken in uns:<lb/>
aber es fallen auch viele von den vorher empfangenen<lb/>
wieder aus, oder werden doch verdunkelt und unerweck-<lb/>
bar, daß, wenn allein auf die <hirendition="#fr">erweckbaren</hi> Jdeenrei-<lb/>
hen geſehen wird, an deren Bearbeitung die Vorſtel-<lb/>
lungskraft ſich uͤben kann, ſolche weder an Menge, noch<lb/>
an Staͤrke, noch an Laͤnge, um ein merkliches mehr zu-<lb/>
nehmen, wenn die Entwickelung einmal ihre hoͤchſte<lb/>
Stufe erhalten hat.</p></div><lb/><divn="4"><head>5.</head><lb/><p>Die Urſachen, welche die Perfektibilitaͤt der See-<lb/>
lenvermoͤgen innerlich und natuͤrlich begrenzen, koͤnnen<lb/>
auf dieſe zwey, auf <hirendition="#fr">den Mangel an Gelegenheiten</hi><lb/>
die Kraͤfte zu einer hoͤhern Anſtrengung zu bringen, und<lb/>
auf <hirendition="#fr">den Nichtgebrauch derſelben,</hi> gebracht werden.<lb/>
Alle uͤbrige Zufaͤlle bey Seite geſetzt, ſo muͤſſen dieſe<lb/>
allein nothwendig die Perfektibilitaͤt des Menſchen ein-<lb/>ſchraͤnken. Jndeſſen iſt doch die Perfektibilitaͤt <hirendition="#fr">des<lb/>
Menſchen</hi> nicht die Perfektibilitaͤt <hirendition="#fr">der Seele,</hi> des<lb/><fwplace="bottom"type="sig"><hirendition="#aq">II</hi><hirendition="#fr">Theil.</hi> Z z</fw><fwplace="bottom"type="catch">unkoͤrper-</fw><lb/></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[721/0751]
und Entwickelung des Menſchen.
Faſt alle Gedaͤchtnißſachen erfodern, daß ſchon in der
Kindheit mit ihnen angefangen werde, oder daß doch
aͤhnliche alsdenn erlernet ſind, wovon der Uebergang zu
den neuen, der Aehnlichkeit wegen, leichter iſt, wenn
naͤmlich eine ſich auszeichnende Fertigkeit darinn errei-
chet werden ſoll. Jſt jemand uͤber das dreyßigſte Jahr,
ſo gehoͤrt ſchon mehr als gemeine Geſchmeidigkeit des
Verſtandes dazu, neue Wiſſenſchaften mit Fortgang
zu ſtudiren, wozu nicht in den vorhererworbenen Kennt-
niſſen die Samen ſchon enthalten ſind. Hr. Tiſſot hat
ein warnendes Beyſpiel angefuͤhrt, wie ſehr ein Menſch
der Natur Gewalt anthun muͤſſen, der in ſeinem vierzig-
ſten Jahr anfing ſich auf Philoſophie und Mathematik
zu legen. Wir ſammlen zwar von ſelbſt, ſo lange wir
leben, immer neue Empfindungen auf, und machen
immer neue Reihen und Faden von Gedanken in uns:
aber es fallen auch viele von den vorher empfangenen
wieder aus, oder werden doch verdunkelt und unerweck-
bar, daß, wenn allein auf die erweckbaren Jdeenrei-
hen geſehen wird, an deren Bearbeitung die Vorſtel-
lungskraft ſich uͤben kann, ſolche weder an Menge, noch
an Staͤrke, noch an Laͤnge, um ein merkliches mehr zu-
nehmen, wenn die Entwickelung einmal ihre hoͤchſte
Stufe erhalten hat.
5.
Die Urſachen, welche die Perfektibilitaͤt der See-
lenvermoͤgen innerlich und natuͤrlich begrenzen, koͤnnen
auf dieſe zwey, auf den Mangel an Gelegenheiten
die Kraͤfte zu einer hoͤhern Anſtrengung zu bringen, und
auf den Nichtgebrauch derſelben, gebracht werden.
Alle uͤbrige Zufaͤlle bey Seite geſetzt, ſo muͤſſen dieſe
allein nothwendig die Perfektibilitaͤt des Menſchen ein-
ſchraͤnken. Jndeſſen iſt doch die Perfektibilitaͤt des
Menſchen nicht die Perfektibilitaͤt der Seele, des
unkoͤrper-
II Theil. Z z
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 721. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/751>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.