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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Ste
sein innwendiges kennt. Gar oft überzeuget uns
die bloße Stellung von der Aufrichtigkeit oder Falsch-
heit der Versicherungen, die man uns giebt; und
oft empfinden wir durch die Stellung mit weit mehr
Zuverläßigkeit, oder mit stärkerm Nachdruk, was
in dem Herzen der andern vorgeht, als ihre Worte
uns sagen können.

Es würde sehr unnüze, oder wol gar ungereimt
seyn, dem Künstler die verschiedenen Stellungen
nach der darin liegenden mannigfaltigen ästhetischen
Kraft mit Worten zu beschreiben, oder ihn belehren
zu wollen, wie er in besondern Fällen den Eindruk,
den er zu machen hat, durch Stellung bewürken
soll. Man muß dieses nothwendig aus eigener
Beobachtung wissen. Die Theorie der Künste kann
in diesem Punkt nicht weiter gehen, als daß sie die
große Wichtigkeit der Sache vorstelle und den Künst-
ler von der Nothwendigkeit überzeuge, sich ein eige-
nes und angelegenes Studium daraus zu machen,
die Menschen in den verschiedenen Stellungen des
Leibes genau zu beobachten, und sich zu üben ihre
Kraft zu empfinden. Hat er hinlängliche Kenntniß
darin erlanget, so wird er auch die Nothwendigkeit
einsehen, sich darin zu üben, daß er jede Stellung,
die er nöthig hat, in seiner eigenen Person anneh-
men, oder durch richtige Zeichnungen darstellen könne.
Vorschriften helfen hiezu gar nichts. Wenn man
sie gelernt hätte, so würde man sie doch bey der Aus-
übung wieder vergessen müssen, wenn man nichts
unnatürliches machen wollte. So urtheilet ein Mei-
ster der Kunst so gar über die fünf Haupt- oder
Elementar-Stellungen des Tanzes (+).

Bey dem mündlichen Vortrag des Redners, hat
gar ofte die Stellung eben so viel Kraft zu überzeu-
gen oder zu rühren, als die Worte selbst, und es
geschiehet auch nicht selten, daß das, was Redner
oder Schauspiehler sprechen, durch ihre Stellung
vollkommen wiederlegt wird. Der Schauspiehler
besonders hat in seiner ganzen Kunst nichts wichti-
geres, als die Stellung. Wenn er dieser Meister
ist, so wird ihm alles übrige leicht werden. Man
kann beynahe dasselbe von dem Zeichner sagen. Es
giebt Stellungen, die uns, wenn wir auch die Ge-
sichtszüge nicht sehen, so bestimmt und so gewiß von
[Spaltenumbruch]

Sti
dem Charakter, oder von einer vorübergehenden
Gemüthslage der Personen unterrichten, daß wir
kaum mehr nöthig haben, auf das Gesicht zu sehen.
Dergleichen höchst lebhaft schildernde Stellungen
trifft man vorzüglich in Raphaels Werken an, deren
fleißiges Betrachten nicht nur dem Zeichner, sondern
auch dem Schauspiehler und Redner höchstens zu
empfehlen ist.

Stimme.
(Musik.)

Dieses Wort hat mehrere Bedeutungen. Es be-
deutet 1) die menschliche Stimme an sich; und
2) jede geschriebene Partie eines Stüks, die den
Gesang enthält, der gesungen oder gespiehlet werden
soll. Jn diesem Verstand ist ein Quatuor ein vier-
stimmiges Stük, das aus einer Violin- einer Flö-
ten- einer Bratsche- und einer Baßstimme, oder
wenn es ein Singstük ist, aus einer Discant- Alt-
Tenor- und Baßstimme, die man auch Singstim-
men nennet, bestehen kann. Selbst die verschiede-
nen Töne, die zu einem Accord gehören, werden
auch so viel Stimmen genennet: so sagt man, daß
zu einem vollkommenen Dreyklang vier Stimmen
gehören. Daher auch die Benennungen: Haupt-
stimme, Oberstimme, Solostimme, Mittelstimme;
oder zweystimmig, dreystimmig, vielstimmig, voll-
stimmig etc. Aeußerste Stimmen sind die Oberstim-
me und der Baß gegen einander. Es ist für die
Tonsezer eine Regel, daß jede Stimme der Natur
des Jnstruments gemäß, und besonders in Stüken,
wo sie mehr als einfach besezt wird, leicht vorzutra-
gen sey; daß die Hauptstimme nicht durch die Mit-
telstimmen verdunkelt werde; und daß in den äus-
sersten Stimmen die vollkommenste Reinigkeit beob-
achtet sey.

