Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

XIII. Versuch. Ueber das Seelenwesen
nur eine begleitende Wirkung einer andern körperlichen
Ursache sey, welche die Phantasie zu gleicher Zeit in
Bewegung gesetzet, da sie der Körper zur Ausleerung
reizte. Aber bey der letztern Beobachtung fällt dieser
Zweifel weg. Denn es ist über die Maße unwahr-
fcheinlich, daß der durch übersilberte Brodkörner zum
Purgiren gebrachte Kranke, ohne den Gebrauch dieses
Scheinmittels, durch andere Naturkräfte eben zu der Zeit
und auf solche Art von der Verstopfung befreyet worden
wäre.

Diese und unzählig andere Beobachtungen lehren offen-
bar, daß gewisse Veränderungsreihen, die sonsten nur
mechanisch erfolgen, und nur in dem organisirten Kör-
per ihre Verbindung haben, so daß die Seele sich selbst
nur für eine Zuschauerin bey ihnen zu halten pfleget,
dennoch in einer Kommunikation unter einander stehen,
die von der Seele abhängt. Denn es zeiget sich ja,
daß, wenn nur eine Vorstellung in der Seele hervorge-
bracht werden kann, welche der Empfindung an Lebhaf-
tigkeit und Stärke nahe kommt, so möge der körperli-
che Eindruck von außen und dessen physische Folgen, so
weit sie den hineingehenden Theil der ganzen Reihe und
die Ursache der wiederherausgehenden Bewegungen aus-
machen, fehlen, dennoch aus der Seele her die heraus-
gehenden Bewegungen in den Nerven und Muskeln
bewirket werden können. Dieß lehret auch nebenher,
was Stahl vielleicht nur zu weit getrieben hatte, daß
ein großer Theil unserer körperlichen Veränderungen,
die wir für bloß mechanische oder organische anzusehen
pflegen, in der That thierische Veränderungen sind.

3.

Diese Beobachtungen geben zwar dem allgemeinen
Begriffe von der thierischen Natur, nach welchem sie aus
einer Vereinigung zwoer ungleichartiger Kräfte, näm-

lich

XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
nur eine begleitende Wirkung einer andern koͤrperlichen
Urſache ſey, welche die Phantaſie zu gleicher Zeit in
Bewegung geſetzet, da ſie der Koͤrper zur Ausleerung
reizte. Aber bey der letztern Beobachtung faͤllt dieſer
Zweifel weg. Denn es iſt uͤber die Maße unwahr-
fcheinlich, daß der durch uͤberſilberte Brodkoͤrner zum
Purgiren gebrachte Kranke, ohne den Gebrauch dieſes
Scheinmittels, durch andere Naturkraͤfte eben zu der Zeit
und auf ſolche Art von der Verſtopfung befreyet worden
waͤre.

Dieſe und unzaͤhlig andere Beobachtungen lehren offen-
bar, daß gewiſſe Veraͤnderungsreihen, die ſonſten nur
mechaniſch erfolgen, und nur in dem organiſirten Koͤr-
per ihre Verbindung haben, ſo daß die Seele ſich ſelbſt
nur fuͤr eine Zuſchauerin bey ihnen zu halten pfleget,
dennoch in einer Kommunikation unter einander ſtehen,
die von der Seele abhaͤngt. Denn es zeiget ſich ja,
daß, wenn nur eine Vorſtellung in der Seele hervorge-
bracht werden kann, welche der Empfindung an Lebhaf-
tigkeit und Staͤrke nahe kommt, ſo moͤge der koͤrperli-
che Eindruck von außen und deſſen phyſiſche Folgen, ſo
weit ſie den hineingehenden Theil der ganzen Reihe und
die Urſache der wiederherausgehenden Bewegungen aus-
machen, fehlen, dennoch aus der Seele her die heraus-
gehenden Bewegungen in den Nerven und Muskeln
bewirket werden koͤnnen. Dieß lehret auch nebenher,
was Stahl vielleicht nur zu weit getrieben hatte, daß
ein großer Theil unſerer koͤrperlichen Veraͤnderungen,
die wir fuͤr bloß mechaniſche oder organiſche anzuſehen
pflegen, in der That thieriſche Veraͤnderungen ſind.

3.

Dieſe Beobachtungen geben zwar dem allgemeinen
Begriffe von der thieriſchen Natur, nach welchem ſie aus
einer Vereinigung zwoer ungleichartiger Kraͤfte, naͤm-

