fremde Werke zum Spiehl nachahmen, deren Ab- sicht sie einzusehen, und deren Geist und Kraft sie zu fühlen nicht im Stande sind. So wurden in den Schulen der späthern griechischen Rhetoren, Reden über Staatsangelegenheiten gehalten, als kein Staat mehr vorhanden war. Jn unsern Zei- ten sind alle Künste mit solchen Nachäffungen über- häuft. Man macht Gemählde von griechischen Helden und griechischen Religionsgebräuchen, die gerade so viel Realität haben, als die Festungen, die Kinder im Sand aufführen, um sie zum Spiehl zu vertheidigen und anzugreifen. Wir haben eine Menge horazischer, pindarischer, anakreontischer Oden und Dithyramben, die eben so entstanden sind, wie jene kindische Festungen. Solche Werke sind bloße Larven, die etwas von der Form der Origi- nalwerke haben, ohne Spuhr des Geistes der diese belebt.
Es ist nicht unangenehm auch ganz besondere und etwas umständlichere Nachahmungen fremder Werke zu sehen, wenn sie von Männern die eigenes Genie haben, ausgeführt werden. Die Hauptsa- chen sind alsdenn in dem Original und in der Nach- ahmung dieselbigen; aber das eigene Gepräg des Genies zeiget sich alsdenn in den besondern Umstän- den, in den kleinern Verziehrungen und in man- cherley Originalwendungen, die dem Nachahmer ei- gen sind, und die den Gegenstand, den wir im Ori- ginal auf eine gewisse Weise gesehen haben, uns auf eine andere, nicht weniger intressante Weise se- hen lassen. So sind die Nachahmungen einiger Comödien des Terenz, die Moliere nach seiner Art behandelt hat. Die Charaktere sind im Grund die- selben, die wir bey dem Römer antreffen, aber sie find durch das Besondere und Originale der fran- zösischen Sitten und Lebensart gleichsam anders schattirt. Dadurch erkennen wir, wie Menschen von einerley Genie und Charakter nach Verschie- denheit der Zeiten und Oerter sich in verschiedenen Gestalten zeigen. So sind auch viele Fabeln, Er- zählungen und Lieder, die unser Hagedorn nach französischen Originalen, auf die ihm eigene Art behandelt, und denen er das Gepräg seines eigenen Genies eingedrükt hat. Wie man mit Vergnügen die vielerley Veränderungen bemerkt, die das ver- schiedene Clima und der veränderte Boden den ver- schiedenen Weinen giebt, die im Grunde aus der- selbigen Pflanze entsprungen sind; so ist es auch [Spaltenumbruch]
Nach
angenehm die veränderten Würkungen des Genies an Werken der Kunst von einerley Stoff zu sehen.
Bey den Alten war es nicht selten, daß auch gute Künstler die Werke der größten Meister nachahme- ten. Man sieht noch izt auf geschnittenen Steinen Nachahmungen größerer Werke der Bildhauerey, die sehr hochzuschätzen sind. Daß die neuern Dich- ter die alten so wol in Formen ganzer Gedichte, als in einzelen Theilen nachahmen, ist also auch nicht zu tadeln: nur muß man eben nicht das zur unver- änderlichen Regel machen wollen, was die alten gut gefunden haben. Wir können gute dramatische Stücke, gute Oden, gute Elegien haben, die in der Form sich sehr weit von den alten Mustern entfer- nen. Nur das, was unmittelbar aus dem Wesen einer Gattung folget, muß unveränderlich beybe- halten werden. (*)
Nachahmungen. (Musik.)
Melodische aufeinander folgende Säze, die mehr oder weniger Aehnlichkeit unter einander haben. Jnsgemein werden sie nach dem lateinischen Aus- druk Jmitationen genennt. Man bringet sie so wol in einer, als in mehreren Stimmen, bald mit strengerer, bald mit weniger genauer Aehnlich- keit an, und nennet sie deswegen strenge, oder freye Nachahmungen. Jene kommen meistens in Fugen und sugirten Sachen, diese in allen sigurirten Ton- stüken vor.
Wenn einmal ein melodischer Saz gefunden wor- den, der den Charakter der Empfindung, die man ausdrücken will, hat; so muß auch jeder ihm mehr oder weniger ähnliche Satz, etwas von diesem Cha- rakter an sich haben. Und da die singende Sprach in Ansehung der Mittel sich bestimmt auszudrüken, unendlich eingeschränkter ist, als die redende; so mußte sie, um einen hinlänglichen Vorrath melo- discher Gedanken von gutem Ausdruk zu bekommen, sich des Mittels der Nachahmung bedienen, um in einer Melodie die Einheit des Charakters zu erhal- ten. Tonsezer von fruchtbarem Genie wissen zwar in einer Melodie mehrerley ganz verschiedene, aber im Charakter ähnliche Gedanken anzubringen: den- noch können sie die Nachahmungen nicht wol ent- behren, und würden es auch nicht thun, weil es angenehm ist, denselben Gedanken in mehrern Wen- dungen und in verschiedenen Schattirungen zu hö-
ren.
