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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Kün
Kräfte, Vollkommenheit des Geistes und Liebens-
würdigkeit des Herzens, sind der todten Materie
selbst eingepräget. (*)

Aber auch dieses müssen wir nicht übersehen, daß
die Natur dem, was unmittelbar schädlich ist, eine
widrige zurücktreibende Kraft mitgetheilet hat.
Die den Geist erdrükende Dummheit, eine ver-
kehrte Sinnesart und Bosheit des Herzens, hat
sie mit eben so eindringenden, aber Ekel oder Abscheu
erwekenden Zügen, auf das menschliche Gesicht ge-
legt, als die Güte der Seele. Also greift sie un-
ser Herz durch die äussern Sinne auf eine doppelte
Weise an; sie reizet uns zum Guten und schrekt
uns von Bösen ab.

Dieses Verfahren der Natur läßt uns über den
Charakter und die Anwendung der schönen Künste,
keinen Zweifel übrig. Jndem der Mensch mensch-
liche Erfindungen verschönert, muß er das thun,
was die Natur durch Verschönerung ihrer Werke
thut.

Die allgemeine Bestrebung der schönen Kunst
muß also dahin abzielen, alle Werke der Menschen
in eben der Absicht zu verschönern, in welcher die
Natur die Werke der Schöpfung verschönert hat.
Sie muß der Natur zu Hülfe kommen, um alles,
was wir zu unsern Bedürfnissen selbst erfunden ha-
ben, um uns her zu verschönern. Jhr kommt es
zu, unsre Wohnungen, unsre Gärten, unsre Ge-
räthschaften, besonders unsre Sprache, die wichtigste
aller Erfindungen, mit Anmuth zu bekleiden, so
wie die Natur allem, was sie für uns gemacht
hat, sie eingepräget hat. Nicht blos darum, wie
man sich vielfältig fälschlich einbildet, daß wir den
kleinen Genuß einer grössern Annehmlichkeit davon
haben, sondern daß durch die sanften Eindrüke des
Schönen, des Wohlgereimten und Schiklichen unser
Geist und Herz eine edlere Wendung bekommen.

Noch wichtiger aber ist es, daß die schönen Künste
auch nach dem Beyspiele der Natur die wesentlich-
sten Güter, von denen die Glükseeligkeit unmittelbar
abhängt, in vollem Reize der Schönheit darstellen,
um uns eine unüberwindliche Liebe dafür einzuflös-
sen. Cicero scheinet irgendwo (*) den Wunsch zu
äussern, daß er seinem Sohne das Bild der Tugend
in sichtbarer Gestalt darstellen könnte, weil dieser
alsdann sich mit unglaublicher Leidenschaft in sie
verlieben würde. Diesen wichtigen Dienst können
in der That die schönen Künste uns leisten. Wahr-
[Spaltenumbruch]

Kün
heit und Tugend, die unentbehrlichsten Güter der
Menschen, sind der wichtigste Stoff, dem sie ihre
Zauberkraft in vollem Maaße einzuflössen haben.

Auch darin müssen sie ihrer großen Lehrmeisterin
nachfolgen, daß sie allem, was schädlich ist, eine
Gestalt geben, die lebhaften Abscheu erwekt. Bos-
heit, Laster, und alles, was dem sittlichen Menschen
verderblich ist, muß durch Bearbeitung der Künste
eine sinnliche Form bekommen, die unsre Aufmerk-
samkeit reizt, aber so, daß wir es recht in die Au-
gen fassen, um einen immerwährenden Abscheu da-
vor zu bekommen. Dieses unvergleichliche Kunst-
stük hat die Natur zu machen gewußt. Wer kann
sich enthalten, Menschen von recht verworfener
Physionomie, mit eben der neugierigen Aufmerk-
samkeit zu betrachten, die wir für Schönheit selbst
haben? Die Lehrerinn der Künstler wollte, daß
wir von dem Bösen das Auge nicht eher abwenden
sollten, als bis es den vollen Eindruk des Abscheues
erregt hätte.

