Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

Bild:
<< vorherige Seite
[Spaltenumbruch]
Wah

Wahrheit auch ohne Rüksicht auf ihre Brauch-
barkeit in so fern sie Vollkommenheit der Schilde-
rung oder Vorstellung ist, gehört zum ästhetischen
Stoff; weil sie Vergnügen würkt. Ein an sich
gleichgültiger in der Natur vorhandener Gegenstand,
den ein Mahler nach der völligen Wahrheit ge-
schildert hat, macht allemal Vergnügen; und es
ist um so viel größer, je schweerer es ist die Wahr-
heit der Schildrung zu erreichen; weil dazu mehr
Talent, mehr Vollkommenheit im Künstler erfodert
wird. Wenn es also Vergnügen macht eine Land-
schaft in der völligen Wahrheit der Natur von dem
Mahler geschildert zu sehen, und wenn das Ver-
gnügen noch größer ist, einen lebenden Menschen,
nicht blos in seiner äußern Gestalt, sondern nach
seinem Charakter, und mit seinen Gedanken im
Gemählde zu erbliken, so muß das größte Ver-
gnügen daraus entstehen, wenn die redenden Künste
schweere, sehr verwikelte Begriffe, und schweer zu
entdekende Wahrheiten, leicht und einleuchtend dar-
stellen; denn dazu scheinen die größten und wichtig-
sten Talente erfodert zu werden. Wenn wir gewisse
sehr verwikelte Gegenstände der sittlichen Welt
lange mit Aufmerksamkeit und Nachforschen be-
trachtet und untersucht haben, ohne ihre wahre Be-
schaffenheit erkannt zu haben, oder ohne daß es uns
geglükt hat, unser Urtheil darüber auf eine befrie-
digende Weise festzusezen; so macht es uns ein
ausnehmendes Vergnügen, wenn ein tiefer denken-
der und glüklicher forschender Kopf uns auf einmal
den Gegenstand in einem hellen und faßlichen Lichte
zeiget. Kein Künstler hat es so wie der Redner
und Dichter in seiner Gewalt uns durch Entdekung
oder Vortrag der Wahrheit, mit Lust und Vergnü-
gen zu durchdringen.

Mich dünkt, daß man den Dichtern, die uns
abstrakte oder speculative Wahrheiten, deren Entde-
kung selbst dem Philosophen die größte Mühe macht,
sehr einleuchtend vortragen, zu wenig Recht wieder-
fahren läßt. Nach meinen Begriffen ist Pope in
seinem Versuch vom Menschen kein geringerer Dich-
ter, als Homer in seinen mit Recht bewunderten
Schilderungen der Menschen und der Sitten. Man
muß bedenken, was für erstaunliche Schwierigkeit
es hat, Wahrheiten von der Art, wie die tiefen
philosophischen Speculationen über die sittliche Be-
schaffenheit der Welt sind, sich einfach, hell und
höchst faßlich vorzustellen. Wir treffen ofte bey
[Spaltenumbruch]

Wah
Pope, Haller, Juvenal, Horaz und andern Dich-
tern kurze Denksprüche, Lehren und Bilder an, die
uns eine Menge Gedanken, die wir lange sehr un-
bestimmt, verworren, dunkel und schwankend ge-
faßt hatten, in einem überaus hellen Licht und in
der höchsten Einfalt darstellen, und die wir für
bewundrungswürdige Schilderungen der Wahrheit
halten müssen. Daß sie als ästhetische Gegenstände
weniger geschäzt werden, als poetische Schilderun-
gen sichtbarer Gegenstände, kommt blos daher, daß
weniger Menschen im Stande sind, ihre Wahrheit
einzusehen, als die Wahrheit dieser andern Schilde-
derungen bekannterer Gegenstände.

Wahrscheinlichkeit.
(Schöne Künste.)

Das Wahre ist für die Vorstellungskraft, was das
Gute für die Begehrungskraft ist. Wie wir nichts
begehren können, als in so fern wir es für gut hal-
ten, so können wir auch in die Masse unsrer Vor-
stellungen nichts aufnehmen, als was wahr schei-
net. Darum ist Wahrscheinlichkeit in dem, was
die Werke der Kunst uns vorstellen, eine wesentliche
Eigenschaft. Es ist nicht genug, daß das, was
der Künstler uns sagt, oder vorstellt, wahr, oder in
der Natur vorhanden sey, wir müssen es auch für et-
was würkliches, oder mögliches, oder glaubwürdi-
ges halten; denn sonst wenden wir gleich die Aufmerk-
samkeit davon ab, als von einem Gegenstand, den
wir weder fassen, noch für würklich halten können.

