Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

Bild:
<< vorherige Seite

[Spaltenumbruch]

Ver
than haben. Sie legten ihren meisten Gottheiten
bestimmte Charaktere bey, deren jeder in seiner Art
das höchste war, was man etwa an Menschen beob-
achten konnte; ihre Bildhauer befließen sich in dem
Bild jeder Gottheit ihren Charakter auszudrüken,
und dieses nöthigte sie die menschliche Gestalt auf
das genaueste zu betrachten, damit sie entdeken konn-
ten, wie die Natur die vorzüglichsten Charaktere der
Menschen in der Gestalt des Körpers sichtbar ge-
macht habe. Durch dieses Studium entdekten sie,
wie die Verhältnisse seyn müßten, wenn die Ge-
stalt eine Venus, oder eine Juno nach ihrem Cha-
rakter abbilden sollte. Die Gestalt der Königin der
Götter mußte bey der weiblichen Schönheit auch
Hoheit und Ernst; das Bild der Göttin der Liebe,
alle Reizungen zur Wollust darstellen.

Wir können also nichts besseres thun, da unsre
Begriffe von menschlicher Vollkommenheit über-
haupt betrachtet, eben die sind, die die Griechen
gehabt haben, als die Verhältnisse annehmen, die
sie in der Natur durch vieles Forschen entdekt ha-
ben. Es ist ein großer Verlust für die zeichnenden
Künste, daß die Werke der Griechen, die über die
Verhältnisse geschrieben haben, verlohren gegangen.
Philostratus führt in der Vorrede zu der Beschrei-
bung seiner Bilder einige davon an. Doch ist die-
ser Verlust dadurch in etwas ersezt, daß noch ver-
schiedene schöne Werke der bildenden Künste übrig
geblieben sind, woraus man die Verhältnisse, denen
sie folgten, abmessen kann. Man hat die besten
Antiken vielfältig abgezeichnet, und nach allen Ver-
hältnissen ausgemessen. Aber zum Studium der
besten Verhältnisse fehlet es nun noch an einem
Werke, darin die Charaktere, die die Griechen in
ihren Bildern haben sichtbar machen wollen, genau
beschrieben wären. Ein in den Schriften der Alten
durchaus erfahrner Philosoph, müßte uns den Cha-
rakter des Jupiters, Mars und aller Götter, Göt-
tinnen und Helden, deren Bilder wir haben, beschrei-
ben. Diese gegen die vorzüglichsten Bilder gehalten,
würden uns ziemlich bestimmt sehen lassen, durch was
für Verhältnisse jeder Charakter am sichtbarsten aus-
gedrükt wird.

Es wäre eine geringe Mühe diesen Artikel mit
verschiedenen Tabellen von würklich ausgemessenen
Verhältnissen der Theile des menschlichen Körpers
zu verlängern; wir halten es aber dem Zwek dieses
Werks nicht gemäß, uns in diese Weitläuftigkeiten
[Spaltenumbruch]

Ver
einzulassen, zumal, da der deutsche Künstler in
des Hrn. von Hagedorn Betrachtungen über die
Mahlerey, das meiste, was hier anzuführen wäre,
bereits finden kann.

Verhältnisse.
(Baukunst.)

Mit den Verhältnissen in der Baukunst hat es eine
ähnliche Bewandniß, als mit denen im menschli-
chen Körper. Da man einmal vollkommene Muster
vor sich hat, so müssen die Verhältnisse derselben,
als erwiesene Regeln angenommen werden. Sie
sind zwar nicht so bestimmt, daß man nicht vielfäl-
tig, ohne den guten Geschmak zu beleidigen davon
abweichen könnte, und würklich abgewichen wäre.
Da aber zu befürchten ist, daß dergleichen Abwei-
chungen nach und nach zu großen Ausschweifungen
Gelegenheit geben möchten, so scheinet die Erhal-
tung des guten Geschmaks zu erfodern, daß die ge-
naue Beobachtung der von den besten Baumeistern
gebrauchten Verhältnisse, als ein unveränderliches
Gesez angenemmen werde. Denn wo man einmal
die Regeln aus den Augen sezet, da wird dem schlech-
ten Geschmak die Freyheit gelassen, nach und nach
das Schöne zu vertreiben, wie aus unzähligen Bey-
spielen in der Baukunst kann dargethan werden.

