Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

VIII. Versuch. Von der Beziehung
und die Aussprüche der Vernunft müssen sich mit den
Aussprüchen des gemeinen Verstandes vereinigen lassen.
Nur hat keiner von beyden ein Recht, ausschließend sich
für fehlerfrey zu halten. Die Denkkraft kann vielleicht
in den Theorien sich ehe versehen haben, weil sie da mehr
und anhaltender hat arbeiten müssen. Aber vielleicht
liegt auch die Schuld an dem Sensus kommunis, der
eine ihm nur aus Gewohnheit nothwendige Denkart für
eine absolut nothwendige ansieht. Er hat sich so oft von
dieser Seite verdächtig gemacht, daß er in den noch un-
untersuchten Fällen die Vermuthung mehr gegen sich als
für sich hat. Aber gesetzt, er habe sie für sich, wie er
niemals hat, wo er mit mathematischen Theorien in
Kollision kommt, so hieße doch das nur so viel, dieselbi-
ge Denkkraft kann in der einen Gattung ihrer Arbeiten
leichter ihre natürlich nothwendigen Wirkungen mit de-
nen, die sie nur zufällig aus Gewohnheit angenommen
hat, verwechseln, als bey der andern. Läßt sich deswe-
gen überhaupt sagen, daß sie diesem Jrrthum am meisten
unterworfen sey, wo sie ihre Schlüsse aus Gemeinbegrif-
fen untersucht, oder da, wo sie ihre sinnlichen Urtheile
prüfet?

III.
Auf welche Art die Vernunft und der gemeine
Verstand einander widersprechen können?
wie sie sich von selbst vereinigen, und sich
wechselseitig einander berichtigen.

Ein wahrer Widerspruch zwischen dem gemeinen Ver-
stand und der Vernunft kann sich eräugen, wenn
von der einen oder der andern Seite das Urtheil von ei-
ner zufälligen Jdeenassociation abhängt. Dieß ist
in den sinnlichen Urtheilen am häufigsten. Aber auch

in

VIII. Verſuch. Von der Beziehung
und die Ausſpruͤche der Vernunft muͤſſen ſich mit den
Ausſpruͤchen des gemeinen Verſtandes vereinigen laſſen.
Nur hat keiner von beyden ein Recht, ausſchließend ſich
fuͤr fehlerfrey zu halten. Die Denkkraft kann vielleicht
in den Theorien ſich ehe verſehen haben, weil ſie da mehr
und anhaltender hat arbeiten muͤſſen. Aber vielleicht
liegt auch die Schuld an dem Senſus kommunis, der
eine ihm nur aus Gewohnheit nothwendige Denkart fuͤr
eine abſolut nothwendige anſieht. Er hat ſich ſo oft von
dieſer Seite verdaͤchtig gemacht, daß er in den noch un-
unterſuchten Faͤllen die Vermuthung mehr gegen ſich als
fuͤr ſich hat. Aber geſetzt, er habe ſie fuͤr ſich, wie er
niemals hat, wo er mit mathematiſchen Theorien in
Kolliſion kommt, ſo hieße doch das nur ſo viel, dieſelbi-
ge Denkkraft kann in der einen Gattung ihrer Arbeiten
leichter ihre natuͤrlich nothwendigen Wirkungen mit de-
nen, die ſie nur zufaͤllig aus Gewohnheit angenommen
hat, verwechſeln, als bey der andern. Laͤßt ſich deswe-
gen uͤberhaupt ſagen, daß ſie dieſem Jrrthum am meiſten
unterworfen ſey, wo ſie ihre Schluͤſſe aus Gemeinbegrif-
fen unterſucht, oder da, wo ſie ihre ſinnlichen Urtheile
pruͤfet?

III.
Auf welche Art die Vernunft und der gemeine
Verſtand einander widerſprechen koͤnnen?
wie ſie ſich von ſelbſt vereinigen, und ſich
wechſelſeitig einander berichtigen.

Ein wahrer Widerſpruch zwiſchen dem gemeinen Ver-
ſtand und der Vernunft kann ſich eraͤugen, wenn
von der einen oder der andern Seite das Urtheil von ei-
ner zufaͤlligen Jdeenaſſociation abhaͤngt. Dieß iſt
in den ſinnlichen Urtheilen am haͤufigſten. Aber auch