(*) Mit diesem Art. verbinde man den Art Na- tur.
[Spaltenumbruch]
Nach
fremde Werke zum Spiehl nachahmen, deren Ab- ſicht ſie einzuſehen, und deren Geiſt und Kraft ſie zu fuͤhlen nicht im Stande ſind. So wurden in den Schulen der ſpaͤthern griechiſchen Rhetoren, Reden uͤber Staatsangelegenheiten gehalten, als kein Staat mehr vorhanden war. Jn unſern Zei- ten ſind alle Kuͤnſte mit ſolchen Nachaͤffungen uͤber- haͤuft. Man macht Gemaͤhlde von griechiſchen Helden und griechiſchen Religionsgebraͤuchen, die gerade ſo viel Realitaͤt haben, als die Feſtungen, die Kinder im Sand auffuͤhren, um ſie zum Spiehl zu vertheidigen und anzugreifen. Wir haben eine Menge horaziſcher, pindariſcher, anakreontiſcher Oden und Dithyramben, die eben ſo entſtanden ſind, wie jene kindiſche Feſtungen. Solche Werke ſind bloße Larven, die etwas von der Form der Origi- nalwerke haben, ohne Spuhr des Geiſtes der dieſe belebt.
Es iſt nicht unangenehm auch ganz beſondere und etwas umſtaͤndlichere Nachahmungen fremder Werke zu ſehen, wenn ſie von Maͤnnern die eigenes Genie haben, ausgefuͤhrt werden. Die Hauptſa- chen ſind alsdenn in dem Original und in der Nach- ahmung dieſelbigen; aber das eigene Gepraͤg des Genies zeiget ſich alsdenn in den beſondern Umſtaͤn- den, in den kleinern Verziehrungen und in man- cherley Originalwendungen, die dem Nachahmer ei- gen ſind, und die den Gegenſtand, den wir im Ori- ginal auf eine gewiſſe Weiſe geſehen haben, uns auf eine andere, nicht weniger intreſſante Weiſe ſe- hen laſſen. So ſind die Nachahmungen einiger Comoͤdien des Terenz, die Moliere nach ſeiner Art behandelt hat. Die Charaktere ſind im Grund die- ſelben, die wir bey dem Roͤmer antreffen, aber ſie find durch das Beſondere und Originale der fran- zoͤſiſchen Sitten und Lebensart gleichſam anders ſchattirt. Dadurch erkennen wir, wie Menſchen von einerley Genie und Charakter nach Verſchie- denheit der Zeiten und Oerter ſich in verſchiedenen Geſtalten zeigen. So ſind auch viele Fabeln, Er- zaͤhlungen und Lieder, die unſer Hagedorn nach franzoͤſiſchen Originalen, auf die ihm eigene Art behandelt, und denen er das Gepraͤg ſeines eigenen Genies eingedruͤkt hat. Wie man mit Vergnuͤgen die vielerley Veraͤnderungen bemerkt, die das ver- ſchiedene Clima und der veraͤnderte Boden den ver- ſchiedenen Weinen giebt, die im Grunde aus der- ſelbigen Pflanze entſprungen ſind; ſo iſt es auch [Spaltenumbruch]
Nach
angenehm die veraͤnderten Wuͤrkungen des Genies an Werken der Kunſt von einerley Stoff zu ſehen.
Bey den Alten war es nicht ſelten, daß auch gute Kuͤnſtler die Werke der groͤßten Meiſter nachahme- ten. Man ſieht noch izt auf geſchnittenen Steinen Nachahmungen groͤßerer Werke der Bildhauerey, die ſehr hochzuſchaͤtzen ſind. Daß die neuern Dich- ter die alten ſo wol in Formen ganzer Gedichte, als in einzelen Theilen nachahmen, iſt alſo auch nicht zu tadeln: nur muß man eben nicht das zur unver- aͤnderlichen Regel machen wollen, was die alten gut gefunden haben. Wir koͤnnen gute dramatiſche Stuͤcke, gute Oden, gute Elegien haben, die in der Form ſich ſehr weit von den alten Muſtern entfer- nen. Nur das, was unmittelbar aus dem Weſen einer Gattung folget, muß unveraͤnderlich beybe- halten werden. (*)
Nachahmungen. (Muſik.)
