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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Rec

Alle diese Beyspiehle sind von Graun, weil Nie-
mand, als er, so durchgängig gewußt hat, jeden
Ausdruk durch die begleitende Harmonie zu erheben,
und weil Niemand, als er, bey dem richtigsten Ge-
fühl die Harmonie so in seiner Gewalt hatte. Man
darf seine Recitative nur gegen andere halten, um
hievon überzeugt zu seyn.

Das Piano und Forte der zwölften Regel geht
eigentlich nur den Sänger an, in so fern es ihm
nicht vorgezeichnet ist, ob es gleich besser gethan wäre,
daß solches sowol, als auch die Bewegung bey jeder
Abänderung des Affekts, ihm deutlich vorgezeichnet
würde, zumal in Kirchenrecitativen, wo man sich
so wenig auf den Sänger verlassen kann. Statt
eines f. sezt man oft im begleitenden Baß lauter
Viertelnoten mit Viertelpausen, statt Zweyviertel-
noten, und läßt dann den Baß, wenn der Affekt
sanfter oder trauriger wird, mit einer langen Note,
über welcher tenuto geschrieben wird, piano eintre-
ten, welches an Ort und Stelle von ungemein gu-
ter Würkung ist.

Bey der dreyzehnten Regel ist noch anzumerken, daß
das Arioso fürnehmlich auch alsdenn gut angebracht
ist, wenn solche Säze bis auf einen gewissen Grad
der Empfindung gestiegen sind, und daselbst ver-
weilen. Oft kann eine einzige lange Note, zu wel-
cher der Baß eine taktmäßige Bewegung annimmt,
das ganze Arioso seyn; oft aber ist es auch länger.
Beyspiele sind bey XXXVI zu sehen.

Ein Beyspiel der vierzehnten Regel ist das ganze
Recitativ der Cornelia aus dem ersten Akt der Oper
Cleopatra von Gtaun. Da diese Oper sehr rar ge-
worden ist, und Beyspiele dieser Art selten sind, so
wird es vielleicht einigen nicht unangenehm seyn, das
Recitativ hier zu finden, da es nicht lang ist. Die
Begleitung der Violinen und der Bratsche ist in dem
obersten System zusammengezogen. S. XXXVII.

Jn Recitativen mit Accompagnement findet man
hin und wieder Stükweise solche Stellen, wo der
Sänger verbunden ist, im Takt zu singen, wie z. B.
in den beyden Recitativen des Graunschen Orato-
riums: Gethsemane! etc. und Es steigen Sera-
phim
etc. welche zugleich als Muster des vollkomme-
nen Accompagnements, dessen die lezte Regel von
oben Erwähnung thut, dienen können.

Nichts kann abgeschmakter, und dem guten Ge-
schmak und dem Endzwek des accompagnirten Re-
citatives so sehr zuwieder seyn, als Mahlereyen über
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Rec
Worte oder Säze, die mit der Hauptempfindung
nichts gemein haben. Man schaudert vor Verdruß,
wenn man in den Telemannischen Tod Jesu bey den
allerrührendsten Stellen statt leidenschaftlicher Töne
das Herz klopfen, den Schweiß die Schläf' herun-
terrollen, gespizte Keile einschlagen, die Väter hö-
nen, und den Schmerz in des Helden Seele, wie
eine Sinfonie, wüten hört. Selbst in Recitativen
ohne Accompagnement war Telemann ein eiteler
Mahler; man sehe z. B. wie ein Christ durch die
rauhe Bahn gehen muß, und im Heulen fröhlich
ist. S. XXXVIII.

Nach welchen Regeln der Harmonie mögen sich
doch wohl solche Fortschreitungen entschuldigen
lassen?

Keine andere Mahlereyen finden im Accompagne-
ment statt, als die die Gemüthsbewegung der reci-
tirenden Person ausdrüken. Diese muß der Ton-
sezer zu mahlen verstehen, wenn er durch seine Mu-
sik rühren will. Man halte in dem obenerwähnten
lezten Accompagnement von Graun die Stellen:
Zerreiße Land! etc. gegen das Telemannische über
die nämlichen Worte. Da wo Graun uns durch
die richtige Schilderung der heftigsten Gemüthsbe-
wegung ins Jnnerste der Seelen dringt, zerreißt
Telemann das Land, steigt in die Gräber und läßt
die Väter in der Bratsche ans Licht steigen. Man
hört blos den Tonsezer, und gerade da, wo man
ihn am wenigsten hören will.

