Phantasie zu schwach war, von einander zu erhalten. Ein gewisser Grad dieser Schwäche ist ein mindrer Grad an getreuer, fester und scharfer Reproduktion des Ein- zeln, und gehöret mit zum Dichtergenie, wogegen meh- rere Stärke von dieser letztern Seite, und mehrere Schwäche in Hinsicht der schnellen Reproduktion die Bestandtheile eines großen Gedächtnißes ausmacht. Was aber zu beiden, zu dem Dichtergenie und zu dem historischen, von der Ueberlegungskraft noch hinzu kom- men muß, wird hier noch nicht in Anschlag gebracht.
6.
Man setze bey unsern Empfindungen das noch bey Seite, was eigentlich das Fühlen oder Empfinden ist, und wovon die empfundenen Modifikationen den Na- men der Empfindungen haben; so heißt eine Empfin- dung von der Sonne haben nichts anders, als eine ge- wisse Modifikation von ihr in sich aufnehmen, wenn die Sonne mittelst des Lichts auf unsere körperlichen Organe wirket. Eine Nachempfindung hievon ist es, wenn die- se Veränderung in uns eine Weile von selbst bestehet, da die äußere Ursache von außen nicht wirket. Das Vermögen, solche Eindrücke aufzunehmen, enthält also ei- ne Aufgelegtheit, auf diese oder jene Weise gebildet, und andern Dingen nachgebildet zu werden, und die em- pfangenen Formen in sich zu erhalten, auch wenn die Ursache, welche sie zuerst aufdrückte, sich entzogen hat. Diese Formen werden in dem Jnnern der Seele weggeleget und eingewickelt, so daß eine ihr entsprechende Spur zurückbleibet. Ein Reisender besieht ein Gebäude, macht sich dann eine Zeichnung davon, die er in seinem Coffre zum künftigen Gebrauch aufhebet. Was ihm die Zeichnung ist, das ist bey der Seele, wenn sie empfindet, die Nachempfindung.
Es
I.Band. L
der Vorſtellungen.
Phantaſie zu ſchwach war, von einander zu erhalten. Ein gewiſſer Grad dieſer Schwaͤche iſt ein mindrer Grad an getreuer, feſter und ſcharfer Reproduktion des Ein- zeln, und gehoͤret mit zum Dichtergenie, wogegen meh- rere Staͤrke von dieſer letztern Seite, und mehrere Schwaͤche in Hinſicht der ſchnellen Reproduktion die Beſtandtheile eines großen Gedaͤchtnißes ausmacht. Was aber zu beiden, zu dem Dichtergenie und zu dem hiſtoriſchen, von der Ueberlegungskraft noch hinzu kom- men muß, wird hier noch nicht in Anſchlag gebracht.
6.
Man ſetze bey unſern Empfindungen das noch bey Seite, was eigentlich das Fuͤhlen oder Empfinden iſt, und wovon die empfundenen Modifikationen den Na- men der Empfindungen haben; ſo heißt eine Empfin- dung von der Sonne haben nichts anders, als eine ge- wiſſe Modifikation von ihr in ſich aufnehmen, wenn die Sonne mittelſt des Lichts auf unſere koͤrperlichen Organe wirket. Eine Nachempfindung hievon iſt es, wenn die- ſe Veraͤnderung in uns eine Weile von ſelbſt beſtehet, da die aͤußere Urſache von außen nicht wirket. Das Vermoͤgen, ſolche Eindruͤcke aufzunehmen, enthaͤlt alſo ei- ne Aufgelegtheit, auf dieſe oder jene Weiſe gebildet, und andern Dingen nachgebildet zu werden, und die em- pfangenen Formen in ſich zu erhalten, auch wenn die Urſache, welche ſie zuerſt aufdruͤckte, ſich entzogen hat. Dieſe Formen werden in dem Jnnern der Seele weggeleget und eingewickelt, ſo daß eine ihr entſprechende Spur zuruͤckbleibet. Ein Reiſender beſieht ein Gebaͤude, macht ſich dann eine Zeichnung davon, die er in ſeinem Coffre zum kuͤnftigen Gebrauch aufhebet. Was ihm die Zeichnung iſt, das iſt bey der Seele, wenn ſie empfindet, die Nachempfindung.
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der Vorſtellungen.
Phantaſie zu ſchwach war, von einander zu erhalten.
Ein gewiſſer Grad dieſer Schwaͤche iſt ein mindrer Grad
an getreuer, feſter und ſcharfer Reproduktion des Ein-
zeln, und gehoͤret mit zum Dichtergenie, wogegen meh-
rere Staͤrke von dieſer letztern Seite, und mehrere
Schwaͤche in Hinſicht der ſchnellen Reproduktion die
Beſtandtheile eines großen Gedaͤchtnißes ausmacht.
Was aber zu beiden, zu dem Dichtergenie und zu dem
hiſtoriſchen, von der Ueberlegungskraft noch hinzu kom-
men muß, wird hier noch nicht in Anſchlag gebracht.
6.
Man ſetze bey unſern Empfindungen das noch bey
Seite, was eigentlich das Fuͤhlen oder Empfinden
iſt, und wovon die empfundenen Modifikationen den Na-
men der Empfindungen haben; ſo heißt eine Empfin-
dung von der Sonne haben nichts anders, als eine ge-
wiſſe Modifikation von ihr in ſich aufnehmen, wenn die
Sonne mittelſt des Lichts auf unſere koͤrperlichen Organe
wirket. Eine Nachempfindung hievon iſt es, wenn die-
ſe Veraͤnderung in uns eine Weile von ſelbſt beſtehet,
da die aͤußere Urſache von außen nicht wirket. Das
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ne Aufgelegtheit, auf dieſe oder jene Weiſe gebildet, und
andern Dingen nachgebildet zu werden, und die em-
pfangenen Formen in ſich zu erhalten, auch wenn die
Urſache, welche ſie zuerſt aufdruͤckte, ſich entzogen
hat. Dieſe Formen werden in dem Jnnern der Seele
weggeleget und eingewickelt, ſo daß eine ihr entſprechende
Spur zuruͤckbleibet. Ein Reiſender beſieht ein Gebaͤude,
macht ſich dann eine Zeichnung davon, die er in ſeinem
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 161. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/221>, abgerufen am 21.11.2024.
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