Darum soll die erste Sorge des Künstlers darauf
gerichtet seyn, daß der Gegenstand, den er uns
vorzeichnet, wahrscheinlich sey, daß wir ihn für
etwas gedenkbares, oder würkliches halten. Diese
Wahrscheinlichkeit ist im Grunde nichts anders,
als die Möglichkeit, oder Gedenkbarkeit der Sache.
Es kann dem Künstler gleichgültig seyn, ob der
Gegenstand, den er schildert, in der Natur würklich
vorhanden sey, oder nicht; ob das, was er erzählt
würklich geschehen sey, oder nicht. Es ist nicht seine
Absicht uns von dem, was vorhanden, oder ge-
schehen ist, zu unterrichten; sondern die Vorstel-
lungskraft, oder die Empfindung lebhaft zu rühren.
Jst das, was er uns vorstellt, nur gedenkbar, nur
möglich, so kann er unbekümmert seyn, ob es auch
in der Natur irgendwo vorhanden sey. Ein paar
Beyspiehle werden hinlänglich seyn, uns eines mü-
hesamen Beweises, daß in den Künsten, das Mög-

liche,
S s s s s s s 3
[Spaltenumbruch]
Wah

Wahrheit auch ohne Ruͤkſicht auf ihre Brauch-
barkeit in ſo fern ſie Vollkommenheit der Schilde-
rung oder Vorſtellung iſt, gehoͤrt zum aͤſthetiſchen
Stoff; weil ſie Vergnuͤgen wuͤrkt. Ein an ſich
gleichguͤltiger in der Natur vorhandener Gegenſtand,
den ein Mahler nach der voͤlligen Wahrheit ge-
ſchildert hat, macht allemal Vergnuͤgen; und es
iſt um ſo viel groͤßer, je ſchweerer es iſt die Wahr-
heit der Schildrung zu erreichen; weil dazu mehr
Talent, mehr Vollkommenheit im Kuͤnſtler erfodert
wird. Wenn es alſo Vergnuͤgen macht eine Land-
ſchaft in der voͤlligen Wahrheit der Natur von dem
Mahler geſchildert zu ſehen, und wenn das Ver-
gnuͤgen noch groͤßer iſt, einen lebenden Menſchen,
nicht blos in ſeiner aͤußern Geſtalt, ſondern nach
ſeinem Charakter, und mit ſeinen Gedanken im
Gemaͤhlde zu erbliken, ſo muß das groͤßte Ver-
gnuͤgen daraus entſtehen, wenn die redenden Kuͤnſte
ſchweere, ſehr verwikelte Begriffe, und ſchweer zu
entdekende Wahrheiten, leicht und einleuchtend dar-
ſtellen; denn dazu ſcheinen die groͤßten und wichtig-
ſten Talente erfodert zu werden. Wenn wir gewiſſe
ſehr verwikelte Gegenſtaͤnde der ſittlichen Welt
lange mit Aufmerkſamkeit und Nachforſchen be-
trachtet und unterſucht haben, ohne ihre wahre Be-
ſchaffenheit erkannt zu haben, oder ohne daß es uns
gegluͤkt hat, unſer Urtheil daruͤber auf eine befrie-
digende Weiſe feſtzuſezen; ſo macht es uns ein
ausnehmendes Vergnuͤgen, wenn ein tiefer denken-
der und gluͤklicher forſchender Kopf uns auf einmal
den Gegenſtand in einem hellen und faßlichen Lichte
zeiget. Kein Kuͤnſtler hat es ſo wie der Redner
und Dichter in ſeiner Gewalt uns durch Entdekung
oder Vortrag der Wahrheit, mit Luſt und Vergnuͤ-
gen zu durchdringen.

