Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

XII. Versuch. Ueber die Selbstthätigkeit
nen wir freylich der Affektion des Gemüths, und der
ersten Bewegung, und den Regungen des Verlangens
und der Begierde nicht widerstehen. Aber wenn nun
die bewegenden Vorstellungen in uns ohne thätiges Zu-
thun unwillkührlich gegenwärtig bleiben, sich erneuern,
und nach und nach der Seele durch ihre wiederholten
Reizungen das Wollen und Vollbringen abnöthigen, so
folget doch nicht, daß wir nicht ein volles Vermögen
gehabt haben könnten, uns anders zu bestimmen, wie
uns das Gefühl lehret, daß wir es wirklich gehabt haben.
Die Gegenwart der bewegenden Vorstellung oder Em-
pfindung, welche in diesem Fall als die Ursache anzuse-
hen ist, kann in unserer Gewalt gewesen seyn, und noch
seyn; wenn wir andere Vorstellungen durch eine Wir-
kung aufs Gehirn hervorrufen können, wodurch jene un-
terdrücket werden; und wenn nichts mehr daran fehlet,
daß es wirklich geschehe, und die bewegende Vorstellung
unterdrücket werde, als nur das Gefallen an dieser neuen
Art der Thätigkeit und des Bestrebens. Wir können
kämpfen gegen die Leidenschaften und siegen.

7.

Das Vermögen zu wollen ist nur der Anfang
von dem Vermögen zu vollbringen. Von jenem
können wir unmittelbar und zunächst aus dem Gefühl
unsers gegenwärtigen Zustandes überzeuget werden, daß
wir es besitzen. Wir haben eine Jdee vom Wollen,
vom Selbstbestimmen, von Kraft und Vermögen
welche aus unsern innern Empfindungen entstanden ist,
wie die Jdee von der rothen Farbe aus unsern Jmpres-
sionen von außen. Und auf dieselbige Art, wie ich jetzo
gewahrnehme, indem ich die weiße Wand ansehe, daß
unter meinen gegenwärtigen Jmpressionen so eine sich
befindet, die ich dadurch bezeichne, daß ich sie das Ge-
fühl der weißen Farbe nenne, so kann ich auch aus der

Ver-

XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
nen wir freylich der Affektion des Gemuͤths, und der
erſten Bewegung, und den Regungen des Verlangens
und der Begierde nicht widerſtehen. Aber wenn nun
die bewegenden Vorſtellungen in uns ohne thaͤtiges Zu-
thun unwillkuͤhrlich gegenwaͤrtig bleiben, ſich erneuern,
und nach und nach der Seele durch ihre wiederholten
Reizungen das Wollen und Vollbringen abnoͤthigen, ſo
folget doch nicht, daß wir nicht ein volles Vermoͤgen
gehabt haben koͤnnten, uns anders zu beſtimmen, wie
uns das Gefuͤhl lehret, daß wir es wirklich gehabt haben.
Die Gegenwart der bewegenden Vorſtellung oder Em-
pfindung, welche in dieſem Fall als die Urſache anzuſe-
hen iſt, kann in unſerer Gewalt geweſen ſeyn, und noch
ſeyn; wenn wir andere Vorſtellungen durch eine Wir-
kung aufs Gehirn hervorrufen koͤnnen, wodurch jene un-
terdruͤcket werden; und wenn nichts mehr daran fehlet,
daß es wirklich geſchehe, und die bewegende Vorſtellung
unterdruͤcket werde, als nur das Gefallen an dieſer neuen
Art der Thaͤtigkeit und des Beſtrebens. Wir koͤnnen
kaͤmpfen gegen die Leidenſchaften und ſiegen.

7.

Das Vermoͤgen zu wollen iſt nur der Anfang
von dem Vermoͤgen zu vollbringen. Von jenem
koͤnnen wir unmittelbar und zunaͤchſt aus dem Gefuͤhl
unſers gegenwaͤrtigen Zuſtandes uͤberzeuget werden, daß
wir es beſitzen. Wir haben eine Jdee vom Wollen,
vom Selbſtbeſtimmen, von Kraft und Vermoͤgen
welche aus unſern innern Empfindungen entſtanden iſt,
wie die Jdee von der rothen Farbe aus unſern Jmpreſ-
ſionen von außen. Und auf dieſelbige Art, wie ich jetzo
gewahrnehme, indem ich die weiße Wand anſehe, daß
unter meinen gegenwaͤrtigen Jmpreſſionen ſo eine ſich
befindet, die ich dadurch bezeichne, daß ich ſie das Ge-
fuͤhl der weißen Farbe nenne, ſo kann ich auch aus der