Melodiſche aufeinander folgende Saͤze, die mehr oder weniger Aehnlichkeit unter einander haben. Jnsgemein werden ſie nach dem lateiniſchen Aus- druk Jmitationen genennt. Man bringet ſie ſo wol in einer, als in mehreren Stimmen, bald mit ſtrengerer, bald mit weniger genauer Aehnlich- keit an, und nennet ſie deswegen ſtrenge, oder freye Nachahmungen. Jene kommen meiſtens in Fugen und ſugirten Sachen, dieſe in allen ſigurirten Ton- ſtuͤken vor.
Wenn einmal ein melodiſcher Saz gefunden wor- den, der den Charakter der Empfindung, die man ausdruͤcken will, hat; ſo muß auch jeder ihm mehr oder weniger aͤhnliche Satz, etwas von dieſem Cha- rakter an ſich haben. Und da die ſingende Sprach in Anſehung der Mittel ſich beſtimmt auszudruͤken, unendlich eingeſchraͤnkter iſt, als die redende; ſo mußte ſie, um einen hinlaͤnglichen Vorrath melo- diſcher Gedanken von gutem Ausdruk zu bekommen, ſich des Mittels der Nachahmung bedienen, um in einer Melodie die Einheit des Charakters zu erhal- ten. Tonſezer von fruchtbarem Genie wiſſen zwar in einer Melodie mehrerley ganz verſchiedene, aber im Charakter aͤhnliche Gedanken anzubringen: den- noch koͤnnen ſie die Nachahmungen nicht wol ent- behren, und wuͤrden es auch nicht thun, weil es angenehm iſt, denſelben Gedanken in mehrern Wen- dungen und in verſchiedenen Schattirungen zu hoͤ-
ren.
(*) Mit dieſem Art. verbinde man den Art Na- tur.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0215"n="798[780]"/><cb/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#g">Nach</hi></fw><lb/>
fremde Werke zum Spiehl nachahmen, deren Ab-<lb/>ſicht ſie einzuſehen, und deren Geiſt und Kraft ſie<lb/>
zu fuͤhlen nicht im Stande ſind. So wurden in<lb/>
den Schulen der ſpaͤthern griechiſchen Rhetoren,<lb/>
Reden uͤber Staatsangelegenheiten gehalten, als<lb/>
kein Staat mehr vorhanden war. Jn unſern Zei-<lb/>
ten ſind alle Kuͤnſte mit ſolchen Nachaͤffungen uͤber-<lb/>
haͤuft. Man macht Gemaͤhlde von griechiſchen<lb/>
Helden und griechiſchen Religionsgebraͤuchen, die<lb/>
gerade ſo viel Realitaͤt haben, als die Feſtungen,<lb/>
die Kinder im Sand auffuͤhren, um ſie zum Spiehl<lb/>
zu vertheidigen und anzugreifen. Wir haben eine<lb/>
Menge horaziſcher, pindariſcher, anakreontiſcher<lb/>
Oden und Dithyramben, die eben ſo entſtanden ſind,<lb/>
wie jene kindiſche Feſtungen. Solche Werke ſind<lb/>
bloße Larven, die etwas von der Form der Origi-<lb/>
nalwerke haben, ohne Spuhr des Geiſtes der dieſe<lb/>
belebt.</p><lb/><p>Es iſt nicht unangenehm auch ganz beſondere<lb/>
und etwas umſtaͤndlichere Nachahmungen fremder<lb/>
Werke zu ſehen, wenn ſie von Maͤnnern die eigenes<lb/>
Genie haben, ausgefuͤhrt werden. Die Hauptſa-<lb/>
chen ſind alsdenn in dem Original und in der Nach-<lb/>
ahmung dieſelbigen; aber das eigene Gepraͤg des<lb/>
Genies zeiget ſich alsdenn in den beſondern Umſtaͤn-<lb/>
den, in den kleinern Verziehrungen und in man-<lb/>
cherley Originalwendungen, die dem Nachahmer ei-<lb/>
gen ſind, und die den Gegenſtand, den wir im Ori-<lb/>
ginal auf eine gewiſſe Weiſe geſehen haben, uns<lb/>
auf eine andere, nicht weniger intreſſante Weiſe ſe-<lb/>
hen laſſen. So ſind die Nachahmungen einiger<lb/>
Comoͤdien des Terenz, die Moliere nach ſeiner Art<lb/>
behandelt hat. Die Charaktere ſind im Grund die-<lb/>ſelben, die wir bey dem Roͤmer antreffen, aber ſie<lb/>
find durch das Beſondere und Originale der fran-<lb/>
