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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Kra

Jn den schönen Künsten zeiget sich das Gute durch
die Schilderungen der Gesinnungen, der Charaktere
und der Handlungen der Menschen, und in allem
dem, was sich darauf beziehet: das Gefühl unsrer
innerlichen Kraft und Würksamkeit, macht uns sehr
aufmerksam auf alles, was sie reizet. Darum in-
teressirt uns auch in den Werken der schönen Künste
nichts mehr, als die Gegenstände, durch welche das
Gefühl des Guten oder Bösen rege gemacht wird.
Aus welchem Gesichtspunkt man immer die Künste
betrachtet, findet man doch allemal, daß das Gute
oder Böse der intressanteste Stoff derselben sey.
Selbst Vollkommenheit und Schönheit werden nur
durch ihre Beziehung auf das Gute interessant.
Das Gute bewürkt die antreibenden und das Böse
die zurüktreibenden Kräfte: und je mehr wir diese
Kräfte für die Erlangung des Guten und Vermei-
dung des Bösen üben, je mehr stärken sie sich.

Dadurch also werden die schönen Künste höchst
wichtig, daß sie unsre Seelenkräfte durch lebhafte
Schilderung des Guten und Bösen in einer sehr
vortheilhaften Würksamkeit unterhalten, und darin
liegt die wichtigste Kraft dieser Künste. Hierüber
ist man so durchgehends einig, daß es unnöthig ist,
diese Sache ausführlicher zu entwikeln.

Daraus folget ganz natürlich, daß der Künstler
vorzüglich besorgt seyn soll, diese Art der Kraft in
sein Werk zu legen. Die dramatische und die epi-
sche Dichtkunst können dieses in dem weitesten Um-
fange thun, und sind deswegen die wichtigsten Zweyge
der Kunst. Nach ihnen kommt die lyrische Gat-
tung, die so vorzüglich geschikt ist, jede Empfindung
des Guten und Bösen rege zu machen. Die Musik
aber dienet hauptsächlich ihnen einen hohen Grad
der Lebhaftigkeit zu geben. Die Mahlerey hat Mit-
tel uns durch den Körper sehr tief in das Jnnere
der Seele bliken zu lassen, und die Empfindung des
Guten und Bösen, die sie dadurch in uns erweken
kann, sind ebenfalls höchst lebhaft. Sowol die in-
nere Seeligkeit des Menschen, die aus dem Gefühl des
Guten entsteht, als die Verzweiflung die aus dem
Gefühl des gänzlichen Mangels desselben entspringt,
werden schweerlich durch irgend eine Weise lebhafter
empfunden, als durch den Ausdruk dieser Gemüths-
lagen, den wir in Gesicht, Stellung und Bewegung
der Menschen sehen. Selbst in den Werken der
Kunst, darin die leblose Natur geschildert wird, sie
seyen Werke der Rede, oder des Pensels, kann man
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Kra
beyläufig sich dieser Art der Kraft bedienen. Dieses
haben Thomson und Kleist mit großem Vortheile
gethan.

Bey Gegenständen dieser Art, erfodert der Zwek
der Künste eine lebhafte Schilderung des Guten und
Bösen, ihrer Natur so angemessen, daß eine feurige
Begierde für das eine, und ein lebhafter Abscheu
für das andre entstehe. Also fodert die Kunst in
ihren wichtigsten Arbeiten nicht nur einen großen
Künstler, der seinen Gegenstand auf das lebhafteste
darstelle, sondern auch einen rechtschaffenen Mann,
der selbst eine große Seele habe, die jedes Gute und
Böse kenne, und nach Maaßgebung seiner Größe
fühle.

Sehen wir auf alle Arten der Kraft zurüke, die
in den Werken der schönen Künste liegen, so begrei-
fen wir, daß nur die größten Menschen, vollkom-
mene Kürstler seyn können. Es giebt Menschen,
die sich einbilden, daß ein feiner Geschmak an dem
Schönen, den Künstler ausmache. Es erhellet aus
dem, was hier gesagt worden, daß dieses allerdings
eine nothwendige Eigenschaft desselben sey, zugleich
aber, daß sie allein, gerade die niedrigste Classe
der Künstler ausmache, denen man nichts als
Artigkeit zu danken hat. Der große Verstand
allein, kann den Philosophen und den zu Ausrich-
tung der Geschäften brauchbaren Mann ausmachen;
der Geschmak am Schönen allein, macht den ange-
nehmen Mann; das Gefühl des Guten den guten
Mann; aber alles zusammen verbunden macht
die Grundlage zum Künstler aus.