Was ein alter Philosoph (*) bey einer andern
Gelegenheit angemerkt hat, kann auch hier ange-
wendet werden. "Wenn du einmal vergessen hast,
sagt er, daß der Schuh blos zur Verwahrung des
Fußes gemacht ist, so hast du bald einen vergulde-
ten Schuh, hernach einen von Purpur, und denn
einen ausgeschnizten. Denn wenn man einmal das
Ziel der Natur überschritten hat, so hat man auch
keine Schranken mehr gegen die Ausschweifung."
Es scheinet also besser gethan zu seyn, wenn man
durch eine genaue Befolgung der einmal vorgeschrie-
benen Verhältnisse, die Baukunst in dem Zustand
läßt, worin sie von den größten Meistern gesezt wor-
den ist, als daß man durch Abweichungen von den-
selben, den schlechten Geschmak die Freyheit lasse,
das schon entdekte Schöne zu verderben.

Da von den allgemeinen Grundsäzen über gute
Verhältnisse vorher gesprochen, in verschiedenen Ar-
tikeln über die Theile der Gebäude, auch ihre Ver-
hältnisse angegeben, in dem Artikel Ordnung aber die
wichtigsten Werke, woraus die Verhältnisse der alten
Baumeister gelernt werden können, angezeiget wor-

den,
(*) Epictetus.

[Spaltenumbruch]

Ver
than haben. Sie legten ihren meiſten Gottheiten
beſtimmte Charaktere bey, deren jeder in ſeiner Art
das hoͤchſte war, was man etwa an Menſchen beob-
achten konnte; ihre Bildhauer befließen ſich in dem
Bild jeder Gottheit ihren Charakter auszudruͤken,
und dieſes noͤthigte ſie die menſchliche Geſtalt auf
das genaueſte zu betrachten, damit ſie entdeken konn-
ten, wie die Natur die vorzuͤglichſten Charaktere der
Menſchen in der Geſtalt des Koͤrpers ſichtbar ge-
macht habe. Durch dieſes Studium entdekten ſie,
wie die Verhaͤltniſſe ſeyn muͤßten, wenn die Ge-
ſtalt eine Venus, oder eine Juno nach ihrem Cha-
rakter abbilden ſollte. Die Geſtalt der Koͤnigin der
Goͤtter mußte bey der weiblichen Schoͤnheit auch
Hoheit und Ernſt; das Bild der Goͤttin der Liebe,
alle Reizungen zur Wolluſt darſtellen.

Wir koͤnnen alſo nichts beſſeres thun, da unſre
Begriffe von menſchlicher Vollkommenheit uͤber-
haupt betrachtet, eben die ſind, die die Griechen
gehabt haben, als die Verhaͤltniſſe annehmen, die
ſie in der Natur durch vieles Forſchen entdekt ha-
ben. Es iſt ein großer Verluſt fuͤr die zeichnenden
Kuͤnſte, daß die Werke der Griechen, die uͤber die
Verhaͤltniſſe geſchrieben haben, verlohren gegangen.
Philoſtratus fuͤhrt in der Vorrede zu der Beſchrei-
bung ſeiner Bilder einige davon an. Doch iſt die-
ſer Verluſt dadurch in etwas erſezt, daß noch ver-
ſchiedene ſchoͤne Werke der bildenden Kuͤnſte uͤbrig
geblieben ſind, woraus man die Verhaͤltniſſe, denen
ſie folgten, abmeſſen kann. Man hat die beſten
Antiken vielfaͤltig abgezeichnet, und nach allen Ver-
haͤltniſſen ausgemeſſen. Aber zum Studium der
beſten Verhaͤltniſſe fehlet es nun noch an einem
Werke, darin die Charaktere, die die Griechen in
ihren Bildern haben ſichtbar machen wollen, genau
beſchrieben waͤren. Ein in den Schriften der Alten
durchaus erfahrner Philoſoph, muͤßte uns den Cha-
rakter des Jupiters, Mars und aller Goͤtter, Goͤt-
tinnen und Helden, deren Bilder wir haben, beſchrei-
ben. Dieſe gegen die vorzuͤglichſten Bilder gehalten,
wuͤrden uns ziemlich beſtimmt ſehen laſſen, durch was
fuͤr Verhaͤltniſſe jeder Charakter am ſichtbarſten aus-
gedruͤkt wird.