Jn diesen Anmerkungen liegt alles, was sich
von dem Wesen, dem Zwek und der Anwendung
der schönen Künste sagen läßt. Jhr Wesen besteht
darinn, daß sie den Gegenständen unsrer Vorstellung
sinnliche Kraft einprägen; ihr Zwel ist lebhafte
Rührung der Gemüther, und in ihrer Anwendung
haben sie die Erhöhung des Geistes und Herzens
zum Augenmerke. Jeder dieser drey Punkte ver-
dient näher bestimmt und erwogen zu werden.

Daß das Wesen der schönen Künste in Einprä-
gung sinnlicher Kraft bestehe, zeiget sich in jedem
Werke der Kunst, das diesen Namen verdienet.
Wodurch wird eine Rede zum Gedichte, oder der
Gang eines Menschen zum Tanze? Wenn verdienet
eine Abbildung den Namen des Gemähldes? Das
anhaltende Klingen eines Jnstrumentes den Namen
eines Tonstüks? Und wie wird ein Haus zu dem
Werke der Baukunst? Jedes dieser Dinge wird
alsdann von den schönen Künsten als ihr Werk an-
gesehen, wenn es durch die Bearbeitung des Künst-
lers unsre Vorstellungskraft mit sinnlichem Reize
an sich loket. Der Geschichtschreiber erzählt eine
geschehene Sache nach der Wahrheit, wie sie sich
zugetragen hat; der Dichter aber so, wie er glau-
bet, daß sie nach seinen Absichten uns am lebhafte-
sten rühre. Der gemeine Zeichner stellt uns einen
sichtbaren Gegenstand in der völligen Richtigkeit vor
Angen; der Mahler aber so, wie es unsre äussern

und
(*) S.
Schönheit.
(*) De
Officiis
Lib. I.
H h h h 2

[Spaltenumbruch]

Kuͤn
Kraͤfte, Vollkommenheit des Geiſtes und Liebens-
wuͤrdigkeit des Herzens, ſind der todten Materie
ſelbſt eingepraͤget. (*)

Aber auch dieſes muͤſſen wir nicht uͤberſehen, daß
die Natur dem, was unmittelbar ſchaͤdlich iſt, eine
widrige zuruͤcktreibende Kraft mitgetheilet hat.
Die den Geiſt erdruͤkende Dummheit, eine ver-
kehrte Sinnesart und Bosheit des Herzens, hat
ſie mit eben ſo eindringenden, aber Ekel oder Abſcheu
erwekenden Zuͤgen, auf das menſchliche Geſicht ge-
legt, als die Guͤte der Seele. Alſo greift ſie un-
ſer Herz durch die aͤuſſern Sinne auf eine doppelte
Weiſe an; ſie reizet uns zum Guten und ſchrekt
uns von Boͤſen ab.

Dieſes Verfahren der Natur laͤßt uns uͤber den
Charakter und die Anwendung der ſchoͤnen Kuͤnſte,
keinen Zweifel uͤbrig. Jndem der Menſch menſch-
liche Erfindungen verſchoͤnert, muß er das thun,
was die Natur durch Verſchoͤnerung ihrer Werke
thut.

Die allgemeine Beſtrebung der ſchoͤnen Kunſt
muß alſo dahin abzielen, alle Werke der Menſchen
in eben der Abſicht zu verſchoͤnern, in welcher die
Natur die Werke der Schoͤpfung verſchoͤnert hat.
Sie muß der Natur zu Huͤlfe kommen, um alles,
was wir zu unſern Beduͤrfniſſen ſelbſt erfunden ha-
ben, um uns her zu verſchoͤnern. Jhr kommt es
zu, unſre Wohnungen, unſre Gaͤrten, unſre Ge-
raͤthſchaften, beſonders unſre Sprache, die wichtigſte
aller Erfindungen, mit Anmuth zu bekleiden, ſo
wie die Natur allem, was ſie fuͤr uns gemacht
hat, ſie eingepraͤget hat. Nicht blos darum, wie
man ſich vielfaͤltig faͤlſchlich einbildet, daß wir den
kleinen Genuß einer groͤſſern Annehmlichkeit davon
haben, ſondern daß durch die ſanften Eindruͤke des
Schoͤnen, des Wohlgereimten und Schiklichen unſer
Geiſt und Herz eine edlere Wendung bekommen.

