Temme, Jodocus Donatus Hubertus: Die Volkssagen von Pommern und Rügen. Berlin, 1840.118. Der Wettlauf um das Opfergeld. Vor der Stadt Greifswald stand ehedem eine Capelle, so der heiligen Gertrud geweihet war. Einstmals war das Fest der Heiligen gefeiert, und es waren von den Gläubigen viele und reiche Gaben eingekommen. Diese lagen noch auf dem Hochaltar ausgebreitet, wo sie der Priester, welcher bei der Kapelle angestellt war, einsammeln sollte, um sie zu dem Gotteskasten abzuliefern. Wie dieser Priester nun aber nach beendigtem Feste ganz allein in der Kirche war, da faßte ihn der schnöde Geiz, und er trachtete, die frommen Gaben sich anzueignen. Er nahm deshalb, weil er zugleich ein frecher, übermüthiger Gesell war, das Bild der Heiligen von dem Altare, auf welchem es hing, und stellte es an den Eingang der Capelle, dem Hochaltare gegenüber. Dann sprach er zu dem Bilde: Nun wollen wir in die Wette laufen, und wer von uns Beiden der Erste bei dem Altare ist, dem sollen alle die Gaben zu eigen seyn. Nachdem er die Worte gesprochen, fing er an zu laufen; aber auf einmal erhob sich auch das Bild und lief neben ihm vorbei, und war früher wieder an seinem Platze auf dem Altare, als der Priester nur bis mitten in die Capelle gekommen war. Den geizigen Menschen erschreckte dies Wunder aber nicht; er wurde vielmehr zornig, und nahm das Bild wieder von seinem Platze, und stellte es wieder an den Eingang der Capelle und lief abermals mit ihm zur Wette nach den Gaben. Doch das Bild war noch geschwinder auf seiner alten Stelle, denn das erste Mal. Auch das konnte den schlechten Gesellen nicht bessern. Er nahm das Bild zum dritten Male vom Altar, stellte es an die Thür und forderte es mit höhnischen Worten auf, noch einmal mit ihm den Wettlauf zu machen. Darauf lief er wieder, und diesmal blieb er der 118. Der Wettlauf um das Opfergeld. Vor der Stadt Greifswald stand ehedem eine Capelle, so der heiligen Gertrud geweihet war. Einstmals war das Fest der Heiligen gefeiert, und es waren von den Gläubigen viele und reiche Gaben eingekommen. Diese lagen noch auf dem Hochaltar ausgebreitet, wo sie der Priester, welcher bei der Kapelle angestellt war, einsammeln sollte, um sie zu dem Gotteskasten abzuliefern. Wie dieser Priester nun aber nach beendigtem Feste ganz allein in der Kirche war, da faßte ihn der schnöde Geiz, und er trachtete, die frommen Gaben sich anzueignen. Er nahm deshalb, weil er zugleich ein frecher, übermüthiger Gesell war, das Bild der Heiligen von dem Altare, auf welchem es hing, und stellte es an den Eingang der Capelle, dem Hochaltare gegenüber. Dann sprach er zu dem Bilde: Nun wollen wir in die Wette laufen, und wer von uns Beiden der Erste bei dem Altare ist, dem sollen alle die Gaben zu eigen seyn. Nachdem er die Worte gesprochen, fing er an zu laufen; aber auf einmal erhob sich auch das Bild und lief neben ihm vorbei, und war früher wieder an seinem Platze auf dem Altare, als der Priester nur bis mitten in die Capelle gekommen war. Den geizigen Menschen erschreckte dies Wunder aber nicht; er wurde vielmehr zornig, und nahm das Bild wieder von seinem Platze, und stellte es wieder an den Eingang der Capelle und lief abermals mit ihm zur Wette nach den Gaben. Doch das Bild war noch geschwinder auf seiner alten Stelle, denn das erste Mal. Auch das konnte den schlechten Gesellen nicht bessern. Er nahm das Bild zum dritten Male vom Altar, stellte es an die Thür und forderte es mit höhnischen Worten auf, noch einmal mit ihm den Wettlauf zu machen. Darauf lief er wieder, und diesmal blieb er der <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0191" n="159"/> <div n="2"> <head>118. 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Nachdem er die Worte gesprochen, fing er an zu laufen; aber auf einmal erhob sich auch das Bild und lief neben ihm vorbei, und war früher wieder an seinem Platze auf dem Altare, als der Priester nur bis mitten in die Capelle gekommen war. Den geizigen Menschen erschreckte dies Wunder aber nicht; er wurde vielmehr zornig, und nahm das Bild wieder von seinem Platze, und stellte es wieder an den Eingang der Capelle und lief abermals mit ihm zur Wette nach den Gaben. Doch das Bild war noch geschwinder auf seiner alten Stelle, denn das erste Mal. Auch das konnte den schlechten Gesellen nicht bessern. Er nahm das Bild zum dritten Male vom Altar, stellte es an die Thür und forderte es mit höhnischen Worten auf, noch einmal mit ihm den Wettlauf zu machen. Darauf lief er wieder, und diesmal blieb er der </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [159/0191]
118. Der Wettlauf um das Opfergeld.
Vor der Stadt Greifswald stand ehedem eine Capelle, so der heiligen Gertrud geweihet war. Einstmals war das Fest der Heiligen gefeiert, und es waren von den Gläubigen viele und reiche Gaben eingekommen. Diese lagen noch auf dem Hochaltar ausgebreitet, wo sie der Priester, welcher bei der Kapelle angestellt war, einsammeln sollte, um sie zu dem Gotteskasten abzuliefern. Wie dieser Priester nun aber nach beendigtem Feste ganz allein in der Kirche war, da faßte ihn der schnöde Geiz, und er trachtete, die frommen Gaben sich anzueignen. Er nahm deshalb, weil er zugleich ein frecher, übermüthiger Gesell war, das Bild der Heiligen von dem Altare, auf welchem es hing, und stellte es an den Eingang der Capelle, dem Hochaltare gegenüber. Dann sprach er zu dem Bilde: Nun wollen wir in die Wette laufen, und wer von uns Beiden der Erste bei dem Altare ist, dem sollen alle die Gaben zu eigen seyn. Nachdem er die Worte gesprochen, fing er an zu laufen; aber auf einmal erhob sich auch das Bild und lief neben ihm vorbei, und war früher wieder an seinem Platze auf dem Altare, als der Priester nur bis mitten in die Capelle gekommen war. Den geizigen Menschen erschreckte dies Wunder aber nicht; er wurde vielmehr zornig, und nahm das Bild wieder von seinem Platze, und stellte es wieder an den Eingang der Capelle und lief abermals mit ihm zur Wette nach den Gaben. Doch das Bild war noch geschwinder auf seiner alten Stelle, denn das erste Mal. Auch das konnte den schlechten Gesellen nicht bessern. Er nahm das Bild zum dritten Male vom Altar, stellte es an die Thür und forderte es mit höhnischen Worten auf, noch einmal mit ihm den Wettlauf zu machen. Darauf lief er wieder, und diesmal blieb er der
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