Kragstein.
(Baukunst.)

Ein zum Tragen dienendes Glied in der Baukunst,
das auch von deutschen Baumeistern ofte mit dem
französischen Namen Console genennt wird. Der
Gebrauch der Kragsteine hat einen doppelten Ur-
sprung. Entweder werden sie gebraucht um we-
sentliche Theile eines Gebäudes, dergleichen weit
ausladende Gesimse sind, zu unterstützen, oder nur
einzeln, zur Zierath oder Bequämlichkeit an eine
Wand zusetzende Dinge zu tragen.

Von der ersten Art trift man bisweilen die großen
Kragsteine, an jonischen oder corinthischen Friesen
an, die den Kranz des Gebälks tragen. Jn eben
dieser Absicht setzet man sie auch unter die Fenster-

bänke
G g g g 3
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Kra

Jn den ſchoͤnen Kuͤnſten zeiget ſich das Gute durch
die Schilderungen der Geſinnungen, der Charaktere
und der Handlungen der Menſchen, und in allem
dem, was ſich darauf beziehet: das Gefuͤhl unſrer
innerlichen Kraft und Wuͤrkſamkeit, macht uns ſehr
aufmerkſam auf alles, was ſie reizet. Darum in-
tereſſirt uns auch in den Werken der ſchoͤnen Kuͤnſte
nichts mehr, als die Gegenſtaͤnde, durch welche das
Gefuͤhl des Guten oder Boͤſen rege gemacht wird.
Aus welchem Geſichtspunkt man immer die Kuͤnſte
betrachtet, findet man doch allemal, daß das Gute
oder Boͤſe der intreſſanteſte Stoff derſelben ſey.
Selbſt Vollkommenheit und Schoͤnheit werden nur
durch ihre Beziehung auf das Gute intereſſant.
Das Gute bewuͤrkt die antreibenden und das Boͤſe
die zuruͤktreibenden Kraͤfte: und je mehr wir dieſe
Kraͤfte fuͤr die Erlangung des Guten und Vermei-
dung des Boͤſen uͤben, je mehr ſtaͤrken ſie ſich.

Dadurch alſo werden die ſchoͤnen Kuͤnſte hoͤchſt
wichtig, daß ſie unſre Seelenkraͤfte durch lebhafte
Schilderung des Guten und Boͤſen in einer ſehr
vortheilhaften Wuͤrkſamkeit unterhalten, und darin
liegt die wichtigſte Kraft dieſer Kuͤnſte. Hieruͤber
iſt man ſo durchgehends einig, daß es unnoͤthig iſt,
dieſe Sache ausfuͤhrlicher zu entwikeln.

Daraus folget ganz natuͤrlich, daß der Kuͤnſtler
vorzuͤglich beſorgt ſeyn ſoll, dieſe Art der Kraft in
ſein Werk zu legen. Die dramatiſche und die epi-
ſche Dichtkunſt koͤnnen dieſes in dem weiteſten Um-
fange thun, und ſind deswegen die wichtigſten Zweyge
der Kunſt. Nach ihnen kommt die lyriſche Gat-
tung, die ſo vorzuͤglich geſchikt iſt, jede Empfindung
des Guten und Boͤſen rege zu machen. Die Muſik
aber dienet hauptſaͤchlich ihnen einen hohen Grad
der Lebhaftigkeit zu geben. Die Mahlerey hat Mit-
tel uns durch den Koͤrper ſehr tief in das Jnnere
der Seele bliken zu laſſen, und die Empfindung des
Guten und Boͤſen, die ſie dadurch in uns erweken
kann, ſind ebenfalls hoͤchſt lebhaft. Sowol die in-
nere Seeligkeit des Menſchen, die aus dem Gefuͤhl des
Guten entſteht, als die Verzweiflung die aus dem
Gefuͤhl des gaͤnzlichen Mangels deſſelben entſpringt,
werden ſchweerlich durch irgend eine Weiſe lebhafter
empfunden, als durch den Ausdruk dieſer Gemuͤths-
lagen, den wir in Geſicht, Stellung und Bewegung
der Menſchen ſehen. Selbſt in den Werken der
Kunſt, darin die lebloſe Natur geſchildert wird, ſie
ſeyen Werke der Rede, oder des Penſels, kann man
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Kra
beylaͤufig ſich dieſer Art der Kraft bedienen. Dieſes
haben Thomſon und Kleiſt mit großem Vortheile
gethan.