Noch wichtiger aber iſt es, daß die ſchoͤnen Kuͤnſte
auch nach dem Beyſpiele der Natur die weſentlich-
ſten Guͤter, von denen die Gluͤkſeeligkeit unmittelbar
abhaͤngt, in vollem Reize der Schoͤnheit darſtellen,
um uns eine unuͤberwindliche Liebe dafuͤr einzufloͤſ-
ſen. Cicero ſcheinet irgendwo (*) den Wunſch zu
aͤuſſern, daß er ſeinem Sohne das Bild der Tugend
in ſichtbarer Geſtalt darſtellen koͤnnte, weil dieſer
alsdann ſich mit unglaublicher Leidenſchaft in ſie
verlieben wuͤrde. Dieſen wichtigen Dienſt koͤnnen
in der That die ſchoͤnen Kuͤnſte uns leiſten. Wahr-
[Spaltenumbruch]

Kuͤn
heit und Tugend, die unentbehrlichſten Guͤter der
Menſchen, ſind der wichtigſte Stoff, dem ſie ihre
Zauberkraft in vollem Maaße einzufloͤſſen haben.

Auch darin muͤſſen ſie ihrer großen Lehrmeiſterin
nachfolgen, daß ſie allem, was ſchaͤdlich iſt, eine
Geſtalt geben, die lebhaften Abſcheu erwekt. Bos-
heit, Laſter, und alles, was dem ſittlichen Menſchen
verderblich iſt, muß durch Bearbeitung der Kuͤnſte
eine ſinnliche Form bekommen, die unſre Aufmerk-
ſamkeit reizt, aber ſo, daß wir es recht in die Au-
gen faſſen, um einen immerwaͤhrenden Abſcheu da-
vor zu bekommen. Dieſes unvergleichliche Kunſt-
ſtuͤk hat die Natur zu machen gewußt. Wer kann
ſich enthalten, Menſchen von recht verworfener
Phyſionomie, mit eben der neugierigen Aufmerk-
ſamkeit zu betrachten, die wir fuͤr Schoͤnheit ſelbſt
haben? Die Lehrerinn der Kuͤnſtler wollte, daß
wir von dem Boͤſen das Auge nicht eher abwenden
ſollten, als bis es den vollen Eindruk des Abſcheues
erregt haͤtte.

Jn dieſen Anmerkungen liegt alles, was ſich
von dem Weſen, dem Zwek und der Anwendung
der ſchoͤnen Kuͤnſte ſagen laͤßt. Jhr Weſen beſteht
darinn, daß ſie den Gegenſtaͤnden unſrer Vorſtellung
ſinnliche Kraft einpraͤgen; ihr Zwel iſt lebhafte
Ruͤhrung der Gemuͤther, und in ihrer Anwendung
haben ſie die Erhoͤhung des Geiſtes und Herzens
zum Augenmerke. Jeder dieſer drey Punkte ver-
dient naͤher beſtimmt und erwogen zu werden.

