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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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über Empfindungen u. Empfindnisse.
Seelenveränderungen; diese sind es, welche an der gan-
zen Masse der menschlichen Glückseligkeit und Unglückse-
ligkeit den stärksten und wichtigsten Artheil haben.

Es ist völlig richtig; die Lust oder Unlust in der Em-
pfindung ist stärker, als die in der Wiedervorstellung
von demselbigen Gegenstand es ist. Die Empfindung
ist stärker, als ihre Wiedervorstellung, wenn sonsten alles
gleich ist. Allein so wenig dieses hindert, daß die Herr-
schaft der Einbildungen nicht ausgebreiteter und stärker
sey, als die Herrschaft der Empfindungen; so wenig
hindert jenes, daß die Lust und Unlust in den Wieder-
vorstellungen im Ganzen in dem Menschen nicht mächti-
ger seyn sollte, als die in den Empfindungen es ist.

4.

Und die Ursache hievon darf nicht weither gesuchet
werden. Erstlich, so ist das Vergnügen und der Ver-
druß aus den Wiedervorstellungen, gemeiniglich reiner,
und mit entgegengesetzten oder auch fremdartigen Em-
pfindnissen unvermischter, als die Affektion in der Em-
pfindung gewesen ist. Das gegenwärtige Vergnügen
auf einer Reise, bey der Tafel, aus der Gesellschaft, bey
der Musik u. s. f. ist mit manchen kleinern Unbehaglich-
keiten, mit unbefriedigten Verlangen, mit Anwandlun-
gen von Verdruß und Ekel durchgemischet. Alle diese
kleinern widrigen Empfindungen fallen zum Theil von
selbst heraus, zum Theil scheidet sie die Einbildungskraft
zumal bey guter Laune davon ab, wenn sie das Vergan-
gene wieder hervorziehet. Da hat sie also das Vergnü-
gen aus der Empfindung reiner. Mit dem Mißver-
gnügen eräugnet sich etwas ähnliches; aber vielleicht im
Ganzen genommen seltener. Das Herz ist jederzeit in-
teressirt, und leitet die Phantasie lieber auf die gefällige
und angenehme Seite der Sachen, als auf die entgegen-
stehende. Nach dem Genuß eines Guten, und noch

mehr
Q 5

uͤber Empfindungen u. Empfindniſſe.
Seelenveraͤnderungen; dieſe ſind es, welche an der gan-
zen Maſſe der menſchlichen Gluͤckſeligkeit und Ungluͤckſe-
ligkeit den ſtaͤrkſten und wichtigſten Artheil haben.

Es iſt voͤllig richtig; die Luſt oder Unluſt in der Em-
pfindung iſt ſtaͤrker, als die in der Wiedervorſtellung
von demſelbigen Gegenſtand es iſt. Die Empfindung
iſt ſtaͤrker, als ihre Wiedervorſtellung, wenn ſonſten alles
gleich iſt. Allein ſo wenig dieſes hindert, daß die Herr-
ſchaft der Einbildungen nicht ausgebreiteter und ſtaͤrker
ſey, als die Herrſchaft der Empfindungen; ſo wenig
hindert jenes, daß die Luſt und Unluſt in den Wieder-
vorſtellungen im Ganzen in dem Menſchen nicht maͤchti-
ger ſeyn ſollte, als die in den Empfindungen es iſt.

4.

Und die Urſache hievon darf nicht weither geſuchet
werden. Erſtlich, ſo iſt das Vergnuͤgen und der Ver-
druß aus den Wiedervorſtellungen, gemeiniglich reiner,
und mit entgegengeſetzten oder auch fremdartigen Em-
pfindniſſen unvermiſchter, als die Affektion in der Em-
pfindung geweſen iſt. Das gegenwaͤrtige Vergnuͤgen
auf einer Reiſe, bey der Tafel, aus der Geſellſchaft, bey
der Muſik u. ſ. f. iſt mit manchen kleinern Unbehaglich-
keiten, mit unbefriedigten Verlangen, mit Anwandlun-
gen von Verdruß und Ekel durchgemiſchet. Alle dieſe
kleinern widrigen Empfindungen fallen zum Theil von
ſelbſt heraus, zum Theil ſcheidet ſie die Einbildungskraft
zumal bey guter Laune davon ab, wenn ſie das Vergan-
gene wieder hervorziehet. Da hat ſie alſo das Vergnuͤ-
gen aus der Empfindung reiner. Mit dem Mißver-
gnuͤgen eraͤugnet ſich etwas aͤhnliches; aber vielleicht im
Ganzen genommen ſeltener. Das Herz iſt jederzeit in-
tereſſirt, und leitet die Phantaſie lieber auf die gefaͤllige
und angenehme Seite der Sachen, als auf die entgegen-
ſtehende. Nach dem Genuß eines Guten, und noch

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Q 5
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[249/0309] uͤber Empfindungen u. Empfindniſſe. Seelenveraͤnderungen; dieſe ſind es, welche an der gan- zen Maſſe der menſchlichen Gluͤckſeligkeit und Ungluͤckſe- ligkeit den ſtaͤrkſten und wichtigſten Artheil haben. Es iſt voͤllig richtig; die Luſt oder Unluſt in der Em- pfindung iſt ſtaͤrker, als die in der Wiedervorſtellung von demſelbigen Gegenſtand es iſt. Die Empfindung iſt ſtaͤrker, als ihre Wiedervorſtellung, wenn ſonſten alles gleich iſt. Allein ſo wenig dieſes hindert, daß die Herr- ſchaft der Einbildungen nicht ausgebreiteter und ſtaͤrker ſey, als die Herrſchaft der Empfindungen; ſo wenig hindert jenes, daß die Luſt und Unluſt in den Wieder- vorſtellungen im Ganzen in dem Menſchen nicht maͤchti- ger ſeyn ſollte, als die in den Empfindungen es iſt. 4. Und die Urſache hievon darf nicht weither geſuchet werden. Erſtlich, ſo iſt das Vergnuͤgen und der Ver- druß aus den Wiedervorſtellungen, gemeiniglich reiner, und mit entgegengeſetzten oder auch fremdartigen Em- pfindniſſen unvermiſchter, als die Affektion in der Em- pfindung geweſen iſt. Das gegenwaͤrtige Vergnuͤgen auf einer Reiſe, bey der Tafel, aus der Geſellſchaft, bey der Muſik u. ſ. f. iſt mit manchen kleinern Unbehaglich- keiten, mit unbefriedigten Verlangen, mit Anwandlun- gen von Verdruß und Ekel durchgemiſchet. Alle dieſe kleinern widrigen Empfindungen fallen zum Theil von ſelbſt heraus, zum Theil ſcheidet ſie die Einbildungskraft zumal bey guter Laune davon ab, wenn ſie das Vergan- gene wieder hervorziehet. Da hat ſie alſo das Vergnuͤ- gen aus der Empfindung reiner. Mit dem Mißver- gnuͤgen eraͤugnet ſich etwas aͤhnliches; aber vielleicht im Ganzen genommen ſeltener. Das Herz iſt jederzeit in- tereſſirt, und leitet die Phantaſie lieber auf die gefaͤllige und angenehme Seite der Sachen, als auf die entgegen- ſtehende. Nach dem Genuß eines Guten, und noch mehr Q 5

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 249. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/309>, abgerufen am 21.11.2024.