lich
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0342" n="312"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">XIII.</hi> Ver&#x017F;uch. Ueber das Seelenwe&#x017F;en</hi></fw><lb/>
nur eine begleitende Wirkung einer andern ko&#x0364;rperlichen<lb/>
Ur&#x017F;ache &#x017F;ey, welche die Phanta&#x017F;ie zu gleicher Zeit in<lb/>
Bewegung ge&#x017F;etzet, da &#x017F;ie der Ko&#x0364;rper zur Ausleerung<lb/>
reizte. Aber bey der letztern Beobachtung fa&#x0364;llt die&#x017F;er<lb/>
Zweifel weg. Denn es i&#x017F;t u&#x0364;ber die Maße unwahr-<lb/>
fcheinlich, daß der durch u&#x0364;ber&#x017F;ilberte Brodko&#x0364;rner zum<lb/>
Purgiren gebrachte Kranke, ohne den Gebrauch die&#x017F;es<lb/>
Scheinmittels, durch andere Naturkra&#x0364;fte eben zu der Zeit<lb/>
und auf &#x017F;olche Art von der Ver&#x017F;topfung befreyet worden<lb/>
wa&#x0364;re.</p><lb/>
              <p>Die&#x017F;e und unza&#x0364;hlig andere Beobachtungen lehren offen-<lb/>
bar, daß gewi&#x017F;&#x017F;e Vera&#x0364;nderungsreihen, die &#x017F;on&#x017F;ten nur<lb/>
mechani&#x017F;ch erfolgen, und nur in dem organi&#x017F;irten Ko&#x0364;r-<lb/>
per ihre Verbindung haben, &#x017F;o daß die Seele &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
nur fu&#x0364;r eine Zu&#x017F;chauerin bey ihnen zu halten pfleget,<lb/>
dennoch in einer Kommunikation unter einander &#x017F;tehen,<lb/>
die von der Seele abha&#x0364;ngt. Denn es zeiget &#x017F;ich ja,<lb/>
daß, wenn nur eine Vor&#x017F;tellung in der Seele hervorge-<lb/>
bracht werden kann, welche der Empfindung an Lebhaf-<lb/>
tigkeit und Sta&#x0364;rke nahe kommt, &#x017F;o mo&#x0364;ge der ko&#x0364;rperli-<lb/>
che Eindruck von außen und de&#x017F;&#x017F;en phy&#x017F;i&#x017F;che Folgen, &#x017F;o<lb/>
weit &#x017F;ie den hineingehenden Theil der ganzen Reihe und<lb/>
die Ur&#x017F;ache der wiederherausgehenden Bewegungen aus-<lb/>
machen, fehlen, dennoch aus der Seele her die heraus-<lb/>
gehenden Bewegungen in den Nerven und Muskeln<lb/>
bewirket werden ko&#x0364;nnen. Dieß lehret auch nebenher,<lb/>
was <hi rendition="#fr">Stahl</hi> vielleicht nur zu weit getrieben hatte, daß<lb/>
ein großer Theil un&#x017F;erer ko&#x0364;rperlichen Vera&#x0364;nderungen,<lb/>
die wir fu&#x0364;r bloß mechani&#x017F;che oder organi&#x017F;che anzu&#x017F;ehen<lb/>
pflegen, in der That <hi rendition="#fr">thieri&#x017F;che</hi> Vera&#x0364;nderungen &#x017F;ind.</p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head>3.</head><lb/>
              <p>Die&#x017F;e Beobachtungen geben zwar dem allgemeinen<lb/>
Begriffe von der thieri&#x017F;chen Natur, nach welchem &#x017F;ie aus<lb/>
einer Vereinigung zwoer ungleichartiger Kra&#x0364;fte, na&#x0364;m-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">lich</fw><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[312/0342] XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen nur eine begleitende Wirkung einer andern koͤrperlichen Urſache ſey, welche die Phantaſie zu gleicher Zeit in Bewegung geſetzet, da ſie der Koͤrper zur Ausleerung reizte. Aber bey der letztern Beobachtung faͤllt dieſer Zweifel weg. Denn es iſt uͤber die Maße unwahr- fcheinlich, daß der durch uͤberſilberte Brodkoͤrner zum Purgiren gebrachte Kranke, ohne den Gebrauch dieſes Scheinmittels, durch andere Naturkraͤfte eben zu der Zeit und auf ſolche Art von der Verſtopfung befreyet worden waͤre. Dieſe und unzaͤhlig andere Beobachtungen lehren offen- bar, daß gewiſſe Veraͤnderungsreihen, die ſonſten nur mechaniſch erfolgen, und nur in dem organiſirten Koͤr- per ihre Verbindung haben, ſo daß die Seele ſich ſelbſt nur fuͤr eine Zuſchauerin bey ihnen zu halten pfleget, dennoch in einer Kommunikation unter einander ſtehen, die von der Seele abhaͤngt. Denn es zeiget ſich ja, daß, wenn nur eine Vorſtellung in der Seele hervorge- bracht werden kann, welche der Empfindung an Lebhaf- tigkeit und Staͤrke nahe kommt, ſo moͤge der koͤrperli- che Eindruck von außen und deſſen phyſiſche Folgen, ſo weit ſie den hineingehenden Theil der ganzen Reihe und die Urſache der wiederherausgehenden Bewegungen aus- machen, fehlen, dennoch aus der Seele her die heraus- gehenden Bewegungen in den Nerven und Muskeln bewirket werden koͤnnen. Dieß lehret auch nebenher, was Stahl vielleicht nur zu weit getrieben hatte, daß ein großer Theil unſerer koͤrperlichen Veraͤnderungen, die wir fuͤr bloß mechaniſche oder organiſche anzuſehen pflegen, in der That thieriſche Veraͤnderungen ſind. 3. Dieſe Beobachtungen geben zwar dem allgemeinen Begriffe von der thieriſchen Natur, nach welchem ſie aus einer Vereinigung zwoer ungleichartiger Kraͤfte, naͤm- lich

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/342
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 312. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/342>, abgerufen am 21.12.2024.