Mich duͤnkt, daß man den Dichtern, die uns
abſtrakte oder ſpeculative Wahrheiten, deren Entde-
kung ſelbſt dem Philoſophen die groͤßte Muͤhe macht,
ſehr einleuchtend vortragen, zu wenig Recht wieder-
fahren laͤßt. Nach meinen Begriffen iſt Pope in
ſeinem Verſuch vom Menſchen kein geringerer Dich-
ter, als Homer in ſeinen mit Recht bewunderten
Schilderungen der Menſchen und der Sitten. Man
muß bedenken, was fuͤr erſtaunliche Schwierigkeit
es hat, Wahrheiten von der Art, wie die tiefen
philoſophiſchen Speculationen uͤber die ſittliche Be-
ſchaffenheit der Welt ſind, ſich einfach, hell und
hoͤchſt faßlich vorzuſtellen. Wir treffen ofte bey
[Spaltenumbruch]

Wah
Pope, Haller, Juvenal, Horaz und andern Dich-
tern kurze Denkſpruͤche, Lehren und Bilder an, die
uns eine Menge Gedanken, die wir lange ſehr un-
beſtimmt, verworren, dunkel und ſchwankend ge-
faßt hatten, in einem uͤberaus hellen Licht und in
der hoͤchſten Einfalt darſtellen, und die wir fuͤr
bewundrungswuͤrdige Schilderungen der Wahrheit
halten muͤſſen. Daß ſie als aͤſthetiſche Gegenſtaͤnde
weniger geſchaͤzt werden, als poetiſche Schilderun-
gen ſichtbarer Gegenſtaͤnde, kommt blos daher, daß
weniger Menſchen im Stande ſind, ihre Wahrheit
einzuſehen, als die Wahrheit dieſer andern Schilde-
derungen bekannterer Gegenſtaͤnde.

Wahrſcheinlichkeit.
(Schoͤne Kuͤnſte.)

Das Wahre iſt fuͤr die Vorſtellungskraft, was das
Gute fuͤr die Begehrungskraft iſt. Wie wir nichts
begehren koͤnnen, als in ſo fern wir es fuͤr gut hal-
ten, ſo koͤnnen wir auch in die Maſſe unſrer Vor-
ſtellungen nichts aufnehmen, als was wahr ſchei-
net. Darum iſt Wahrſcheinlichkeit in dem, was
die Werke der Kunſt uns vorſtellen, eine weſentliche
Eigenſchaft. Es iſt nicht genug, daß das, was
der Kuͤnſtler uns ſagt, oder vorſtellt, wahr, oder in
der Natur vorhanden ſey, wir muͤſſen es auch fuͤr et-
was wuͤrkliches, oder moͤgliches, oder glaubwuͤrdi-
ges halten; denn ſonſt wenden wir gleich die Aufmerk-
ſamkeit davon ab, als von einem Gegenſtand, den
wir weder faſſen, noch fuͤr wuͤrklich halten koͤnnen.

Darum ſoll die erſte Sorge des Kuͤnſtlers darauf
gerichtet ſeyn, daß der Gegenſtand, den er uns
vorzeichnet, wahrſcheinlich ſey, daß wir ihn fuͤr
etwas gedenkbares, oder wuͤrkliches halten. Dieſe
Wahrſcheinlichkeit iſt im Grunde nichts anders,
als die Moͤglichkeit, oder Gedenkbarkeit der Sache.
Es kann dem Kuͤnſtler gleichguͤltig ſeyn, ob der
Gegenſtand, den er ſchildert, in der Natur wuͤrklich
vorhanden ſey, oder nicht; ob das, was er erzaͤhlt
wuͤrklich geſchehen ſey, oder nicht. Es iſt nicht ſeine
Abſicht uns von dem, was vorhanden, oder ge-
ſchehen iſt, zu unterrichten; ſondern die Vorſtel-
lungskraft, oder die Empfindung lebhaft zu ruͤhren.
Jſt das, was er uns vorſtellt, nur gedenkbar, nur
moͤglich, ſo kann er unbekuͤmmert ſeyn, ob es auch
in der Natur irgendwo vorhanden ſey. Ein paar
Beyſpiehle werden hinlaͤnglich ſeyn, uns eines muͤ-
heſamen Beweiſes, daß in den Kuͤnſten, das Moͤg-