Bey Gegenſtaͤnden dieſer Art, erfodert der Zwek
der Kuͤnſte eine lebhafte Schilderung des Guten und
Boͤſen, ihrer Natur ſo angemeſſen, daß eine feurige
Begierde fuͤr das eine, und ein lebhafter Abſcheu
fuͤr das andre entſtehe. Alſo fodert die Kunſt in
ihren wichtigſten Arbeiten nicht nur einen großen
Kuͤnſtler, der ſeinen Gegenſtand auf das lebhafteſte
darſtelle, ſondern auch einen rechtſchaffenen Mann,
der ſelbſt eine große Seele habe, die jedes Gute und
Boͤſe kenne, und nach Maaßgebung ſeiner Groͤße
fuͤhle.

Sehen wir auf alle Arten der Kraft zuruͤke, die
in den Werken der ſchoͤnen Kuͤnſte liegen, ſo begrei-
fen wir, daß nur die groͤßten Menſchen, vollkom-
mene Kuͤrſtler ſeyn koͤnnen. Es giebt Menſchen,
die ſich einbilden, daß ein feiner Geſchmak an dem
Schoͤnen, den Kuͤnſtler ausmache. Es erhellet aus
dem, was hier geſagt worden, daß dieſes allerdings
eine nothwendige Eigenſchaft deſſelben ſey, zugleich
aber, daß ſie allein, gerade die niedrigſte Claſſe
der Kuͤnſtler ausmache, denen man nichts als
Artigkeit zu danken hat. Der große Verſtand
allein, kann den Philoſophen und den zu Ausrich-
tung der Geſchaͤften brauchbaren Mann ausmachen;
der Geſchmak am Schoͤnen allein, macht den ange-
nehmen Mann; das Gefuͤhl des Guten den guten
Mann; aber alles zuſammen verbunden macht
die Grundlage zum Kuͤnſtler aus.

Kragſtein.
(Baukunſt.)

Ein zum Tragen dienendes Glied in der Baukunſt,
das auch von deutſchen Baumeiſtern ofte mit dem
franzoͤſiſchen Namen Conſole genennt wird. Der
Gebrauch der Kragſteine hat einen doppelten Ur-
ſprung. Entweder werden ſie gebraucht um we-
ſentliche Theile eines Gebaͤudes, dergleichen weit
ausladende Geſimſe ſind, zu unterſtuͤtzen, oder nur
einzeln, zur Zierath oder Bequaͤmlichkeit an eine
Wand zuſetzende Dinge zu tragen.

Von der erſten Art trift man bisweilen die großen
Kragſteine, an joniſchen oder corinthiſchen Frieſen
an, die den Kranz des Gebaͤlks tragen. Jn eben
dieſer Abſicht ſetzet man ſie auch unter die Fenſter-