Daß das Weſen der ſchoͤnen Kuͤnſte in Einpraͤ-
gung ſinnlicher Kraft beſtehe, zeiget ſich in jedem
Werke der Kunſt, das dieſen Namen verdienet.
Wodurch wird eine Rede zum Gedichte, oder der
Gang eines Menſchen zum Tanze? Wenn verdienet
eine Abbildung den Namen des Gemaͤhldes? Das
anhaltende Klingen eines Jnſtrumentes den Namen
eines Tonſtuͤks? Und wie wird ein Haus zu dem
Werke der Baukunſt? Jedes dieſer Dinge wird
alsdann von den ſchoͤnen Kuͤnſten als ihr Werk an-
geſehen, wenn es durch die Bearbeitung des Kuͤnſt-
lers unſre Vorſtellungskraft mit ſinnlichem Reize
an ſich loket. Der Geſchichtſchreiber erzaͤhlt eine
geſchehene Sache nach der Wahrheit, wie ſie ſich
zugetragen hat; der Dichter aber ſo, wie er glau-
bet, daß ſie nach ſeinen Abſichten uns am lebhafte-
ſten ruͤhre. Der gemeine Zeichner ſtellt uns einen
ſichtbaren Gegenſtand in der voͤlligen Richtigkeit vor
Angen; der Mahler aber ſo, wie es unſre aͤuſſern