liche,
S ſ ſ ſ ſ ſ ſ 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0692" n="1263[1245]"/>
          <cb/>
          <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#g">Wah</hi> </fw><lb/>
          <p>Wahrheit auch ohne Ru&#x0364;k&#x017F;icht auf ihre Brauch-<lb/>
barkeit in &#x017F;o fern &#x017F;ie Vollkommenheit der Schilde-<lb/>
rung oder Vor&#x017F;tellung i&#x017F;t, geho&#x0364;rt zum a&#x0364;&#x017F;theti&#x017F;chen<lb/>
Stoff; weil &#x017F;ie Vergnu&#x0364;gen wu&#x0364;rkt. Ein an &#x017F;ich<lb/>
gleichgu&#x0364;ltiger in der Natur vorhandener Gegen&#x017F;tand,<lb/>
den ein Mahler nach der vo&#x0364;lligen Wahrheit ge-<lb/>
&#x017F;childert hat, macht allemal Vergnu&#x0364;gen; und es<lb/>
i&#x017F;t um &#x017F;o viel gro&#x0364;ßer, je &#x017F;chweerer es i&#x017F;t die Wahr-<lb/>
heit der Schildrung zu erreichen; weil dazu mehr<lb/>
Talent, mehr Vollkommenheit im Ku&#x0364;n&#x017F;tler erfodert<lb/>
wird. Wenn es al&#x017F;o Vergnu&#x0364;gen macht eine Land-<lb/>
&#x017F;chaft in der vo&#x0364;lligen Wahrheit der Natur von dem<lb/>
Mahler ge&#x017F;childert zu &#x017F;ehen, und wenn das Ver-<lb/>
gnu&#x0364;gen noch gro&#x0364;ßer i&#x017F;t, einen lebenden Men&#x017F;chen,<lb/>
nicht blos in &#x017F;einer a&#x0364;ußern Ge&#x017F;talt, &#x017F;ondern nach<lb/>
&#x017F;einem Charakter, und mit &#x017F;einen Gedanken im<lb/>
Gema&#x0364;hlde zu erbliken, &#x017F;o muß das gro&#x0364;ßte Ver-<lb/>
gnu&#x0364;gen daraus ent&#x017F;tehen, wenn die redenden Ku&#x0364;n&#x017F;te<lb/>
&#x017F;chweere, &#x017F;ehr verwikelte Begriffe, und &#x017F;chweer zu<lb/>
entdekende Wahrheiten, leicht und einleuchtend dar-<lb/>
&#x017F;tellen; denn dazu &#x017F;cheinen die gro&#x0364;ßten und wichtig-<lb/>
&#x017F;ten Talente erfodert zu werden. Wenn wir gewi&#x017F;&#x017F;e<lb/>
&#x017F;ehr verwikelte Gegen&#x017F;ta&#x0364;nde der &#x017F;ittlichen Welt<lb/>
lange mit Aufmerk&#x017F;amkeit und Nachfor&#x017F;chen be-<lb/>
trachtet und unter&#x017F;ucht haben, ohne ihre wahre Be-<lb/>
&#x017F;chaffenheit erkannt zu haben, oder ohne daß es uns<lb/>
geglu&#x0364;kt hat, un&#x017F;er Urtheil daru&#x0364;ber auf eine befrie-<lb/>
digende Wei&#x017F;e fe&#x017F;tzu&#x017F;ezen; &#x017F;o macht es uns ein<lb/>
ausnehmendes Vergnu&#x0364;gen, wenn ein tiefer denken-<lb/>
der und glu&#x0364;klicher for&#x017F;chender Kopf uns auf einmal<lb/>
den Gegen&#x017F;tand in einem hellen und faßlichen Lichte<lb/>
zeiget. Kein Ku&#x0364;n&#x017F;tler hat es &#x017F;o wie der Redner<lb/>
und Dichter in &#x017F;einer Gewalt uns durch Entdekung<lb/>
oder Vortrag der Wahrheit, mit Lu&#x017F;t und Vergnu&#x0364;-<lb/>
gen zu durchdringen.</p><lb/>
          <p>Mich du&#x0364;nkt, daß man den Dichtern, die uns<lb/>
ab&#x017F;trakte oder &#x017F;peculative Wahrheiten, deren Entde-<lb/>
kung &#x017F;elb&#x017F;t dem Philo&#x017F;ophen die gro&#x0364;ßte Mu&#x0364;he macht,<lb/>
&#x017F;ehr einleuchtend vortragen, zu wenig Recht wieder-<lb/>
fahren la&#x0364;ßt. Nach meinen Begriffen i&#x017F;t Pope in<lb/>
&#x017F;einem Ver&#x017F;uch vom Men&#x017F;chen kein geringerer Dich-<lb/>