Jn Ansehung der menschlichen Stimme gehören
physikalische Untersuchungen, über ihre Entstehung
und über die Ursachen ihrer Verschiedenheit in den
Altern und Geschlechten, nicht in den Plan dieses
Werks. Wer davon unterrichtet seyn will, findet
in Tosis Anleitung zur Singkunst (*) hinlänglichen
Unterricht davon. Wir merken nur überhanpt an,
daß die weibliche Stimme wegen ihrer Annehmlich-

keit
(+) [Spaltenumbruch]
Les positions sont bonnes a savoir & meilleures en-
core a oublier: il est de l'art du grand Danseur de s'en
ecarter agreablement. Au reste toutes celles ou le corps
[Spaltenumbruch] est ferme & bien dessine sont excellentes. Noverre Lettres
sur la danse p.
278.
(*) Nach
des Herrn
Agricola
Ueberse-
zung S.
22. u. f.
Y y y y y y 3

[Spaltenumbruch]

Ste
ſein innwendiges kennt. Gar oft uͤberzeuget uns
die bloße Stellung von der Aufrichtigkeit oder Falſch-
heit der Verſicherungen, die man uns giebt; und
oft empfinden wir durch die Stellung mit weit mehr
Zuverlaͤßigkeit, oder mit ſtaͤrkerm Nachdruk, was
in dem Herzen der andern vorgeht, als ihre Worte
uns ſagen koͤnnen.

Es wuͤrde ſehr unnuͤze, oder wol gar ungereimt
ſeyn, dem Kuͤnſtler die verſchiedenen Stellungen
nach der darin liegenden mannigfaltigen aͤſthetiſchen
Kraft mit Worten zu beſchreiben, oder ihn belehren
zu wollen, wie er in beſondern Faͤllen den Eindruk,
den er zu machen hat, durch Stellung bewuͤrken
ſoll. Man muß dieſes nothwendig aus eigener
Beobachtung wiſſen. Die Theorie der Kuͤnſte kann
in dieſem Punkt nicht weiter gehen, als daß ſie die
große Wichtigkeit der Sache vorſtelle und den Kuͤnſt-
ler von der Nothwendigkeit uͤberzeuge, ſich ein eige-
nes und angelegenes Studium daraus zu machen,
die Menſchen in den verſchiedenen Stellungen des
Leibes genau zu beobachten, und ſich zu uͤben ihre
Kraft zu empfinden. Hat er hinlaͤngliche Kenntniß
darin erlanget, ſo wird er auch die Nothwendigkeit
einſehen, ſich darin zu uͤben, daß er jede Stellung,
die er noͤthig hat, in ſeiner eigenen Perſon anneh-
men, oder durch richtige Zeichnungen darſtellen koͤnne.
Vorſchriften helfen hiezu gar nichts. Wenn man
ſie gelernt haͤtte, ſo wuͤrde man ſie doch bey der Aus-
uͤbung wieder vergeſſen muͤſſen, wenn man nichts
unnatuͤrliches machen wollte. So urtheilet ein Mei-
ſter der Kunſt ſo gar uͤber die fuͤnf Haupt- oder
Elementar-Stellungen des Tanzes (†).

Bey dem muͤndlichen Vortrag des Redners, hat
gar ofte die Stellung eben ſo viel Kraft zu uͤberzeu-
gen oder zu ruͤhren, als die Worte ſelbſt, und es
geſchiehet auch nicht ſelten, daß das, was Redner
oder Schauſpiehler ſprechen, durch ihre Stellung
vollkommen wiederlegt wird. Der Schauſpiehler
beſonders hat in ſeiner ganzen Kunſt nichts wichti-
geres, als die Stellung. Wenn er dieſer Meiſter
iſt, ſo wird ihm alles uͤbrige leicht werden. Man
kann beynahe daſſelbe von dem Zeichner ſagen. Es
giebt Stellungen, die uns, wenn wir auch die Ge-
ſichtszuͤge nicht ſehen, ſo beſtimmt und ſo gewiß von
[Spaltenumbruch]

Sti
dem Charakter, oder von einer voruͤbergehenden
Gemuͤthslage der Perſonen unterrichten, daß wir
kaum mehr noͤthig haben, auf das Geſicht zu ſehen.
Dergleichen hoͤchſt lebhaft ſchildernde Stellungen
trifft man vorzuͤglich in Raphaels Werken an, deren
fleißiges Betrachten nicht nur dem Zeichner, ſondern
auch dem Schauſpiehler und Redner hoͤchſtens zu
empfehlen iſt.