Ueberhaupt müssen alle Spielereyen mit Wor-
ten, die kurz nach einander wiederholet werden, in-
dem man die Sylbe oder das Wort, das das erste-
mal höhere Töne hatte, zum zweytenmal unter tie-
fere Töne legt, dergleichen bey XXXIX zu sehen sind,
vermieden werden.

Hr. Scheibe hält in seiner Abhandlung für gut,
die Schlußcadenzen des Basses abwechselnd bey
mäunlichen und weiblichen Cadenzen anzubringen.
Dieses gehört mit zu den Spielereyen, deren eben
Erwähnung geschehen.

Rede.
(Beredsamkeit.)

Jm allgemeinen philosophischen Sinn wird jeder
Ausdruk der Gedanken, in so fern er durch Worte
geschieht, eine Rede genennt. Wir nehmen hier
das Wort in der besondern Bedeutung, in so fern
es ein Werk der Beredsamkeit bezeichnet, in welchem

man-
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Rec

Alle dieſe Beyſpiehle ſind von Graun, weil Nie-
mand, als er, ſo durchgaͤngig gewußt hat, jeden
Ausdruk durch die begleitende Harmonie zu erheben,
und weil Niemand, als er, bey dem richtigſten Ge-
fuͤhl die Harmonie ſo in ſeiner Gewalt hatte. Man
darf ſeine Recitative nur gegen andere halten, um
hievon uͤberzeugt zu ſeyn.

Das Piano und Forte der zwoͤlften Regel geht
eigentlich nur den Saͤnger an, in ſo fern es ihm
nicht vorgezeichnet iſt, ob es gleich beſſer gethan waͤre,
daß ſolches ſowol, als auch die Bewegung bey jeder
Abaͤnderung des Affekts, ihm deutlich vorgezeichnet
wuͤrde, zumal in Kirchenrecitativen, wo man ſich
ſo wenig auf den Saͤnger verlaſſen kann. Statt
eines f. ſezt man oft im begleitenden Baß lauter
Viertelnoten mit Viertelpauſen, ſtatt Zweyviertel-
noten, und laͤßt dann den Baß, wenn der Affekt
ſanfter oder trauriger wird, mit einer langen Note,
uͤber welcher tenuto geſchrieben wird, piano eintre-
ten, welches an Ort und Stelle von ungemein gu-
ter Wuͤrkung iſt.

Bey der dreyzehnten Regel iſt noch anzumerken, daß
das Arioſo fuͤrnehmlich auch alsdenn gut angebracht
iſt, wenn ſolche Saͤze bis auf einen gewiſſen Grad
der Empfindung geſtiegen ſind, und daſelbſt ver-
weilen. Oft kann eine einzige lange Note, zu wel-
cher der Baß eine taktmaͤßige Bewegung annimmt,
das ganze Arioſo ſeyn; oft aber iſt es auch laͤnger.
Beyſpiele ſind bey XXXVI zu ſehen.

Ein Beyſpiel der vierzehnten Regel iſt das ganze
Recitativ der Cornelia aus dem erſten Akt der Oper
Cleopatra von Gtaun. Da dieſe Oper ſehr rar ge-
worden iſt, und Beyſpiele dieſer Art ſelten ſind, ſo
wird es vielleicht einigen nicht unangenehm ſeyn, das
Recitativ hier zu finden, da es nicht lang iſt. Die
Begleitung der Violinen und der Bratſche iſt in dem
oberſten Syſtem zuſammengezogen. S. XXXVII.

Jn Recitativen mit Accompagnement findet man
hin und wieder Stuͤkweiſe ſolche Stellen, wo der
Saͤnger verbunden iſt, im Takt zu ſingen, wie z. B.
in den beyden Recitativen des Graunſchen Orato-
riums: Gethſemane! ꝛc. und Es ſteigen Sera-
phim
ꝛc. welche zugleich als Muſter des vollkomme-
nen Accompagnements, deſſen die lezte Regel von
oben Erwaͤhnung thut, dienen koͤnnen.