Es waͤre eine geringe Muͤhe dieſen Artikel mit
verſchiedenen Tabellen von wuͤrklich ausgemeſſenen
Verhaͤltniſſen der Theile des menſchlichen Koͤrpers
zu verlaͤngern; wir halten es aber dem Zwek dieſes
Werks nicht gemaͤß, uns in dieſe Weitlaͤuftigkeiten
[Spaltenumbruch]

Ver
einzulaſſen, zumal, da der deutſche Kuͤnſtler in
des Hrn. von Hagedorn Betrachtungen uͤber die
Mahlerey, das meiſte, was hier anzufuͤhren waͤre,
bereits finden kann.

Verhaͤltniſſe.
(Baukunſt.)

Mit den Verhaͤltniſſen in der Baukunſt hat es eine
aͤhnliche Bewandniß, als mit denen im menſchli-
chen Koͤrper. Da man einmal vollkommene Muſter
vor ſich hat, ſo muͤſſen die Verhaͤltniſſe derſelben,
als erwieſene Regeln angenommen werden. Sie
ſind zwar nicht ſo beſtimmt, daß man nicht vielfaͤl-
tig, ohne den guten Geſchmak zu beleidigen davon
abweichen koͤnnte, und wuͤrklich abgewichen waͤre.
Da aber zu befuͤrchten iſt, daß dergleichen Abwei-
chungen nach und nach zu großen Ausſchweifungen
Gelegenheit geben moͤchten, ſo ſcheinet die Erhal-
tung des guten Geſchmaks zu erfodern, daß die ge-
naue Beobachtung der von den beſten Baumeiſtern
gebrauchten Verhaͤltniſſe, als ein unveraͤnderliches
Geſez angenemmen werde. Denn wo man einmal
die Regeln aus den Augen ſezet, da wird dem ſchlech-
ten Geſchmak die Freyheit gelaſſen, nach und nach
das Schoͤne zu vertreiben, wie aus unzaͤhligen Bey-
ſpielen in der Baukunſt kann dargethan werden.

Was ein alter Philoſoph (*) bey einer andern
Gelegenheit angemerkt hat, kann auch hier ange-
wendet werden. „Wenn du einmal vergeſſen haſt,
ſagt er, daß der Schuh blos zur Verwahrung des
Fußes gemacht iſt, ſo haſt du bald einen vergulde-
ten Schuh, hernach einen von Purpur, und denn
einen ausgeſchnizten. Denn wenn man einmal das
Ziel der Natur uͤberſchritten hat, ſo hat man auch
keine Schranken mehr gegen die Ausſchweifung.“
Es ſcheinet alſo beſſer gethan zu ſeyn, wenn man
durch eine genaue Befolgung der einmal vorgeſchrie-
benen Verhaͤltniſſe, die Baukunſt in dem Zuſtand
laͤßt, worin ſie von den groͤßten Meiſtern geſezt wor-
den iſt, als daß man durch Abweichungen von den-
ſelben, den ſchlechten Geſchmak die Freyheit laſſe,
das ſchon entdekte Schoͤne zu verderben.