in
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0636" n="576"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">VIII.</hi> Ver&#x017F;uch. Von der Beziehung</hi></fw><lb/>
und die Aus&#x017F;pru&#x0364;che der Vernunft mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ich mit den<lb/>
Aus&#x017F;pru&#x0364;chen des gemeinen Ver&#x017F;tandes vereinigen la&#x017F;&#x017F;en.<lb/>
Nur hat keiner von beyden ein Recht, aus&#x017F;chließend &#x017F;ich<lb/>
fu&#x0364;r fehlerfrey zu halten. Die Denkkraft kann vielleicht<lb/>
in den Theorien &#x017F;ich <hi rendition="#fr">ehe</hi> ver&#x017F;ehen haben, weil &#x017F;ie da mehr<lb/>
und anhaltender hat arbeiten mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en. Aber vielleicht<lb/>
liegt auch die Schuld an dem Sen&#x017F;us kommunis, der<lb/>
eine ihm nur aus Gewohnheit nothwendige Denkart fu&#x0364;r<lb/>
eine ab&#x017F;olut nothwendige an&#x017F;ieht. Er hat &#x017F;ich &#x017F;o oft von<lb/>
die&#x017F;er Seite verda&#x0364;chtig gemacht, daß er in den noch un-<lb/>
unter&#x017F;uchten Fa&#x0364;llen die Vermuthung mehr gegen &#x017F;ich als<lb/>
fu&#x0364;r &#x017F;ich hat. Aber ge&#x017F;etzt, er habe &#x017F;ie fu&#x0364;r &#x017F;ich, wie er<lb/>
niemals hat, wo er mit mathemati&#x017F;chen Theorien in<lb/>
Kolli&#x017F;ion kommt, &#x017F;o hieße doch das nur &#x017F;o viel, die&#x017F;elbi-<lb/>
ge Denkkraft kann in der einen Gattung ihrer Arbeiten<lb/>
leichter ihre natu&#x0364;rlich nothwendigen Wirkungen mit de-<lb/>
nen, die &#x017F;ie nur zufa&#x0364;llig aus Gewohnheit angenommen<lb/>
hat, verwech&#x017F;eln, als bey der andern. La&#x0364;ßt &#x017F;ich deswe-<lb/>
gen u&#x0364;berhaupt &#x017F;agen, daß &#x017F;ie die&#x017F;em Jrrthum am mei&#x017F;ten<lb/>
unterworfen &#x017F;ey, wo &#x017F;ie ihre Schlu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e aus Gemeinbegrif-<lb/>
fen unter&#x017F;ucht, oder da, wo &#x017F;ie ihre &#x017F;innlichen Urtheile<lb/>
pru&#x0364;fet?</p>
        </div><lb/>
        <div n="2">
          <head><hi rendition="#aq">III.</hi><lb/>
Auf welche Art die Vernunft und der gemeine<lb/>
Ver&#x017F;tand einander wider&#x017F;prechen ko&#x0364;nnen?<lb/>
wie &#x017F;ie &#x017F;ich von &#x017F;elb&#x017F;t vereinigen, und &#x017F;ich<lb/>
wech&#x017F;el&#x017F;eitig einander berichtigen.</head><lb/>
          <p><hi rendition="#in">E</hi>in wahrer Wider&#x017F;pruch zwi&#x017F;chen dem gemeinen Ver-<lb/>
&#x017F;tand und der Vernunft kann &#x017F;ich era&#x0364;ugen, wenn<lb/>
von der einen oder der andern Seite das Urtheil von ei-<lb/>
ner <hi rendition="#fr">zufa&#x0364;lligen Jdeena&#x017F;&#x017F;ociation</hi> abha&#x0364;ngt. Dieß i&#x017F;t<lb/>
in den &#x017F;innlichen Urtheilen am ha&#x0364;ufig&#x017F;ten. Aber auch<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">in</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[576/0636] VIII. Verſuch. Von der Beziehung und die Ausſpruͤche der Vernunft muͤſſen ſich mit den Ausſpruͤchen des gemeinen Verſtandes vereinigen laſſen. Nur hat keiner von beyden ein Recht, ausſchließend ſich fuͤr fehlerfrey zu halten. Die Denkkraft kann vielleicht in den Theorien ſich ehe verſehen haben, weil ſie da mehr und anhaltender hat arbeiten muͤſſen. Aber vielleicht liegt auch die Schuld an dem Senſus kommunis, der eine ihm nur aus Gewohnheit nothwendige Denkart fuͤr eine abſolut nothwendige anſieht. Er hat ſich ſo oft von dieſer Seite verdaͤchtig gemacht, daß er in den noch un- unterſuchten Faͤllen die Vermuthung mehr gegen ſich als fuͤr ſich hat. Aber geſetzt, er habe ſie fuͤr ſich, wie er niemals hat, wo er mit mathematiſchen Theorien in Kolliſion kommt, ſo hieße doch das nur ſo viel, dieſelbi- ge Denkkraft kann in der einen Gattung ihrer Arbeiten leichter ihre natuͤrlich nothwendigen Wirkungen mit de- nen, die ſie nur zufaͤllig aus Gewohnheit angenommen hat, verwechſeln, als bey der andern. Laͤßt ſich deswe- gen uͤberhaupt ſagen, daß ſie dieſem Jrrthum am meiſten unterworfen ſey, wo ſie ihre Schluͤſſe aus Gemeinbegrif- fen unterſucht, oder da, wo ſie ihre ſinnlichen Urtheile pruͤfet? III. Auf welche Art die Vernunft und der gemeine Verſtand einander widerſprechen koͤnnen? wie ſie ſich von ſelbſt vereinigen, und ſich wechſelſeitig einander berichtigen. Ein wahrer Widerſpruch zwiſchen dem gemeinen Ver- ſtand und der Vernunft kann ſich eraͤugen, wenn von der einen oder der andern Seite das Urtheil von ei- ner zufaͤlligen Jdeenaſſociation abhaͤngt. Dieß iſt in den ſinnlichen Urtheilen am haͤufigſten. Aber auch in

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/636
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 576. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/636>, abgerufen am 30.12.2024.