Nichts kann abgeſchmakter, und dem guten Ge-
ſchmak und dem Endzwek des accompagnirten Re-
citatives ſo ſehr zuwieder ſeyn, als Mahlereyen uͤber
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Rec
Worte oder Saͤze, die mit der Hauptempfindung
nichts gemein haben. Man ſchaudert vor Verdruß,
wenn man in den Telemanniſchen Tod Jeſu bey den
allerruͤhrendſten Stellen ſtatt leidenſchaftlicher Toͤne
das Herz klopfen, den Schweiß die Schlaͤf’ herun-
terrollen, geſpizte Keile einſchlagen, die Vaͤter hoͤ-
nen, und den Schmerz in des Helden Seele, wie
eine Sinfonie, wuͤten hoͤrt. Selbſt in Recitativen
ohne Accompagnement war Telemann ein eiteler
Mahler; man ſehe z. B. wie ein Chriſt durch die
rauhe Bahn gehen muß, und im Heulen froͤhlich
iſt. S. XXXVIII.

Nach welchen Regeln der Harmonie moͤgen ſich
doch wohl ſolche Fortſchreitungen entſchuldigen
laſſen?

Keine andere Mahlereyen finden im Accompagne-
ment ſtatt, als die die Gemuͤthsbewegung der reci-
tirenden Perſon ausdruͤken. Dieſe muß der Ton-
ſezer zu mahlen verſtehen, wenn er durch ſeine Mu-
ſik ruͤhren will. Man halte in dem obenerwaͤhnten
lezten Accompagnement von Graun die Stellen:
Zerreiße Land! ꝛc. gegen das Telemanniſche uͤber
die naͤmlichen Worte. Da wo Graun uns durch
die richtige Schilderung der heftigſten Gemuͤthsbe-
wegung ins Jnnerſte der Seelen dringt, zerreißt
Telemann das Land, ſteigt in die Graͤber und laͤßt
die Vaͤter in der Bratſche ans Licht ſteigen. Man
hoͤrt blos den Tonſezer, und gerade da, wo man
ihn am wenigſten hoͤren will.

Ueberhaupt muͤſſen alle Spielereyen mit Wor-
ten, die kurz nach einander wiederholet werden, in-
dem man die Sylbe oder das Wort, das das erſte-
mal hoͤhere Toͤne hatte, zum zweytenmal unter tie-
fere Toͤne legt, dergleichen bey XXXIX zu ſehen ſind,
vermieden werden.

Hr. Scheibe haͤlt in ſeiner Abhandlung fuͤr gut,
die Schlußcadenzen des Baſſes abwechſelnd bey
maͤunlichen und weiblichen Cadenzen anzubringen.
Dieſes gehoͤrt mit zu den Spielereyen, deren eben
Erwaͤhnung geſchehen.

Rede.
(Beredſamkeit.)

Jm allgemeinen philoſophiſchen Sinn wird jeder
Ausdruk der Gedanken, in ſo fern er durch Worte
geſchieht, eine Rede genennt. Wir nehmen hier
das Wort in der beſondern Bedeutung, in ſo fern
es ein Werk der Beredſamkeit bezeichnet, in welchem