Da von den allgemeinen Grundſaͤzen uͤber gute
Verhaͤltniſſe vorher geſprochen, in verſchiedenen Ar-
tikeln uͤber die Theile der Gebaͤude, auch ihre Ver-
haͤltniſſe angegeben, in dem Artikel Ordnung aber die
wichtigſten Werke, woraus die Verhaͤltniſſe der alten
Baumeiſter gelernt werden koͤnnen, angezeiget wor-

den,
(*) Epictetus.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0646" n="1217[1199]"/><cb/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Ver</hi></fw><lb/>
than haben. Sie legten ihren mei&#x017F;ten Gottheiten<lb/>
be&#x017F;timmte Charaktere bey, deren jeder in &#x017F;einer Art<lb/>
das ho&#x0364;ch&#x017F;te war, was man etwa an Men&#x017F;chen beob-<lb/>
achten konnte; ihre Bildhauer befließen &#x017F;ich in dem<lb/>
Bild jeder Gottheit ihren Charakter auszudru&#x0364;ken,<lb/>
und die&#x017F;es no&#x0364;thigte &#x017F;ie die men&#x017F;chliche Ge&#x017F;talt auf<lb/>
das genaue&#x017F;te zu betrachten, damit &#x017F;ie entdeken konn-<lb/>
ten, wie die Natur die vorzu&#x0364;glich&#x017F;ten Charaktere der<lb/>
Men&#x017F;chen in der Ge&#x017F;talt des Ko&#x0364;rpers &#x017F;ichtbar ge-<lb/>
macht habe. Durch die&#x017F;es Studium entdekten &#x017F;ie,<lb/>
wie die Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e &#x017F;eyn mu&#x0364;ßten, wenn die Ge-<lb/>
&#x017F;talt eine Venus, oder eine Juno nach ihrem Cha-<lb/>
rakter abbilden &#x017F;ollte. Die Ge&#x017F;talt der Ko&#x0364;nigin der<lb/>
Go&#x0364;tter mußte bey der weiblichen Scho&#x0364;nheit auch<lb/>
Hoheit und Ern&#x017F;t; das Bild der Go&#x0364;ttin der Liebe,<lb/>
alle Reizungen zur Wollu&#x017F;t dar&#x017F;tellen.</p><lb/>
          <p>Wir ko&#x0364;nnen al&#x017F;o nichts be&#x017F;&#x017F;eres thun, da un&#x017F;re<lb/>
Begriffe von men&#x017F;chlicher Vollkommenheit u&#x0364;ber-<lb/>
haupt betrachtet, eben die &#x017F;ind, die die Griechen<lb/>
gehabt haben, als die Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e annehmen, die<lb/>
&#x017F;ie in der Natur durch vieles For&#x017F;chen entdekt ha-<lb/>
ben. Es i&#x017F;t ein großer Verlu&#x017F;t fu&#x0364;r die zeichnenden<lb/>
Ku&#x0364;n&#x017F;te, daß die Werke der Griechen, die u&#x0364;ber die<lb/>
Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e ge&#x017F;chrieben haben, verlohren gegangen.<lb/><hi rendition="#fr">Philo&#x017F;tratus</hi> fu&#x0364;hrt in der Vorrede zu der Be&#x017F;chrei-<lb/>
bung &#x017F;einer Bilder einige davon an. Doch i&#x017F;t die-<lb/>
&#x017F;er Verlu&#x017F;t dadurch in etwas er&#x017F;ezt, daß noch ver-<lb/>
&#x017F;chiedene &#x017F;cho&#x0364;ne Werke der bildenden Ku&#x0364;n&#x017F;te u&#x0364;brig<lb/>
geblieben &#x017F;ind, woraus man die Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e, denen<lb/>
&#x017F;ie folgten, abme&#x017F;&#x017F;en kann. Man hat die be&#x017F;ten<lb/>
Antiken vielfa&#x0364;ltig abgezeichnet, und nach allen Ver-<lb/>
ha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;en ausgeme&#x017F;&#x017F;en. Aber zum Studium der<lb/>
be&#x017F;ten Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e fehlet es nun noch an einem<lb/>
Werke, darin die Charaktere, die die Griechen in<lb/>
ihren Bildern haben &#x017F;ichtbar machen wollen, genau<lb/>
