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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Spi
cher und brauchbarer Begriffe und Gedanken zu be-
ſchaͤftigen, und ſich gruͤndlich zu duͤnken, wo er kaum
die Oberflaͤche der Dinge beruͤhret. Er haͤlt ſich
uͤberall an dem Schein der Dinge, und duͤnket ſich
groß damit.

Der ſpizfuͤndige Wiz drechſelt und ſchleift ſo lang
an einem wizigen Einfall, bis er ihm eine nicht
mehr ſichtbare Spize gegeben hat, die kein Menſch
mehr fuͤhlt, und nur eine verworrene Phantaſie
noch zu fuͤhlen glaubet. Aber nirgend iſt dieſe
Schwachheit oder Art von Narrheit gefaͤhrlicher,
und Menſchen von gerader Art zu handeln, an-
ſtoͤßiger, als in praktiſchen Dingen, die unmittelbar
auf Handlungen gehen. Denn da thut der Spiz-
fuͤndige nie, was die gerade geſunde Vernunft zu
thun befiehlt; darum trift er nie auf den Zwek, auf
den er doch immer zu treffen ſich einbildet. Es ſind
unſerm Denken und Nachforſchen gewiſſe Schran-
ken geſezt, die man nicht uͤberſchreiten kann, ohne
ſich ganz in Spizfuͤndigkeiten zu verlieren. Wir
muͤſſen gar ofte bey klaren Begriffen, die wir unmit-
telbar als einfache Vorſtellungen empfinden, ſtehen
bleiben, wenn es uns gleich duͤnkt, als ſollten wir
darin noch etwas entwikeln muͤſſen. Wer den un-
gluͤklichen Hang hat, da, wo ſein Gefuͤhl klar ſpricht,
noch weiter nachzugruͤbeln, ob er auch recht fuͤhle,
der verfaͤllt in Spizfuͤndigkeiten. So ſagt uns ein
unmittelbares ſehr klares Gefuͤhl, daß wir dem der
Noth leidet, zu Huͤlfe kommen ſollen, und laͤßt kei-
nen Zweifel uͤbrig. Aber der Spizfuͤndige findet
da noch ſehr vieles zu unterſuchen und zu bedenken,
und hilft entweder gar nicht, oder auf eine ſo kuͤnſt-
liche Weiſe, daß es eben ſo viel, als Nichts iſt.

Jn Werken des Geſchmaks ſagt uns ein ſehr kla-
res Gefuͤhl gar ofte, daß etwas gut oder ſchlecht,
oder daß gerade ſo viel zum Zwek hinreichend ſey.
Aber der Spizfuͤndige ſucht noch ſcheinbare, nicht
mehr im Gefuͤhl, ſondern in einer verſtiegenen Phan-
taſie liegende Gruͤnde, das Gute beſſer, das Hin-
laͤngliche noch ſtaͤrker zu machen, oder das Schlechte
zu vertheidigen.

Wir wuͤrden hier aber auch ſelbſt nothwendig in
Spizfuͤndigkeit gerathen; wenn wir unternehmen
wollten, anzuzeigen, wo man ſich mit den klaren
Begriffen der geſunden Vernunft, mit dem beſtimm-
ten Gefuͤhl des Geſchmaks und der Empfindung be-
gnuͤgen ſoll, ohne die Gruͤnde der Sachen weiter zu
entwikeln, und wo man ohne Gefahr die Unterſu-
[Spaltenumbruch]

Spi
chung weiter treiben koͤnne. Man muß auch hier die
Schranken empfinden; weil ſie ſich nicht zeichnen
laſſen. Der einzige Rath den man denen, die noch
Gefuͤhl haben, geben kann, iſt dieſer, daß ſie, wenn
ſie ſich in Unterſuchungen und in Zergliederung der
Sachen vertieft haben, den Erfolg, oder die Schluͤſſe,
die ſie herausgebracht, wieder gegen das, was ſie
vor der Unterſuchung, durch blos genaue Aufmerk-
ſamkeit auf ihr Gefuͤhl, geurtheilt haben, halten,
und bey dem geringſten Wiederſpruch den ſie zwi-
ſchen beyden entdeken, eher dem Gefuͤhl, als der
ſubtilen Unterſuchung trauen. Findet ihr, daß
euch ein Kunſtrichter etwas, das ihr bey guter Auf-
merkſamkeit auf alles dazu gehoͤrige ſchlecht, oder
anſtoͤßig, oder unſchiklich gefunden habt, durch ſehr
kuͤnſtliche Entwiklung als gut und ſchiklich angepreißt;
ſo vergleichet das, was ihr von ſeinen Gruͤnden klar
fuͤhlet, gegen das, was ihr vorher von der Sache
gefuͤhlt habet. Hat dieſes noch mehr Klarheit, als
jenes, ſo ſezet ein Mißtrauen in das Urtheil des
Kunſtrichters; es koͤnnte gar wol ſeyn, daß er ein
bloßer Sophiſt waͤre.

Spizleiſte.
(Zeichnende Kuͤnſte.)

Dieſes Wort iſt geſchikt dasjenige auszudruͤken,
was die Franzoſen cul - de Lampe nennen. Denn
urſpruͤnglich bedeutet Leiſte jeden geformten Koͤrper,
daher Spizleiſte, ein in eine Spize geformter Koͤr-
per iſt.

Jn der Baukunſt bedeutet es einen von einer
breiten halbrunden Flaͤche unten in eine Spize aus-
laufenden Koͤrper, der an einer Wand feſt gemacht
iſt, um etwas darauf zu ſtellen. Ehedem hat man
ſie ſehr haͤufig an die Voderſeiten der Camine ange-
bracht, um allerhand kleine Zierrathen, Theetaſſen
u. d. gl. darauf zu ſezen.

Jn der Zeichnung heißt es eine ſolche ſpiz zulau-
fende geſtochene Zierrath, die insgemein am Ende
eines Buches angebracht wird.

Spondeus.
(Dichtkunſt.)

Ein Sylbenfuß von zwey langen Sylben, als Zu-
kunft, Wahrheit.
Weder die Alten noch die Neuern
haben irgend ein Sylbenmaaß von lauter Spondeen
zuſammengeſezt; der Fuß dienet alſo blos unter an-
dern, um dem Vers Mannigfaltigkeit zu geben.

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 1098[1080]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/527>, abgerufen am 07.01.2025.