Stimme.
(Muſik.)

Dieſes Wort hat mehrere Bedeutungen. Es be-
deutet 1) die menſchliche Stimme an ſich; und
2) jede geſchriebene Partie eines Stuͤks, die den
Geſang enthaͤlt, der geſungen oder geſpiehlet werden
ſoll. Jn dieſem Verſtand iſt ein Quatuor ein vier-
ſtimmiges Stuͤk, das aus einer Violin- einer Floͤ-
ten- einer Bratſche- und einer Baßſtimme, oder
wenn es ein Singſtuͤk iſt, aus einer Diſcant- Alt-
Tenor- und Baßſtimme, die man auch Singſtim-
men nennet, beſtehen kann. Selbſt die verſchiede-
nen Toͤne, die zu einem Accord gehoͤren, werden
auch ſo viel Stimmen genennet: ſo ſagt man, daß
zu einem vollkommenen Dreyklang vier Stimmen
gehoͤren. Daher auch die Benennungen: Haupt-
ſtimme, Oberſtimme, Soloſtimme, Mittelſtimme;
oder zweyſtimmig, dreyſtimmig, vielſtimmig, voll-
ſtimmig ꝛc. Aeußerſte Stimmen ſind die Oberſtim-
me und der Baß gegen einander. Es iſt fuͤr die
Tonſezer eine Regel, daß jede Stimme der Natur
des Jnſtruments gemaͤß, und beſonders in Stuͤken,
wo ſie mehr als einfach beſezt wird, leicht vorzutra-
gen ſey; daß die Hauptſtimme nicht durch die Mit-
telſtimmen verdunkelt werde; und daß in den aͤuſ-
ſerſten Stimmen die vollkommenſte Reinigkeit beob-
achtet ſey.

Jn Anſehung der menſchlichen Stimme gehoͤren
phyſikaliſche Unterſuchungen, uͤber ihre Entſtehung
und uͤber die Urſachen ihrer Verſchiedenheit in den
Altern und Geſchlechten, nicht in den Plan dieſes
Werks. Wer davon unterrichtet ſeyn will, findet
in Toſis Anleitung zur Singkunſt (*) hinlaͤnglichen
Unterricht davon. Wir merken nur uͤberhanpt an,
daß die weibliche Stimme wegen ihrer Annehmlich-