Ver-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0144" n="114"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">XII.</hi> Ver&#x017F;uch. Ueber die Selb&#x017F;ttha&#x0364;tigkeit</hi></fw><lb/>
nen wir freylich der Affektion des Gemu&#x0364;ths, und der<lb/>
er&#x017F;ten Bewegung, und den Regungen des Verlangens<lb/>
und der Begierde nicht wider&#x017F;tehen. Aber wenn nun<lb/>
die bewegenden Vor&#x017F;tellungen in uns ohne tha&#x0364;tiges Zu-<lb/>
thun unwillku&#x0364;hrlich gegenwa&#x0364;rtig bleiben, &#x017F;ich erneuern,<lb/>
und nach und nach der Seele durch ihre wiederholten<lb/>
Reizungen das Wollen und Vollbringen abno&#x0364;thigen, &#x017F;o<lb/>
folget doch nicht, daß wir nicht ein volles Vermo&#x0364;gen<lb/>
gehabt haben ko&#x0364;nnten, uns anders zu be&#x017F;timmen, wie<lb/>
uns das Gefu&#x0364;hl lehret, daß wir es wirklich gehabt haben.<lb/>
Die Gegenwart der bewegenden Vor&#x017F;tellung oder Em-<lb/>
pfindung, welche in die&#x017F;em Fall als die Ur&#x017F;ache anzu&#x017F;e-<lb/>
hen i&#x017F;t, kann in un&#x017F;erer Gewalt gewe&#x017F;en &#x017F;eyn, und noch<lb/>
&#x017F;eyn; wenn wir andere Vor&#x017F;tellungen durch eine Wir-<lb/>
kung aufs Gehirn hervorrufen ko&#x0364;nnen, wodurch jene un-<lb/>
terdru&#x0364;cket werden; und wenn nichts mehr daran fehlet,<lb/>
daß es wirklich ge&#x017F;chehe, und die bewegende Vor&#x017F;tellung<lb/>
unterdru&#x0364;cket werde, als nur das Gefallen an die&#x017F;er neuen<lb/>
Art der Tha&#x0364;tigkeit und des Be&#x017F;trebens. Wir ko&#x0364;nnen<lb/>
ka&#x0364;mpfen gegen die Leiden&#x017F;chaften und &#x017F;iegen.</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head>7.</head><lb/>
            <p>Das Vermo&#x0364;gen zu <hi rendition="#fr">wollen</hi> i&#x017F;t nur der Anfang<lb/>
von dem Vermo&#x0364;gen zu <hi rendition="#fr">vollbringen.</hi> Von jenem<lb/>
ko&#x0364;nnen wir unmittelbar und zuna&#x0364;ch&#x017F;t aus dem Gefu&#x0364;hl<lb/>
un&#x017F;ers gegenwa&#x0364;rtigen Zu&#x017F;tandes u&#x0364;berzeuget werden, daß<lb/>
wir es be&#x017F;itzen. Wir haben eine Jdee vom <hi rendition="#fr">Wollen,</hi><lb/>
vom Selb&#x017F;tbe&#x017F;timmen, von Kraft und Vermo&#x0364;gen<lb/>
welche aus un&#x017F;ern innern Empfindungen ent&#x017F;tanden i&#x017F;t,<lb/>
wie die Jdee von der rothen Farbe aus un&#x017F;ern Jmpre&#x017F;-<lb/>
&#x017F;ionen von außen. Und auf die&#x017F;elbige Art, wie ich jetzo<lb/>
gewahrnehme, indem ich die weiße Wand an&#x017F;ehe, daß<lb/>
unter meinen gegenwa&#x0364;rtigen Jmpre&#x017F;&#x017F;ionen &#x017F;o eine &#x017F;ich<lb/>
befindet, die ich dadurch bezeichne, daß ich &#x017F;ie das Ge-<lb/>
fu&#x0364;hl der weißen Farbe nenne, &#x017F;o kann ich auch aus der<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Ver-</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[114/0144] XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit nen wir freylich der Affektion des Gemuͤths, und der erſten Bewegung, und den Regungen des Verlangens und der Begierde nicht widerſtehen. Aber wenn nun die bewegenden Vorſtellungen in uns ohne thaͤtiges Zu- thun unwillkuͤhrlich gegenwaͤrtig bleiben, ſich erneuern, und nach und nach der Seele durch ihre wiederholten Reizungen das Wollen und Vollbringen abnoͤthigen, ſo folget doch nicht, daß wir nicht ein volles Vermoͤgen gehabt haben koͤnnten, uns anders zu beſtimmen, wie uns das Gefuͤhl lehret, daß wir es wirklich gehabt haben. Die Gegenwart der bewegenden Vorſtellung oder Em- pfindung, welche in dieſem Fall als die Urſache anzuſe- hen iſt, kann in unſerer Gewalt geweſen ſeyn, und noch ſeyn; wenn wir andere Vorſtellungen durch eine Wir- kung aufs Gehirn hervorrufen koͤnnen, wodurch jene un- terdruͤcket werden; und wenn nichts mehr daran fehlet, daß es wirklich geſchehe, und die bewegende Vorſtellung unterdruͤcket werde, als nur das Gefallen an dieſer neuen Art der Thaͤtigkeit und des Beſtrebens. Wir koͤnnen kaͤmpfen gegen die Leidenſchaften und ſiegen. 7. Das Vermoͤgen zu wollen iſt nur der Anfang von dem Vermoͤgen zu vollbringen. Von jenem koͤnnen wir unmittelbar und zunaͤchſt aus dem Gefuͤhl unſers gegenwaͤrtigen Zuſtandes uͤberzeuget werden, daß wir es beſitzen. Wir haben eine Jdee vom Wollen, vom Selbſtbeſtimmen, von Kraft und Vermoͤgen welche aus unſern innern Empfindungen entſtanden iſt, wie die Jdee von der rothen Farbe aus unſern Jmpreſ- ſionen von außen. Und auf dieſelbige Art, wie ich jetzo gewahrnehme, indem ich die weiße Wand anſehe, daß unter meinen gegenwaͤrtigen Jmpreſſionen ſo eine ſich befindet, die ich dadurch bezeichne, daß ich ſie das Ge- fuͤhl der weißen Farbe nenne, ſo kann ich auch aus der Ver-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/144
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 114. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/144>, abgerufen am 21.12.2024.