ter, als Homer in &#x017F;einen mit Recht bewunderten<lb/>
Schilderungen der Men&#x017F;chen und der Sitten. Man<lb/>
muß bedenken, was fu&#x0364;r er&#x017F;taunliche Schwierigkeit<lb/>
es hat, Wahrheiten von der Art, wie die tiefen<lb/>
philo&#x017F;ophi&#x017F;chen Speculationen u&#x0364;ber die &#x017F;ittliche Be-<lb/>
&#x017F;chaffenheit der Welt &#x017F;ind, &#x017F;ich einfach, hell und<lb/>
ho&#x0364;ch&#x017F;t faßlich vorzu&#x017F;tellen. Wir treffen ofte bey<lb/><cb/>
<fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Wah</hi></fw><lb/>
Pope, Haller, Juvenal, Horaz und andern Dich-<lb/>
tern kurze Denk&#x017F;pru&#x0364;che, Lehren und Bilder an, die<lb/>
uns eine Menge Gedanken, die wir lange &#x017F;ehr un-<lb/>
be&#x017F;timmt, verworren, dunkel und &#x017F;chwankend ge-<lb/>
faßt hatten, in einem u&#x0364;beraus hellen Licht und in<lb/>
der ho&#x0364;ch&#x017F;ten Einfalt dar&#x017F;tellen, und die wir fu&#x0364;r<lb/>
bewundrungswu&#x0364;rdige Schilderungen der Wahrheit<lb/>
halten mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en. Daß &#x017F;ie als a&#x0364;&#x017F;theti&#x017F;che Gegen&#x017F;ta&#x0364;nde<lb/>
weniger ge&#x017F;cha&#x0364;zt werden, als poeti&#x017F;che Schilderun-<lb/>
gen &#x017F;ichtbarer Gegen&#x017F;ta&#x0364;nde, kommt blos daher, daß<lb/>
weniger Men&#x017F;chen im Stande &#x017F;ind, ihre Wahrheit<lb/>
einzu&#x017F;ehen, als die Wahrheit die&#x017F;er andern Schilde-<lb/>
derungen bekannterer Gegen&#x017F;ta&#x0364;nde.</p>
        </div><lb/>
        <div n="2">
          <head><hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Wahr&#x017F;cheinlichkeit</hi>.</hi><lb/>
(Scho&#x0364;ne Ku&#x0364;n&#x017F;te.)</head><lb/>
          <p><hi rendition="#in">D</hi>as Wahre i&#x017F;t fu&#x0364;r die Vor&#x017F;tellungskraft, was das<lb/>
Gute fu&#x0364;r die Begehrungskraft i&#x017F;t. Wie wir nichts<lb/>
begehren ko&#x0364;nnen, als in &#x017F;o fern wir es fu&#x0364;r gut hal-<lb/>
ten, &#x017F;o ko&#x0364;nnen wir auch in die Ma&#x017F;&#x017F;e un&#x017F;rer Vor-<lb/>
&#x017F;tellungen nichts aufnehmen, als was wahr &#x017F;chei-<lb/>
net. Darum i&#x017F;t Wahr&#x017F;cheinlichkeit in dem, was<lb/>
die Werke der Kun&#x017F;t uns vor&#x017F;tellen, eine we&#x017F;entliche<lb/>
Eigen&#x017F;chaft. Es i&#x017F;t nicht genug, daß das, was<lb/>
der Ku&#x0364;n&#x017F;tler uns &#x017F;agt, oder vor&#x017F;tellt, wahr, oder in<lb/>
der Natur vorhanden &#x017F;ey, wir mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en es auch fu&#x0364;r et-<lb/>
was wu&#x0364;rkliches, oder mo&#x0364;gliches, oder glaubwu&#x0364;rdi-<lb/>
ges halten; denn &#x017F;on&#x017F;t wenden wir gleich die Aufmerk-<lb/>
&#x017F;amkeit davon ab, als von einem Gegen&#x017F;tand, den<lb/>
wir weder fa&#x017F;&#x017F;en, noch fu&#x0364;r wu&#x0364;rklich halten ko&#x0364;nnen.</p><lb/>
          <p>Darum &#x017F;oll die er&#x017F;te Sorge des Ku&#x0364;n&#x017F;tlers darauf<lb/>
gerichtet &#x017F;eyn, daß der Gegen&#x017F;tand, den er uns<lb/>
vorzeichnet, wahr&#x017F;cheinlich &#x017F;ey, daß wir ihn fu&#x0364;r<lb/>