keit
(†) [Spaltenumbruch]
Les poſitions ſont bonnes à ſavoir & meilleures en-
core à oublier: il eſt de l’art du grand Danſeur de ſ’en
écarter agréablement. Au reſte toutes celles où le corps
[Spaltenumbruch] eſt ferme & bien deſſiné ſont excellentes. Noverre Lettres
ſur la danſe p.
278.
(*) Nach
des Herrn
Agricola
Ueberſe-
zung S.
22. u. f.
Y y y y y y 3
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[1111[1093]/0540] Ste Sti ſein innwendiges kennt. Gar oft uͤberzeuget uns die bloße Stellung von der Aufrichtigkeit oder Falſch- heit der Verſicherungen, die man uns giebt; und oft empfinden wir durch die Stellung mit weit mehr Zuverlaͤßigkeit, oder mit ſtaͤrkerm Nachdruk, was in dem Herzen der andern vorgeht, als ihre Worte uns ſagen koͤnnen. Es wuͤrde ſehr unnuͤze, oder wol gar ungereimt ſeyn, dem Kuͤnſtler die verſchiedenen Stellungen nach der darin liegenden mannigfaltigen aͤſthetiſchen Kraft mit Worten zu beſchreiben, oder ihn belehren zu wollen, wie er in beſondern Faͤllen den Eindruk, den er zu machen hat, durch Stellung bewuͤrken ſoll. Man muß dieſes nothwendig aus eigener Beobachtung wiſſen. Die Theorie der Kuͤnſte kann in dieſem Punkt nicht weiter gehen, als daß ſie die große Wichtigkeit der Sache vorſtelle und den Kuͤnſt- ler von der Nothwendigkeit uͤberzeuge, ſich ein eige- nes und angelegenes Studium daraus zu machen, die Menſchen in den verſchiedenen Stellungen des Leibes genau zu beobachten, und ſich zu uͤben ihre Kraft zu empfinden. Hat er hinlaͤngliche Kenntniß darin erlanget, ſo wird er auch die Nothwendigkeit einſehen, ſich darin zu uͤben, daß er jede Stellung, die er noͤthig hat, in ſeiner eigenen Perſon anneh- men, oder durch richtige Zeichnungen darſtellen koͤnne. Vorſchriften helfen hiezu gar nichts. Wenn man ſie gelernt haͤtte, ſo wuͤrde man ſie doch bey der Aus- uͤbung wieder vergeſſen muͤſſen, wenn man nichts unnatuͤrliches machen wollte. So urtheilet ein Mei- ſter der Kunſt ſo gar uͤber die fuͤnf Haupt- oder Elementar-Stellungen des Tanzes (†). Bey dem muͤndlichen Vortrag des Redners, hat gar ofte die Stellung eben ſo viel Kraft zu uͤberzeu- gen oder zu ruͤhren, als die Worte ſelbſt, und es geſchiehet auch nicht ſelten, daß das, was Redner oder Schauſpiehler ſprechen, durch ihre Stellung vollkommen wiederlegt wird. Der Schauſpiehler beſonders hat in ſeiner ganzen Kunſt nichts wichti- geres, als die Stellung. Wenn er dieſer Meiſter iſt, ſo wird ihm alles uͤbrige leicht werden. Man kann beynahe daſſelbe von dem Zeichner ſagen. Es giebt Stellungen, die uns, wenn wir auch die Ge- ſichtszuͤge nicht ſehen, ſo beſtimmt und ſo gewiß von dem Charakter, oder von einer voruͤbergehenden Gemuͤthslage der Perſonen unterrichten, daß wir kaum mehr noͤthig haben, auf das Geſicht zu ſehen. Dergleichen hoͤchſt lebhaft ſchildernde Stellungen trifft man vorzuͤglich in Raphaels Werken an, deren fleißiges Betrachten nicht nur dem Zeichner, ſondern auch dem Schauſpiehler und Redner hoͤchſtens zu empfehlen iſt. Stimme. (Muſik.) Dieſes Wort hat mehrere Bedeutungen. Es be- deutet 1) die menſchliche Stimme an ſich; und 2) jede geſchriebene Partie eines Stuͤks, die den Geſang enthaͤlt, der geſungen oder geſpiehlet werden ſoll. Jn dieſem Verſtand iſt ein Quatuor ein vier- ſtimmiges Stuͤk, das aus einer Violin- einer Floͤ- ten- einer Bratſche- und einer Baßſtimme, oder wenn es ein Singſtuͤk iſt, aus einer Diſcant- Alt- Tenor- und Baßſtimme, die man auch Singſtim- men nennet, beſtehen kann. Selbſt die verſchiede- nen Toͤne, die zu einem Accord gehoͤren, werden auch ſo viel Stimmen genennet: ſo ſagt man, daß zu einem vollkommenen Dreyklang vier Stimmen gehoͤren. Daher auch die Benennungen: Haupt- ſtimme, Oberſtimme, Soloſtimme, Mittelſtimme; oder zweyſtimmig, dreyſtimmig, vielſtimmig, voll- ſtimmig ꝛc. Aeußerſte Stimmen ſind die Oberſtim- me und der Baß gegen einander. Es iſt fuͤr die Tonſezer eine Regel, daß jede Stimme der Natur des Jnſtruments gemaͤß, und beſonders in Stuͤken, wo ſie mehr als einfach beſezt wird, leicht vorzutra- gen ſey; daß die Hauptſtimme nicht durch die Mit- telſtimmen verdunkelt werde; und daß in den aͤuſ- ſerſten Stimmen die vollkommenſte Reinigkeit beob- achtet ſey. Jn Anſehung der menſchlichen Stimme gehoͤren phyſikaliſche Unterſuchungen, uͤber ihre Entſtehung und uͤber die Urſachen ihrer Verſchiedenheit in den Altern und Geſchlechten, nicht in den Plan dieſes Werks. Wer davon unterrichtet ſeyn will, findet in Toſis Anleitung zur Singkunſt (*) hinlaͤnglichen Unterricht davon. Wir merken nur uͤberhanpt an, daß die weibliche Stimme wegen ihrer Annehmlich- keit (†) Les poſitions ſont bonnes à ſavoir & meilleures en- core à oublier: il eſt de l’art du grand Danſeur de ſ’en écarter agréablement. Au reſte toutes celles où le corps eſt ferme & bien deſſiné ſont excellentes. Noverre Lettres ſur la danſe p. 278. (*) Nach des Herrn Agricola Ueberſe- zung S. 22. u. f. Y y y y y y 3

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 1111[1093]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/540>, abgerufen am 20.11.2024.