baͤnke
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[605/0040] Kra Kra Jn den ſchoͤnen Kuͤnſten zeiget ſich das Gute durch die Schilderungen der Geſinnungen, der Charaktere und der Handlungen der Menſchen, und in allem dem, was ſich darauf beziehet: das Gefuͤhl unſrer innerlichen Kraft und Wuͤrkſamkeit, macht uns ſehr aufmerkſam auf alles, was ſie reizet. Darum in- tereſſirt uns auch in den Werken der ſchoͤnen Kuͤnſte nichts mehr, als die Gegenſtaͤnde, durch welche das Gefuͤhl des Guten oder Boͤſen rege gemacht wird. Aus welchem Geſichtspunkt man immer die Kuͤnſte betrachtet, findet man doch allemal, daß das Gute oder Boͤſe der intreſſanteſte Stoff derſelben ſey. Selbſt Vollkommenheit und Schoͤnheit werden nur durch ihre Beziehung auf das Gute intereſſant. Das Gute bewuͤrkt die antreibenden und das Boͤſe die zuruͤktreibenden Kraͤfte: und je mehr wir dieſe Kraͤfte fuͤr die Erlangung des Guten und Vermei- dung des Boͤſen uͤben, je mehr ſtaͤrken ſie ſich. Dadurch alſo werden die ſchoͤnen Kuͤnſte hoͤchſt wichtig, daß ſie unſre Seelenkraͤfte durch lebhafte Schilderung des Guten und Boͤſen in einer ſehr vortheilhaften Wuͤrkſamkeit unterhalten, und darin liegt die wichtigſte Kraft dieſer Kuͤnſte. Hieruͤber iſt man ſo durchgehends einig, daß es unnoͤthig iſt, dieſe Sache ausfuͤhrlicher zu entwikeln. Daraus folget ganz natuͤrlich, daß der Kuͤnſtler vorzuͤglich beſorgt ſeyn ſoll, dieſe Art der Kraft in ſein Werk zu legen. Die dramatiſche und die epi- ſche Dichtkunſt koͤnnen dieſes in dem weiteſten Um- fange thun, und ſind deswegen die wichtigſten Zweyge der Kunſt. Nach ihnen kommt die lyriſche Gat- tung, die ſo vorzuͤglich geſchikt iſt, jede Empfindung des Guten und Boͤſen rege zu machen. Die Muſik aber dienet hauptſaͤchlich ihnen einen hohen Grad der Lebhaftigkeit zu geben. Die Mahlerey hat Mit- tel uns durch den Koͤrper ſehr tief in das Jnnere der Seele bliken zu laſſen, und die Empfindung des Guten und Boͤſen, die ſie dadurch in uns erweken kann, ſind ebenfalls hoͤchſt lebhaft. Sowol die in- nere Seeligkeit des Menſchen, die aus dem Gefuͤhl des Guten entſteht, als die Verzweiflung die aus dem Gefuͤhl des gaͤnzlichen Mangels deſſelben entſpringt, werden ſchweerlich durch irgend eine Weiſe lebhafter empfunden, als durch den Ausdruk dieſer Gemuͤths- lagen, den wir in Geſicht, Stellung und Bewegung der Menſchen ſehen. Selbſt in den Werken der Kunſt, darin die lebloſe Natur geſchildert wird, ſie ſeyen Werke der Rede, oder des Penſels, kann man beylaͤufig ſich dieſer Art der Kraft bedienen. Dieſes haben Thomſon und Kleiſt mit großem Vortheile gethan. Bey Gegenſtaͤnden dieſer Art, erfodert der Zwek der Kuͤnſte eine lebhafte Schilderung des Guten und Boͤſen, ihrer Natur ſo angemeſſen, daß eine feurige Begierde fuͤr das eine, und ein lebhafter Abſcheu fuͤr das andre entſtehe. Alſo fodert die Kunſt in ihren wichtigſten Arbeiten nicht nur einen großen Kuͤnſtler, der ſeinen Gegenſtand auf das lebhafteſte darſtelle, ſondern auch einen rechtſchaffenen Mann, der ſelbſt eine große Seele habe, die jedes Gute und Boͤſe kenne, und nach Maaßgebung ſeiner Groͤße fuͤhle. Sehen wir auf alle Arten der Kraft zuruͤke, die in den Werken der ſchoͤnen Kuͤnſte liegen, ſo begrei- fen wir, daß nur die groͤßten Menſchen, vollkom- mene Kuͤrſtler ſeyn koͤnnen. Es giebt Menſchen, die ſich einbilden, daß ein feiner Geſchmak an dem Schoͤnen, den Kuͤnſtler ausmache. Es erhellet aus dem, was hier geſagt worden, daß dieſes allerdings eine nothwendige Eigenſchaft deſſelben ſey, zugleich aber, daß ſie allein, gerade die niedrigſte Claſſe der Kuͤnſtler ausmache, denen man nichts als Artigkeit zu danken hat. Der große Verſtand allein, kann den Philoſophen und den zu Ausrich- tung der Geſchaͤften brauchbaren Mann ausmachen; der Geſchmak am Schoͤnen allein, macht den ange- nehmen Mann; das Gefuͤhl des Guten den guten Mann; aber alles zuſammen verbunden macht die Grundlage zum Kuͤnſtler aus. Kragſtein. (Baukunſt.) Ein zum Tragen dienendes Glied in der Baukunſt, das auch von deutſchen Baumeiſtern ofte mit dem franzoͤſiſchen Namen Conſole genennt wird. Der Gebrauch der Kragſteine hat einen doppelten Ur- ſprung. Entweder werden ſie gebraucht um we- ſentliche Theile eines Gebaͤudes, dergleichen weit ausladende Geſimſe ſind, zu unterſtuͤtzen, oder nur einzeln, zur Zierath oder Bequaͤmlichkeit an eine Wand zuſetzende Dinge zu tragen. Von der erſten Art trift man bisweilen die großen Kragſteine, an joniſchen oder corinthiſchen Frieſen an, die den Kranz des Gebaͤlks tragen. Jn eben dieſer Abſicht ſetzet man ſie auch unter die Fenſter- baͤnke G g g g 3

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 605. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/40>, abgerufen am 20.11.2024.