etwas gedenkbares, oder wu&#x0364;rkliches halten. Die&#x017F;e<lb/>
Wahr&#x017F;cheinlichkeit i&#x017F;t im Grunde nichts anders,<lb/>
als die Mo&#x0364;glichkeit, oder Gedenkbarkeit der Sache.<lb/>
Es kann dem Ku&#x0364;n&#x017F;tler gleichgu&#x0364;ltig &#x017F;eyn, ob der<lb/>
Gegen&#x017F;tand, den er &#x017F;childert, in der Natur wu&#x0364;rklich<lb/>
vorhanden &#x017F;ey, oder nicht; ob das, was er erza&#x0364;hlt<lb/>
wu&#x0364;rklich ge&#x017F;chehen &#x017F;ey, oder nicht. Es i&#x017F;t nicht &#x017F;eine<lb/>
Ab&#x017F;icht uns von dem, was vorhanden, oder ge-<lb/>
&#x017F;chehen i&#x017F;t, zu unterrichten; &#x017F;ondern die Vor&#x017F;tel-<lb/>
lungskraft, oder die Empfindung lebhaft zu ru&#x0364;hren.<lb/>
J&#x017F;t das, was er uns vor&#x017F;tellt, nur gedenkbar, nur<lb/>
mo&#x0364;glich, &#x017F;o kann er unbeku&#x0364;mmert &#x017F;eyn, ob es auch<lb/>
in der Natur irgendwo vorhanden &#x017F;ey. Ein paar<lb/>
Bey&#x017F;piehle werden hinla&#x0364;nglich &#x017F;eyn, uns eines mu&#x0364;-<lb/>
he&#x017F;amen Bewei&#x017F;es, daß in den Ku&#x0364;n&#x017F;ten, das Mo&#x0364;g-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">S &#x017F; &#x017F; &#x017F; &#x017F; &#x017F; &#x017F; 3</fw><fw place="bottom" type="catch">liche,</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[1263[1245]/0692] Wah Wah Wahrheit auch ohne Ruͤkſicht auf ihre Brauch- barkeit in ſo fern ſie Vollkommenheit der Schilde- rung oder Vorſtellung iſt, gehoͤrt zum aͤſthetiſchen Stoff; weil ſie Vergnuͤgen wuͤrkt. Ein an ſich gleichguͤltiger in der Natur vorhandener Gegenſtand, den ein Mahler nach der voͤlligen Wahrheit ge- ſchildert hat, macht allemal Vergnuͤgen; und es iſt um ſo viel groͤßer, je ſchweerer es iſt die Wahr- heit der Schildrung zu erreichen; weil dazu mehr Talent, mehr Vollkommenheit im Kuͤnſtler erfodert wird. Wenn es alſo Vergnuͤgen macht eine Land- ſchaft in der voͤlligen Wahrheit der Natur von dem Mahler geſchildert zu ſehen, und wenn das Ver- gnuͤgen noch groͤßer iſt, einen lebenden Menſchen, nicht blos in ſeiner aͤußern Geſtalt, ſondern nach ſeinem Charakter, und mit ſeinen Gedanken im Gemaͤhlde zu erbliken, ſo muß das groͤßte Ver- gnuͤgen daraus entſtehen, wenn die redenden Kuͤnſte ſchweere, ſehr verwikelte Begriffe, und ſchweer zu entdekende Wahrheiten, leicht und einleuchtend dar- ſtellen; denn dazu ſcheinen die groͤßten und wichtig- ſten Talente erfodert zu werden. Wenn wir gewiſſe ſehr verwikelte Gegenſtaͤnde der ſittlichen Welt lange mit Aufmerkſamkeit und Nachforſchen be- trachtet und unterſucht haben, ohne ihre wahre Be- ſchaffenheit erkannt zu haben, oder ohne daß es uns gegluͤkt hat, unſer Urtheil daruͤber auf eine befrie- digende Weiſe feſtzuſezen; ſo macht es uns ein ausnehmendes Vergnuͤgen, wenn ein tiefer denken- der und gluͤklicher forſchender Kopf uns auf einmal den Gegenſtand in einem hellen und faßlichen Lichte zeiget. Kein Kuͤnſtler hat es ſo wie der Redner und Dichter in ſeiner Gewalt uns durch Entdekung oder Vortrag der Wahrheit, mit Luſt und Vergnuͤ- gen zu durchdringen. Mich duͤnkt, daß man den Dichtern, die uns