dungskraft und des Gedächtnisses ist von einer andern Uebung im Empfinden und Beobachten, wobey die Ab- sicht nur darauf gerichtet ist, volle, genaue und feine Eindrücke von den Objekten zu erlangen, verschieden. Denn obgleich beyde sich gewissermaßen einander erfo- dern und mit einander verbunden sind, so wissen wir doch, daß, so wie eine schnelle und muntere Fassungskraft et- was anders ist, als ein festes, lange etwas behaltendes Gedächtniß, auch die Uebungen in mancher Hinsicht ver- schieden sind, wodurch jene und wodurch dieses erlanget oder verbessert wird. Treibet nun die ganze Seelenkraft nach Einer Seite zu stark hin, so kann und muß sie ge- wissermaßen an der andern in etwas zurücke bleiben.
5.
Man setze die Vergleichung auf dieselbige Art wei- ter fort, so zeiget sich das Verhältniß der Phantasie zu der Dichtkraft. Die Fiktionen sind den Wieder- vorstellungen nicht eigentlich ähnlich und also das Ver- mögen zu jenen auch dem Vermögen zu diesen nicht. Laß die Phantasie in einem verhältnißmäßigen Grade vergrößert, verfeinert, lebhafter und stärker gemacht werden. Hiedurch allein entstehen keine solche Selbst- geschöpfe der sinnlichen Vorstellungskraft, als die Er- dichtungen sind. Jn dieser Hinsicht sind beyde Thätig- keitsarten unvergleichbar, und es läßt sich durchaus nicht gedenken, wie vielmal der Aktus des Einbildens in dem Aktus des Dichtens enthalten sey, noch wie Einer von ihnen vergrößert oder verkleinert in dem andern über- gehe. Die starke, feste und ausgedehnte Jmagination des Ritters von Linne' fasset eine unzählbare Menge kla- rer Empfindungsvorstellungen von körperlichen Gegen- ständen, und eine gleiche Menge gehörter und gelesener Töne; erhält solche in ihrer Deutlichkeit und reproduci- ret sie. Man vergleiche die starke Seelenäußerung mit
der
der Vorſtellungen.
dungskraft und des Gedaͤchtniſſes iſt von einer andern Uebung im Empfinden und Beobachten, wobey die Ab- ſicht nur darauf gerichtet iſt, volle, genaue und feine Eindruͤcke von den Objekten zu erlangen, verſchieden. Denn obgleich beyde ſich gewiſſermaßen einander erfo- dern und mit einander verbunden ſind, ſo wiſſen wir doch, daß, ſo wie eine ſchnelle und muntere Faſſungskraft et- was anders iſt, als ein feſtes, lange etwas behaltendes Gedaͤchtniß, auch die Uebungen in mancher Hinſicht ver- ſchieden ſind, wodurch jene und wodurch dieſes erlanget oder verbeſſert wird. Treibet nun die ganze Seelenkraft nach Einer Seite zu ſtark hin, ſo kann und muß ſie ge- wiſſermaßen an der andern in etwas zuruͤcke bleiben.
5.
Man ſetze die Vergleichung auf dieſelbige Art wei- ter fort, ſo zeiget ſich das Verhaͤltniß der Phantaſie zu der Dichtkraft. Die Fiktionen ſind den Wieder- vorſtellungen nicht eigentlich aͤhnlich und alſo das Ver- moͤgen zu jenen auch dem Vermoͤgen zu dieſen nicht. Laß die Phantaſie in einem verhaͤltnißmaͤßigen Grade vergroͤßert, verfeinert, lebhafter und ſtaͤrker gemacht werden. Hiedurch allein entſtehen keine ſolche Selbſt- geſchoͤpfe der ſinnlichen Vorſtellungskraft, als die Er- dichtungen ſind. Jn dieſer Hinſicht ſind beyde Thaͤtig- keitsarten unvergleichbar, und es laͤßt ſich durchaus nicht gedenken, wie vielmal der Aktus des Einbildens in dem Aktus des Dichtens enthalten ſey, noch wie Einer von ihnen vergroͤßert oder verkleinert in dem andern uͤber- gehe. Die ſtarke, feſte und ausgedehnte Jmagination des Ritters von Linne’ faſſet eine unzaͤhlbare Menge kla- rer Empfindungsvorſtellungen von koͤrperlichen Gegen- ſtaͤnden, und eine gleiche Menge gehoͤrter und geleſener Toͤne; erhaͤlt ſolche in ihrer Deutlichkeit und reproduci- ret ſie. Man vergleiche die ſtarke Seelenaͤußerung mit
der
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der Vorſtellungen.
dungskraft und des Gedaͤchtniſſes iſt von einer andern
Uebung im Empfinden und Beobachten, wobey die Ab-
ſicht nur darauf gerichtet iſt, volle, genaue und feine
Eindruͤcke von den Objekten zu erlangen, verſchieden.
Denn obgleich beyde ſich gewiſſermaßen einander erfo-
dern und mit einander verbunden ſind, ſo wiſſen wir doch,
daß, ſo wie eine ſchnelle und muntere Faſſungskraft et-
was anders iſt, als ein feſtes, lange etwas behaltendes
Gedaͤchtniß, auch die Uebungen in mancher Hinſicht ver-
ſchieden ſind, wodurch jene und wodurch dieſes erlanget
oder verbeſſert wird. Treibet nun die ganze Seelenkraft
nach Einer Seite zu ſtark hin, ſo kann und muß ſie ge-
wiſſermaßen an der andern in etwas zuruͤcke bleiben.
5.
Man ſetze die Vergleichung auf dieſelbige Art wei-
ter fort, ſo zeiget ſich das Verhaͤltniß der Phantaſie
zu der Dichtkraft. Die Fiktionen ſind den Wieder-
vorſtellungen nicht eigentlich aͤhnlich und alſo das Ver-
moͤgen zu jenen auch dem Vermoͤgen zu dieſen nicht.
Laß die Phantaſie in einem verhaͤltnißmaͤßigen Grade
vergroͤßert, verfeinert, lebhafter und ſtaͤrker gemacht
werden. Hiedurch allein entſtehen keine ſolche Selbſt-
geſchoͤpfe der ſinnlichen Vorſtellungskraft, als die Er-
dichtungen ſind. Jn dieſer Hinſicht ſind beyde Thaͤtig-
keitsarten unvergleichbar, und es laͤßt ſich durchaus
nicht gedenken, wie vielmal der Aktus des Einbildens in
dem Aktus des Dichtens enthalten ſey, noch wie Einer
von ihnen vergroͤßert oder verkleinert in dem andern uͤber-
gehe. Die ſtarke, feſte und ausgedehnte Jmagination
des Ritters von Linne’ faſſet eine unzaͤhlbare Menge kla-
rer Empfindungsvorſtellungen von koͤrperlichen Gegen-
ſtaͤnden, und eine gleiche Menge gehoͤrter und geleſener
Toͤne; erhaͤlt ſolche in ihrer Deutlichkeit und reproduci-
ret ſie. Man vergleiche die ſtarke Seelenaͤußerung mit
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 159. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/219>, abgerufen am 21.11.2024.
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