be&#x017F;chrieben wa&#x0364;ren. Ein in den Schriften der Alten<lb/>
durchaus erfahrner Philo&#x017F;oph, mu&#x0364;ßte uns den Cha-<lb/>
rakter des Jupiters, Mars und aller Go&#x0364;tter, Go&#x0364;t-<lb/>
tinnen und Helden, deren Bilder wir haben, be&#x017F;chrei-<lb/>
ben. Die&#x017F;e gegen die vorzu&#x0364;glich&#x017F;ten Bilder gehalten,<lb/>
wu&#x0364;rden uns ziemlich be&#x017F;timmt &#x017F;ehen la&#x017F;&#x017F;en, durch was<lb/>
fu&#x0364;r Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e jeder Charakter am &#x017F;ichtbar&#x017F;ten aus-<lb/>
gedru&#x0364;kt wird.</p><lb/>
          <p>Es wa&#x0364;re eine geringe Mu&#x0364;he die&#x017F;en Artikel mit<lb/>
ver&#x017F;chiedenen Tabellen von wu&#x0364;rklich ausgeme&#x017F;&#x017F;enen<lb/>
Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;en der Theile des men&#x017F;chlichen Ko&#x0364;rpers<lb/>
zu verla&#x0364;ngern; wir halten es aber dem Zwek die&#x017F;es<lb/>
Werks nicht gema&#x0364;ß, uns in die&#x017F;e Weitla&#x0364;uftigkeiten<lb/><cb/>
<fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Ver</hi></fw><lb/>
einzula&#x017F;&#x017F;en, zumal, da der deut&#x017F;che Ku&#x0364;n&#x017F;tler in<lb/>
des Hrn. von Hagedorn Betrachtungen u&#x0364;ber die<lb/>
Mahlerey, das mei&#x017F;te, was hier anzufu&#x0364;hren wa&#x0364;re,<lb/>
bereits finden kann.</p>
        </div><lb/>
        <div n="2">
          <head><hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e</hi>.</hi><lb/>
(Baukun&#x017F;t.)</head><lb/>
          <p><hi rendition="#in">M</hi>it den Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;en in der Baukun&#x017F;t hat es eine<lb/>
a&#x0364;hnliche Bewandniß, als mit denen im men&#x017F;chli-<lb/>
chen Ko&#x0364;rper. Da man einmal vollkommene Mu&#x017F;ter<lb/>
vor &#x017F;ich hat, &#x017F;o mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en die Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e der&#x017F;elben,<lb/>
als erwie&#x017F;ene Regeln angenommen werden. Sie<lb/>
&#x017F;ind zwar nicht &#x017F;o be&#x017F;timmt, daß man nicht vielfa&#x0364;l-<lb/>
tig, ohne den guten Ge&#x017F;chmak zu beleidigen davon<lb/>
abweichen ko&#x0364;nnte, und wu&#x0364;rklich abgewichen wa&#x0364;re.<lb/>
Da aber zu befu&#x0364;rchten i&#x017F;t, daß dergleichen Abwei-<lb/>
chungen nach und nach zu großen Aus&#x017F;chweifungen<lb/>
Gelegenheit geben mo&#x0364;chten, &#x017F;o &#x017F;cheinet die Erhal-<lb/>
tung des guten Ge&#x017F;chmaks zu erfodern, daß die ge-<lb/>
naue Beobachtung der von den be&#x017F;ten Baumei&#x017F;tern<lb/>
gebrauchten Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e, als ein unvera&#x0364;nderliches<lb/>
Ge&#x017F;ez angenemmen werde. Denn wo man einmal<lb/>
die Regeln aus den Augen &#x017F;ezet, da wird dem &#x017F;chlech-<lb/>
ten Ge&#x017F;chmak die Freyheit gela&#x017F;&#x017F;en, nach und nach<lb/>
das Scho&#x0364;ne zu vertreiben, wie aus unza&#x0364;hligen Bey-<lb/>
&#x017F;pielen in der Baukun&#x017F;t kann dargethan werden.</p><lb/>
          <p>Was ein alter Philo&#x017F;oph <note place="foot" n="(*)"><hi rendition="#aq">Epictetus.</hi></note> bey einer andern<lb/>
Gelegenheit angemerkt hat, kann auch hier ange-<lb/>
wendet werden. &#x201E;Wenn du einmal verge&#x017F;&#x017F;en ha&#x017F;t,<lb/>