und
(*) S.
Schoͤnheit.
(*) De
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[611/0046] Kuͤn Kuͤn Kraͤfte, Vollkommenheit des Geiſtes und Liebens- wuͤrdigkeit des Herzens, ſind der todten Materie ſelbſt eingepraͤget. (*) Aber auch dieſes muͤſſen wir nicht uͤberſehen, daß die Natur dem, was unmittelbar ſchaͤdlich iſt, eine widrige zuruͤcktreibende Kraft mitgetheilet hat. Die den Geiſt erdruͤkende Dummheit, eine ver- kehrte Sinnesart und Bosheit des Herzens, hat ſie mit eben ſo eindringenden, aber Ekel oder Abſcheu erwekenden Zuͤgen, auf das menſchliche Geſicht ge- legt, als die Guͤte der Seele. Alſo greift ſie un- ſer Herz durch die aͤuſſern Sinne auf eine doppelte Weiſe an; ſie reizet uns zum Guten und ſchrekt uns von Boͤſen ab. Dieſes Verfahren der Natur laͤßt uns uͤber den Charakter und die Anwendung der ſchoͤnen Kuͤnſte, keinen Zweifel uͤbrig. Jndem der Menſch menſch- liche Erfindungen verſchoͤnert, muß er das thun, was die Natur durch Verſchoͤnerung ihrer Werke thut. Die allgemeine Beſtrebung der ſchoͤnen Kunſt muß alſo dahin abzielen, alle Werke der Menſchen in eben der Abſicht zu verſchoͤnern, in welcher die Natur die Werke der Schoͤpfung verſchoͤnert hat. Sie muß der Natur zu Huͤlfe kommen, um alles, was wir zu unſern Beduͤrfniſſen ſelbſt erfunden ha- ben, um uns her zu verſchoͤnern. Jhr kommt es zu, unſre Wohnungen, unſre Gaͤrten, unſre Ge- raͤthſchaften, beſonders unſre Sprache, die wichtigſte aller Erfindungen, mit Anmuth zu bekleiden, ſo wie die Natur allem, was ſie fuͤr uns gemacht hat, ſie eingepraͤget hat. Nicht blos darum, wie man ſich vielfaͤltig faͤlſchlich einbildet, daß wir den kleinen Genuß einer groͤſſern Annehmlichkeit davon haben, ſondern daß durch die ſanften Eindruͤke des Schoͤnen, des Wohlgereimten und Schiklichen unſer Geiſt und Herz eine edlere Wendung bekommen. Noch wichtiger aber iſt es, daß die ſchoͤnen Kuͤnſte auch nach dem Beyſpiele der Natur die weſentlich- ſten Guͤter, von denen die Gluͤkſeeligkeit unmittelbar abhaͤngt, in vollem Reize der Schoͤnheit darſtellen, um uns eine unuͤberwindliche Liebe dafuͤr einzufloͤſ- ſen. Cicero ſcheinet irgendwo (*) den Wunſch zu aͤuſſern, daß er ſeinem Sohne das Bild der Tugend in ſichtbarer Geſtalt darſtellen koͤnnte, weil dieſer alsdann ſich mit unglaublicher Leidenſchaft in ſie verlieben wuͤrde. Dieſen wichtigen Dienſt koͤnnen in der That die ſchoͤnen Kuͤnſte uns leiſten. Wahr- heit und Tugend, die unentbehrlichſten Guͤter der Menſchen, ſind der wichtigſte Stoff, dem ſie ihre Zauberkraft in vollem Maaße einzufloͤſſen haben. Auch darin muͤſſen ſie ihrer großen Lehrmeiſterin nachfolgen, daß ſie allem, was ſchaͤdlich iſt, eine Geſtalt geben, die lebhaften Abſcheu erwekt. Bos- heit, Laſter, und alles, was dem ſittlichen Menſchen verderblich iſt, muß durch Bearbeitung der Kuͤnſte eine ſinnliche Form bekommen, die unſre Aufmerk- ſamkeit reizt, aber ſo, daß wir es recht in die Au- gen faſſen, um einen immerwaͤhrenden Abſcheu da- vor zu bekommen. Dieſes unvergleichliche Kunſt- ſtuͤk hat die Natur zu machen gewußt. Wer kann ſich enthalten, Menſchen von recht verworfener Phyſionomie, mit eben der neugierigen Aufmerk- ſamkeit zu betrachten, die wir fuͤr Schoͤnheit ſelbſt haben? Die Lehrerinn der Kuͤnſtler wollte, daß wir von dem Boͤſen das Auge nicht eher abwenden ſollten, als bis es den vollen Eindruk des Abſcheues erregt haͤtte. Jn dieſen Anmerkungen liegt alles, was ſich von dem Weſen, dem Zwek und der Anwendung der ſchoͤnen Kuͤnſte ſagen laͤßt. Jhr Weſen beſteht darinn, daß ſie den Gegenſtaͤnden unſrer Vorſtellung ſinnliche Kraft einpraͤgen; ihr Zwel iſt lebhafte Ruͤhrung der Gemuͤther, und in ihrer Anwendung haben ſie die Erhoͤhung des Geiſtes und Herzens zum Augenmerke. Jeder dieſer drey Punkte ver- dient naͤher beſtimmt und erwogen zu werden. Daß das Weſen der ſchoͤnen Kuͤnſte in Einpraͤ- gung ſinnlicher Kraft beſtehe, zeiget ſich in jedem Werke der Kunſt, das dieſen Namen verdienet. Wodurch wird eine Rede zum Gedichte, oder der Gang eines Menſchen zum Tanze? Wenn verdienet eine Abbildung den Namen des Gemaͤhldes? Das anhaltende Klingen eines Jnſtrumentes den Namen eines Tonſtuͤks? Und wie wird ein Haus zu dem Werke der Baukunſt? Jedes dieſer Dinge wird alsdann von den ſchoͤnen Kuͤnſten als ihr Werk an- geſehen, wenn es durch die Bearbeitung des Kuͤnſt- lers unſre Vorſtellungskraft mit ſinnlichem Reize an ſich loket. Der Geſchichtſchreiber erzaͤhlt eine geſchehene Sache nach der Wahrheit, wie ſie ſich zugetragen hat; der Dichter aber ſo, wie er glau- bet, daß ſie nach ſeinen Abſichten uns am lebhafte- ſten ruͤhre. Der gemeine Zeichner ſtellt uns einen ſichtbaren Gegenſtand in der voͤlligen Richtigkeit vor Angen; der Mahler aber ſo, wie es unſre aͤuſſern und (*) S. Schoͤnheit. (*) De Officiis Lib. I. H h h h 2

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 611. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/46>, abgerufen am 26.04.2024.