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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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und Entwickelung des Menschen.
Fast alle Gedächtnißsachen erfodern, daß schon in der
Kindheit mit ihnen angefangen werde, oder daß doch
ähnliche alsdenn erlernet sind, wovon der Uebergang zu
den neuen, der Aehnlichkeit wegen, leichter ist, wenn
nämlich eine sich auszeichnende Fertigkeit darinn errei-
chet werden soll. Jst jemand über das dreyßigste Jahr,
so gehört schon mehr als gemeine Geschmeidigkeit des
Verstandes dazu, neue Wissenschaften mit Fortgang
zu studiren, wozu nicht in den vorhererworbenen Kennt-
nissen die Samen schon enthalten sind. Hr. Tissot hat
ein warnendes Beyspiel angeführt, wie sehr ein Mensch
der Natur Gewalt anthun müssen, der in seinem vierzig-
sten Jahr anfing sich auf Philosophie und Mathematik
zu legen. Wir sammlen zwar von selbst, so lange wir
leben, immer neue Empfindungen auf, und machen
immer neue Reihen und Faden von Gedanken in uns:
aber es fallen auch viele von den vorher empfangenen
wieder aus, oder werden doch verdunkelt und unerweck-
bar, daß, wenn allein auf die erweckbaren Jdeenrei-
hen gesehen wird, an deren Bearbeitung die Vorstel-
lungskraft sich üben kann, solche weder an Menge, noch
an Stärke, noch an Länge, um ein merkliches mehr zu-
nehmen, wenn die Entwickelung einmal ihre höchste
Stufe erhalten hat.

5.

Die Ursachen, welche die Perfektibilität der See-
lenvermögen innerlich und natürlich begrenzen, können
auf diese zwey, auf den Mangel an Gelegenheiten
die Kräfte zu einer höhern Anstrengung zu bringen, und
auf den Nichtgebrauch derselben, gebracht werden.
Alle übrige Zufälle bey Seite gesetzt, so müssen diese
allein nothwendig die Perfektibilität des Menschen ein-
schränken. Jndessen ist doch die Perfektibilität des
Menschen
nicht die Perfektibilität der Seele, des

unkörper-
II Theil. Z z

und Entwickelung des Menſchen.
Faſt alle Gedaͤchtnißſachen erfodern, daß ſchon in der
Kindheit mit ihnen angefangen werde, oder daß doch
aͤhnliche alsdenn erlernet ſind, wovon der Uebergang zu
den neuen, der Aehnlichkeit wegen, leichter iſt, wenn
naͤmlich eine ſich auszeichnende Fertigkeit darinn errei-
chet werden ſoll. Jſt jemand uͤber das dreyßigſte Jahr,
ſo gehoͤrt ſchon mehr als gemeine Geſchmeidigkeit des
Verſtandes dazu, neue Wiſſenſchaften mit Fortgang
zu ſtudiren, wozu nicht in den vorhererworbenen Kennt-
niſſen die Samen ſchon enthalten ſind. Hr. Tiſſot hat
ein warnendes Beyſpiel angefuͤhrt, wie ſehr ein Menſch
der Natur Gewalt anthun muͤſſen, der in ſeinem vierzig-
ſten Jahr anfing ſich auf Philoſophie und Mathematik
zu legen. Wir ſammlen zwar von ſelbſt, ſo lange wir
leben, immer neue Empfindungen auf, und machen
immer neue Reihen und Faden von Gedanken in uns:
aber es fallen auch viele von den vorher empfangenen
wieder aus, oder werden doch verdunkelt und unerweck-
bar, daß, wenn allein auf die erweckbaren Jdeenrei-
hen geſehen wird, an deren Bearbeitung die Vorſtel-
lungskraft ſich uͤben kann, ſolche weder an Menge, noch
an Staͤrke, noch an Laͤnge, um ein merkliches mehr zu-
nehmen, wenn die Entwickelung einmal ihre hoͤchſte
Stufe erhalten hat.

5.

Die Urſachen, welche die Perfektibilitaͤt der See-
lenvermoͤgen innerlich und natuͤrlich begrenzen, koͤnnen
auf dieſe zwey, auf den Mangel an Gelegenheiten
die Kraͤfte zu einer hoͤhern Anſtrengung zu bringen, und
auf den Nichtgebrauch derſelben, gebracht werden.
Alle uͤbrige Zufaͤlle bey Seite geſetzt, ſo muͤſſen dieſe
allein nothwendig die Perfektibilitaͤt des Menſchen ein-
ſchraͤnken. Jndeſſen iſt doch die Perfektibilitaͤt des
Menſchen
nicht die Perfektibilitaͤt der Seele, des

unkoͤrper-
II Theil. Z z
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[721/0751] und Entwickelung des Menſchen. Faſt alle Gedaͤchtnißſachen erfodern, daß ſchon in der Kindheit mit ihnen angefangen werde, oder daß doch aͤhnliche alsdenn erlernet ſind, wovon der Uebergang zu den neuen, der Aehnlichkeit wegen, leichter iſt, wenn naͤmlich eine ſich auszeichnende Fertigkeit darinn errei- chet werden ſoll. Jſt jemand uͤber das dreyßigſte Jahr, ſo gehoͤrt ſchon mehr als gemeine Geſchmeidigkeit des Verſtandes dazu, neue Wiſſenſchaften mit Fortgang zu ſtudiren, wozu nicht in den vorhererworbenen Kennt- niſſen die Samen ſchon enthalten ſind. Hr. Tiſſot hat ein warnendes Beyſpiel angefuͤhrt, wie ſehr ein Menſch der Natur Gewalt anthun muͤſſen, der in ſeinem vierzig- ſten Jahr anfing ſich auf Philoſophie und Mathematik zu legen. Wir ſammlen zwar von ſelbſt, ſo lange wir leben, immer neue Empfindungen auf, und machen immer neue Reihen und Faden von Gedanken in uns: aber es fallen auch viele von den vorher empfangenen wieder aus, oder werden doch verdunkelt und unerweck- bar, daß, wenn allein auf die erweckbaren Jdeenrei- hen geſehen wird, an deren Bearbeitung die Vorſtel- lungskraft ſich uͤben kann, ſolche weder an Menge, noch an Staͤrke, noch an Laͤnge, um ein merkliches mehr zu- nehmen, wenn die Entwickelung einmal ihre hoͤchſte Stufe erhalten hat. 5. Die Urſachen, welche die Perfektibilitaͤt der See- lenvermoͤgen innerlich und natuͤrlich begrenzen, koͤnnen auf dieſe zwey, auf den Mangel an Gelegenheiten die Kraͤfte zu einer hoͤhern Anſtrengung zu bringen, und auf den Nichtgebrauch derſelben, gebracht werden. Alle uͤbrige Zufaͤlle bey Seite geſetzt, ſo muͤſſen dieſe allein nothwendig die Perfektibilitaͤt des Menſchen ein- ſchraͤnken. Jndeſſen iſt doch die Perfektibilitaͤt des Menſchen nicht die Perfektibilitaͤt der Seele, des unkoͤrper- II Theil. Z z

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 721. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/751>, abgerufen am 21.11.2024.