welche die vorstellende Kraft leidet, in so fern sie Vor- stellungen vergleichet, und von einer zur andern überge- het, ist dasjenige, was unmittelbar vor dem Gewahr- nehmen vorhergehet.
3.
Das Denken erfodert eine vorhergehende Beziehung der Vorstellungen und ein Gefühl des Uebergangs; aber es lehret die Erfahrung, daß diese Erfodernisse vorhan- den seyn können, ohne daß der Aktus des Denkens völ- lig zu Stande komme. Der Aktus des Schließens, und die Einsicht des Zusammenhangs in den Beweisen, wird zwar erleichtert, wenn die Stellungen der Jdeen leichter und geschwinder hervorgebracht werden; aber nicht in der nämlichen Maaße, wie man diese Zuberei- tungen in den Vorstellungen beschaffet. Man hat, wie bekannt ist, Linien und Figuren, die so zusammen gestel- let werden können, daß die Demonstrationen des Eucli- des vor Augen geleget werden. Jeder Satz kann nach dem andern, so wie sie auf einander folgen, sichtlich ge- macht werden. Ohne Zweifel erleichtert dieß die Ein- sicht des Zusammenhangs, da auf diese Art die einzel- nen Jdeen ohne alle Mühe die Stellung in der Phanta- sie erhalten, die zu ihrer Vergleichung erfodert wird. Aber weder ein Urtheil, noch ein Schluß wird dadurch sichtbar. Würde der, dem durch solche Zusammen- setzungen und Substitutionen von Linien, die ganze De- monstration vorgemacht worden ist, der jede auf einan- der folgende Abänderung besonders, deutlich und voll- ständig gesehen hat, deswegen ein Raisonnement gemacht haben? Die Folge von Vorstellungen in ihrer gehöri- gen Lage ist in seinem Kopf, aber fehlt nicht der Gedanke und der Schluß? Derjenige hat noch nicht Schach ge- spielt, der nur die auf einander gefolgten Züge bemerket hat, und wenn auch seiner Aufmerksamkeit keine ein-
zige
IX. Verſuch. Ueber das Grundprincip
welche die vorſtellende Kraft leidet, in ſo fern ſie Vor- ſtellungen vergleichet, und von einer zur andern uͤberge- het, iſt dasjenige, was unmittelbar vor dem Gewahr- nehmen vorhergehet.
3.
Das Denken erfodert eine vorhergehende Beziehung der Vorſtellungen und ein Gefuͤhl des Uebergangs; aber es lehret die Erfahrung, daß dieſe Erfoderniſſe vorhan- den ſeyn koͤnnen, ohne daß der Aktus des Denkens voͤl- lig zu Stande komme. Der Aktus des Schließens, und die Einſicht des Zuſammenhangs in den Beweiſen, wird zwar erleichtert, wenn die Stellungen der Jdeen leichter und geſchwinder hervorgebracht werden; aber nicht in der naͤmlichen Maaße, wie man dieſe Zuberei- tungen in den Vorſtellungen beſchaffet. Man hat, wie bekannt iſt, Linien und Figuren, die ſo zuſammen geſtel- let werden koͤnnen, daß die Demonſtrationen des Eucli- des vor Augen geleget werden. Jeder Satz kann nach dem andern, ſo wie ſie auf einander folgen, ſichtlich ge- macht werden. Ohne Zweifel erleichtert dieß die Ein- ſicht des Zuſammenhangs, da auf dieſe Art die einzel- nen Jdeen ohne alle Muͤhe die Stellung in der Phanta- ſie erhalten, die zu ihrer Vergleichung erfodert wird. Aber weder ein Urtheil, noch ein Schluß wird dadurch ſichtbar. Wuͤrde der, dem durch ſolche Zuſammen- ſetzungen und Subſtitutionen von Linien, die ganze De- monſtration vorgemacht worden iſt, der jede auf einan- der folgende Abaͤnderung beſonders, deutlich und voll- ſtaͤndig geſehen hat, deswegen ein Raiſonnement gemacht haben? Die Folge von Vorſtellungen in ihrer gehoͤri- gen Lage iſt in ſeinem Kopf, aber fehlt nicht der Gedanke und der Schluß? Derjenige hat noch nicht Schach ge- ſpielt, der nur die auf einander gefolgten Zuͤge bemerket hat, und wenn auch ſeiner Aufmerkſamkeit keine ein-
zige
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IX. Verſuch. Ueber das Grundprincip
welche die vorſtellende Kraft leidet, in ſo fern ſie Vor-
ſtellungen vergleichet, und von einer zur andern uͤberge-
het, iſt dasjenige, was unmittelbar vor dem Gewahr-
nehmen vorhergehet.
3.
Das Denken erfodert eine vorhergehende Beziehung
der Vorſtellungen und ein Gefuͤhl des Uebergangs; aber
es lehret die Erfahrung, daß dieſe Erfoderniſſe vorhan-
den ſeyn koͤnnen, ohne daß der Aktus des Denkens voͤl-
lig zu Stande komme. Der Aktus des Schließens,
und die Einſicht des Zuſammenhangs in den Beweiſen,
wird zwar erleichtert, wenn die Stellungen der Jdeen
leichter und geſchwinder hervorgebracht werden; aber
nicht in der naͤmlichen Maaße, wie man dieſe Zuberei-
tungen in den Vorſtellungen beſchaffet. Man hat, wie
bekannt iſt, Linien und Figuren, die ſo zuſammen geſtel-
let werden koͤnnen, daß die Demonſtrationen des Eucli-
des vor Augen geleget werden. Jeder Satz kann nach
dem andern, ſo wie ſie auf einander folgen, ſichtlich ge-
macht werden. Ohne Zweifel erleichtert dieß die Ein-
ſicht des Zuſammenhangs, da auf dieſe Art die einzel-
nen Jdeen ohne alle Muͤhe die Stellung in der Phanta-
ſie erhalten, die zu ihrer Vergleichung erfodert wird.
Aber weder ein Urtheil, noch ein Schluß wird dadurch
ſichtbar. Wuͤrde der, dem durch ſolche Zuſammen-
ſetzungen und Subſtitutionen von Linien, die ganze De-
monſtration vorgemacht worden iſt, der jede auf einan-
der folgende Abaͤnderung beſonders, deutlich und voll-
ſtaͤndig geſehen hat, deswegen ein Raiſonnement gemacht
haben? Die Folge von Vorſtellungen in ihrer gehoͤri-
gen Lage iſt in ſeinem Kopf, aber fehlt nicht der Gedanke
und der Schluß? Derjenige hat noch nicht Schach ge-
ſpielt, der nur die auf einander gefolgten Zuͤge bemerket
hat, und wenn auch ſeiner Aufmerkſamkeit keine ein-
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 602. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/662>, abgerufen am 23.11.2024.
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