&#x017F;agt er, daß der Schuh blos zur Verwahrung des<lb/>
Fußes gemacht i&#x017F;t, &#x017F;o ha&#x017F;t du bald einen vergulde-<lb/>
ten Schuh, hernach einen von Purpur, und denn<lb/>
einen ausge&#x017F;chnizten. Denn wenn man einmal das<lb/>
Ziel der Natur u&#x0364;ber&#x017F;chritten hat, &#x017F;o hat man auch<lb/>
keine Schranken mehr gegen die Aus&#x017F;chweifung.&#x201C;<lb/>
Es &#x017F;cheinet al&#x017F;o be&#x017F;&#x017F;er gethan zu &#x017F;eyn, wenn man<lb/>
durch eine genaue Befolgung der einmal vorge&#x017F;chrie-<lb/>
benen Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e, die Baukun&#x017F;t in dem Zu&#x017F;tand<lb/>
la&#x0364;ßt, worin &#x017F;ie von den gro&#x0364;ßten Mei&#x017F;tern ge&#x017F;ezt wor-<lb/>
den i&#x017F;t, als daß man durch Abweichungen von den-<lb/>
&#x017F;elben, den &#x017F;chlechten Ge&#x017F;chmak die Freyheit la&#x017F;&#x017F;e,<lb/>
das &#x017F;chon entdekte Scho&#x0364;ne zu verderben.</p><lb/>
          <p>Da von den allgemeinen Grund&#x017F;a&#x0364;zen u&#x0364;ber gute<lb/>
Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e vorher ge&#x017F;prochen, in ver&#x017F;chiedenen Ar-<lb/>
tikeln u&#x0364;ber die Theile der Geba&#x0364;ude, auch ihre Ver-<lb/>
ha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e angegeben, in dem Artikel Ordnung aber die<lb/>
wichtig&#x017F;ten Werke, woraus die Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e der alten<lb/>
Baumei&#x017F;ter gelernt werden ko&#x0364;nnen, angezeiget wor-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">den,</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[1217[1199]/0646] Ver Ver than haben. Sie legten ihren meiſten Gottheiten beſtimmte Charaktere bey, deren jeder in ſeiner Art das hoͤchſte war, was man etwa an Menſchen beob- achten konnte; ihre Bildhauer befließen ſich in dem Bild jeder Gottheit ihren Charakter auszudruͤken, und dieſes noͤthigte ſie die menſchliche Geſtalt auf das genaueſte zu betrachten, damit ſie entdeken konn- ten, wie die Natur die vorzuͤglichſten Charaktere der Menſchen in der Geſtalt des Koͤrpers ſichtbar ge- macht habe. Durch dieſes Studium entdekten ſie, wie die Verhaͤltniſſe ſeyn muͤßten, wenn die Ge- ſtalt eine Venus, oder eine Juno nach ihrem Cha- rakter abbilden ſollte. Die Geſtalt der Koͤnigin der Goͤtter mußte bey der weiblichen Schoͤnheit auch Hoheit und Ernſt; das Bild der Goͤttin der Liebe, alle Reizungen zur Wolluſt darſtellen. Wir koͤnnen alſo nichts beſſeres thun, da unſre Begriffe von menſchlicher Vollkommenheit uͤber- haupt betrachtet, eben die ſind, die die Griechen gehabt haben, als die Verhaͤltniſſe annehmen, die ſie in der Natur durch vieles Forſchen entdekt ha- ben. Es iſt ein großer Verluſt fuͤr die zeichnenden Kuͤnſte, daß die Werke der Griechen, die uͤber die Verhaͤltniſſe geſchrieben haben, verlohren gegangen. Philoſtratus fuͤhrt in der Vorrede zu der Beſchrei- bung ſeiner Bilder einige davon an. Doch iſt die- ſer Verluſt dadurch in etwas erſezt, daß noch ver- ſchiedene ſchoͤne Werke der bildenden Kuͤnſte uͤbrig geblieben ſind, woraus man die Verhaͤltniſſe, denen ſie folgten, abmeſſen kann. Man hat die beſten Antiken vielfaͤltig abgezeichnet, und nach allen Ver- haͤltniſſen ausgemeſſen. Aber