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[953[935]/0382] Rec Rec Alle dieſe Beyſpiehle ſind von Graun, weil Nie- mand, als er, ſo durchgaͤngig gewußt hat, jeden Ausdruk durch die begleitende Harmonie zu erheben, und weil Niemand, als er, bey dem richtigſten Ge- fuͤhl die Harmonie ſo in ſeiner Gewalt hatte. Man darf ſeine Recitative nur gegen andere halten, um hievon uͤberzeugt zu ſeyn. Das Piano und Forte der zwoͤlften Regel geht eigentlich nur den Saͤnger an, in ſo fern es ihm nicht vorgezeichnet iſt, ob es gleich beſſer gethan waͤre, daß ſolches ſowol, als auch die Bewegung bey jeder Abaͤnderung des Affekts, ihm deutlich vorgezeichnet wuͤrde, zumal in Kirchenrecitativen, wo man ſich ſo wenig auf den Saͤnger verlaſſen kann. Statt eines f. ſezt man oft im begleitenden Baß lauter Viertelnoten mit Viertelpauſen, ſtatt Zweyviertel- noten, und laͤßt dann den Baß, wenn der Affekt ſanfter oder trauriger wird, mit einer langen Note, uͤber welcher tenuto geſchrieben wird, piano eintre- ten, welches an Ort und Stelle von ungemein gu- ter Wuͤrkung iſt. Bey der dreyzehnten Regel iſt noch anzumerken, daß das Arioſo fuͤrnehmlich auch alsdenn gut angebracht iſt, wenn ſolche Saͤze bis auf einen gewiſſen Grad der Empfindung geſtiegen ſind, und daſelbſt ver- weilen. Oft kann eine einzige lange Note, zu wel- cher der Baß eine taktmaͤßige Bewegung annimmt, das ganze Arioſo ſeyn; oft aber iſt es auch laͤnger. Beyſpiele ſind bey XXXVI zu ſehen. Ein Beyſpiel der vierzehnten Regel iſt das ganze Recitativ der Cornelia aus dem erſten Akt der Oper Cleopatra von Gtaun. Da dieſe Oper ſehr rar ge- worden iſt, und Beyſpiele dieſer Art ſelten ſind, ſo wird es vielleicht einigen nicht unangenehm ſeyn, das Recitativ hier zu finden, da es nicht lang iſt. Die Begleitung der Violinen und der Bratſche iſt in dem oberſten Syſtem zuſammengezogen. S. XXXVII. Jn Recitativen mit Accompagnement findet man hin und wieder Stuͤkweiſe ſolche Stellen, wo der Saͤnger verbunden iſt, im Takt zu ſingen, wie z. B. in den beyden Recitativen des Graunſchen Orato- riums: Gethſemane! ꝛc. und Es ſteigen Sera- phim ꝛc. welche zugleich als Muſter des vollkomme- nen Accompagnements, deſſen die lezte Regel von oben Erwaͤhnung thut, dienen koͤnnen. Nichts kann abgeſchmakter, und dem guten Ge- ſchmak und dem Endzwek des accompagnirten Re- citatives ſo ſehr zuwieder ſeyn, als Mahlereyen uͤber Worte oder Saͤze, die mit der Hauptempfindung nichts gemein haben. Man ſchaudert vor Verdruß, wenn man in den Telemanniſchen Tod Jeſu bey den allerruͤhrendſten Stellen ſtatt leidenſchaftlicher Toͤne das Herz klopfen, den Schweiß die Schlaͤf’ herun- terrollen, geſpizte Keile einſchlagen, die Vaͤter hoͤ- nen, und den Schmerz in des Helden Seele, wie eine Sinfonie, wuͤten hoͤrt. Selbſt in Recitativen ohne Accompagnement war Telemann ein eiteler Mahler; man ſehe z. B. wie ein Chriſt durch die rauhe Bahn gehen muß, und im Heulen froͤhlich iſt. S. XXXVIII. Nach welchen Regeln der Harmonie moͤgen ſich doch wohl ſolche Fortſchreitungen entſchuldigen laſſen? Keine andere Mahlereyen finden im Accompagne- ment ſtatt, als die die Gemuͤthsbewegung der reci- tirenden Perſon ausdruͤken. Dieſe muß der Ton- ſezer zu mahlen verſtehen, wenn er durch ſeine Mu- ſik ruͤhren will. Man halte in dem obenerwaͤhnten lezten Accompagnement von Graun die Stellen: Zerreiße Land! ꝛc. gegen das Telemanniſche uͤber die naͤmlichen Worte. Da wo Graun uns durch die richtige Schilderung der heftigſten Gemuͤthsbe- wegung ins Jnnerſte der Seelen dringt, zerreißt Telemann das Land, ſteigt in die Graͤber und laͤßt die Vaͤter in der Bratſche ans Licht ſteigen. Man hoͤrt blos den Tonſezer, und gerade da, wo man ihn am wenigſten hoͤren will. Ueberhaupt muͤſſen alle Spielereyen mit Wor- ten, die kurz nach einander wiederholet werden, in- dem man die Sylbe oder das Wort, das das erſte- mal hoͤhere Toͤne hatte, zum zweytenmal unter tie- fere Toͤne legt, dergleichen bey XXXIX zu ſehen ſind, vermieden werden. Hr. Scheibe haͤlt in ſeiner Abhandlung fuͤr gut, die Schlußcadenzen des Baſſes abwechſelnd bey maͤunlichen und weiblichen Cadenzen anzubringen. Dieſes gehoͤrt mit zu den Spielereyen, deren eben Erwaͤhnung geſchehen. Rede. (Beredſamkeit.) Jm allgemeinen philoſophiſchen Sinn wird jeder Ausdruk der Gedanken, in ſo fern er durch Worte geſchieht, eine Rede genennt. Wir nehmen hier das Wort in der beſondern Bedeutung, in ſo fern es ein Werk der Beredſamkeit bezeichnet, in welchem man-

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 953[935]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/382>, abgerufen am 21.12.2024.