abſtrakte oder ſpeculative Wahrheiten, deren Entde- kung ſelbſt dem Philoſophen die groͤßte Muͤhe macht, ſehr einleuchtend vortragen, zu wenig Recht wieder- fahren laͤßt. Nach meinen Begriffen iſt Pope in ſeinem Verſuch vom Menſchen kein geringerer Dich- ter, als Homer in ſeinen mit Recht bewunderten Schilderungen der Menſchen und der Sitten. Man muß bedenken, was fuͤr erſtaunliche Schwierigkeit es hat, Wahrheiten von der Art, wie die tiefen philoſophiſchen Speculationen uͤber die ſittliche Be- ſchaffenheit der Welt ſind, ſich einfach, hell und hoͤchſt faßlich vorzuſtellen. Wir treffen ofte bey Pope, Haller, Juvenal, Horaz und andern Dich- tern kurze Denkſpruͤche, Lehren und Bilder an, die uns eine Menge Gedanken, die wir lange ſehr un- beſtimmt, verworren, dunkel und ſchwankend ge- faßt hatten, in einem uͤberaus hellen Licht und in der hoͤchſten Einfalt darſtellen, und die wir fuͤr bewundrungswuͤrdige Schilderungen der Wahrheit halten muͤſſen. Daß ſie als aͤſthetiſche Gegenſtaͤnde weniger geſchaͤzt werden, als poetiſche Schilderun- gen ſichtbarer Gegenſtaͤnde, kommt blos daher, daß weniger Menſchen im Stande ſind, ihre Wahrheit einzuſehen, als die Wahrheit dieſer andern Schilde- derungen bekannterer Gegenſtaͤnde. Wahrſcheinlichkeit. (Schoͤne Kuͤnſte.) Das Wahre iſt fuͤr die Vorſtellungskraft, was das Gute fuͤr die Begehrungskraft iſt. Wie wir nichts begehren koͤnnen, als in ſo fern wir es fuͤr gut hal- ten, ſo koͤnnen wir auch in die Maſſe unſrer Vor- ſtellungen nichts aufnehmen, als was wahr ſchei- net. Darum iſt Wahrſcheinlichkeit in dem, was die Werke der Kunſt uns vorſtellen, eine weſentliche Eigenſchaft. Es iſt nicht genug, daß das, was der Kuͤnſtler uns ſagt, oder vorſtellt, wahr, oder in der Natur vorhanden ſey, wir muͤſſen es auch fuͤr et- was wuͤrkliches, oder moͤgliches, oder glaubwuͤrdi- ges halten; denn ſonſt wenden wir gleich die Aufmerk- ſamkeit davon ab, als von einem Gegenſtand, den wir weder faſſen, noch fuͤr wuͤrklich halten koͤnnen. Darum ſoll die erſte Sorge des Kuͤnſtlers darauf gerichtet ſeyn, daß der Gegenſtand, den er uns vorzeichnet, wahrſcheinlich ſey, daß wir ihn fuͤr etwas gedenkbares, oder wuͤrkliches halten. Dieſe Wahrſcheinlichkeit iſt im Grunde nichts anders, als die Moͤglichkeit, oder Gedenkbarkeit der Sache. Es kann dem Kuͤnſtler gleichguͤltig ſeyn, ob der Gegenſtand, den er ſchildert, in der Natur wuͤrklich vorhanden ſey, oder nicht; ob das, was er erzaͤhlt wuͤrklich geſchehen ſey, oder nicht. Es iſt nicht ſeine Abſicht uns von dem, was vorhanden, oder ge- ſchehen iſt, zu unterrichten; ſondern die Vorſtel- lungskraft, oder die Empfindung lebhaft zu ruͤhren. Jſt das, was er uns vorſtellt, nur gedenkbar, nur moͤglich, ſo kann er unbekuͤmmert ſeyn, ob es auch in der Natur irgendwo vorhanden ſey. Ein paar Beyſpiehle werden hinlaͤnglich ſeyn, uns eines muͤ- heſamen Beweiſes, daß in den Kuͤnſten, das Moͤg- liche, S ſ ſ ſ ſ ſ ſ 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/692
Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 1263[1245]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/692>, abgerufen am 21.12.2024.