zum Studium der beſten Verhaͤltniſſe fehlet es nun noch an einem Werke, darin die Charaktere, die die Griechen in ihren Bildern haben ſichtbar machen wollen, genau beſchrieben waͤren. Ein in den Schriften der Alten durchaus erfahrner Philoſoph, muͤßte uns den Cha- rakter des Jupiters, Mars und aller Goͤtter, Goͤt- tinnen und Helden, deren Bilder wir haben, beſchrei- ben. Dieſe gegen die vorzuͤglichſten Bilder gehalten, wuͤrden uns ziemlich beſtimmt ſehen laſſen, durch was fuͤr Verhaͤltniſſe jeder Charakter am ſichtbarſten aus- gedruͤkt wird. Es waͤre eine geringe Muͤhe dieſen Artikel mit verſchiedenen Tabellen von wuͤrklich ausgemeſſenen Verhaͤltniſſen der Theile des menſchlichen Koͤrpers zu verlaͤngern; wir halten es aber dem Zwek dieſes Werks nicht gemaͤß, uns in dieſe Weitlaͤuftigkeiten einzulaſſen, zumal, da der deutſche Kuͤnſtler in des Hrn. von Hagedorn Betrachtungen uͤber die Mahlerey, das meiſte, was hier anzufuͤhren waͤre, bereits finden kann. Verhaͤltniſſe. (Baukunſt.) Mit den Verhaͤltniſſen in der Baukunſt hat es eine aͤhnliche Bewandniß, als mit denen im menſchli- chen Koͤrper. Da man einmal vollkommene Muſter vor ſich hat, ſo muͤſſen die Verhaͤltniſſe derſelben, als erwieſene Regeln angenommen werden. Sie ſind zwar nicht ſo beſtimmt, daß man nicht vielfaͤl- tig, ohne den guten Geſchmak zu beleidigen davon abweichen koͤnnte, und wuͤrklich abgewichen waͤre. Da aber zu befuͤrchten iſt, daß dergleichen Abwei- chungen nach und nach zu großen Ausſchweifungen Gelegenheit geben moͤchten, ſo ſcheinet die Erhal- tung des guten Geſchmaks zu erfodern, daß die ge- naue Beobachtung der von den beſten Baumeiſtern gebrauchten Verhaͤltniſſe, als ein unveraͤnderliches Geſez angenemmen werde. Denn wo man einmal die Regeln aus den Augen ſezet, da wird dem ſchlech- ten Geſchmak die Freyheit gelaſſen, nach und nach das Schoͤne zu vertreiben, wie aus unzaͤhligen Bey- ſpielen in der Baukunſt kann dargethan werden. Was ein alter Philoſoph (*) bey einer andern Gelegenheit angemerkt hat, kann auch hier ange- wendet werden. „Wenn du einmal vergeſſen haſt, ſagt er, daß der Schuh blos zur Verwahrung des Fußes gemacht iſt, ſo haſt du bald einen vergulde- ten Schuh, hernach einen von Purpur, und denn einen ausgeſchnizten. Denn wenn man einmal das Ziel der Natur uͤberſchritten hat, ſo hat man auch keine Schranken mehr gegen die Ausſchweifung.“ Es ſcheinet alſo beſſer gethan zu ſeyn, wenn man durch eine genaue Befolgung der einmal vorgeſchrie- benen Verhaͤltniſſe, die Baukunſt in dem Zuſtand laͤßt, worin ſie von den groͤßten Meiſtern geſezt wor- den iſt, als daß man durch Abweichungen von den- ſelben, den ſchlechten Geſchmak die Freyheit laſſe, das ſchon entdekte Schoͤne zu verderben. Da von den allgemeinen Grundſaͤzen uͤber gute Verhaͤltniſſe vorher geſprochen, in verſchiedenen Ar- tikeln uͤber die Theile der Gebaͤude, auch ihre Ver- haͤltniſſe angegeben, in dem Artikel Ordnung aber die wichtigſten Werke, woraus die Verhaͤltniſſe der alten Baumeiſter gelernt werden koͤnnen, angezeiget wor- den, (*) Epictetus.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/646
Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 1217[1199]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/646>, abgerufen am 20.11.2024.