zoͤſiſchen Sitten und Lebensart gleichſam anders<lb/>ſchattirt. Dadurch erkennen wir, wie Menſchen<lb/>
von einerley Genie und Charakter nach Verſchie-<lb/>
denheit der Zeiten und Oerter ſich in verſchiedenen<lb/>
Geſtalten zeigen. So ſind auch viele Fabeln, Er-<lb/>
zaͤhlungen und Lieder, die unſer Hagedorn nach<lb/>
franzoͤſiſchen Originalen, auf die ihm eigene Art<lb/>
behandelt, und denen er das Gepraͤg ſeines eigenen<lb/>
Genies eingedruͤkt hat. Wie man mit Vergnuͤgen<lb/>
die vielerley Veraͤnderungen bemerkt, die das ver-<lb/>ſchiedene Clima und der veraͤnderte Boden den ver-<lb/>ſchiedenen Weinen giebt, die im Grunde aus der-<lb/>ſelbigen Pflanze entſprungen ſind; ſo iſt es auch<lb/><cb/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#g">Nach</hi></fw><lb/>
angenehm die veraͤnderten Wuͤrkungen des Genies<lb/>
an Werken der Kunſt von einerley Stoff zu ſehen.</p><lb/><p>Bey den Alten war es nicht ſelten, daß auch gute<lb/>
Kuͤnſtler die Werke der groͤßten Meiſter nachahme-<lb/>
ten. Man ſieht noch izt auf geſchnittenen Steinen<lb/>
Nachahmungen groͤßerer Werke der Bildhauerey,<lb/>
die ſehr hochzuſchaͤtzen ſind. Daß die neuern Dich-<lb/>
ter die alten ſo wol in Formen ganzer Gedichte, als<lb/>
in einzelen Theilen nachahmen, iſt alſo auch nicht<lb/>
zu tadeln: nur muß man eben nicht das zur unver-<lb/>
aͤnderlichen Regel machen wollen, was die alten gut<lb/>
gefunden haben. Wir koͤnnen gute dramatiſche<lb/>
Stuͤcke, gute Oden, gute Elegien haben, die in der<lb/>
Form ſich ſehr weit von den alten Muſtern entfer-<lb/>
nen. Nur das, was unmittelbar aus dem Weſen<lb/>
einer Gattung folget, muß unveraͤnderlich beybe-<lb/>
halten werden. <noteplace="foot"n="(*)">Mit<lb/>
dieſem Art.<lb/>
verbinde<lb/>
man den<lb/>
Art Na-<lb/>
tur.</note></p></div><lb/><divn="2"><head><hirendition="#g">Nachahmungen</hi>.<lb/>
(Muſik.)</head><lb/><p><hirendition="#in">M</hi>elodiſche aufeinander folgende Saͤze, die mehr<lb/>
oder weniger Aehnlichkeit unter einander haben.<lb/>
Jnsgemein werden ſie nach dem lateiniſchen Aus-<lb/>
druk Jmitationen genennt. Man bringet ſie ſo<lb/>
wol in einer, als in mehreren Stimmen, bald<lb/>
mit ſtrengerer, bald mit weniger genauer Aehnlich-<lb/>
keit an, und nennet ſie deswegen ſtrenge, oder freye<lb/>
Nachahmungen. Jene kommen meiſtens in Fugen<lb/>
und ſugirten Sachen, dieſe in allen ſigurirten Ton-<lb/>ſtuͤken vor.</p><lb/><p>Wenn einmal ein melodiſcher Saz gefunden wor-<lb/>
den, der den Charakter der Empfindung, die man<lb/>
ausdruͤcken will, hat; ſo muß auch jeder ihm mehr<lb/>
oder weniger aͤhnliche Satz, etwas von dieſem Cha-<lb/>
rakter an ſich haben. Und da die ſingende Sprach<lb/>
in Anſehung der Mittel ſich beſtimmt auszudruͤken,<lb/>
unendlich eingeſchraͤnkter iſt, als die redende; ſo<lb/>
mußte ſie, um einen hinlaͤnglichen Vorrath melo-<lb/>
diſcher Gedanken von gutem Ausdruk zu bekommen,<lb/>ſich des Mittels der Nachahmung bedienen, um in<lb/>
einer Melodie die Einheit des Charakters zu erhal-<lb/>
ten. Tonſezer von fruchtbarem Genie wiſſen zwar<lb/>
in einer Melodie mehrerley ganz verſchiedene, aber<lb/>
im Charakter aͤhnliche Gedanken anzubringen: den-<lb/>
noch koͤnnen ſie die Nachahmungen nicht wol ent-<lb/>
behren, und wuͤrden es auch nicht thun, weil es<lb/>
angenehm iſt, denſelben Gedanken in mehrern Wen-<lb/>
dungen und in verſchiedenen Schattirungen zu hoͤ-<lb/><fwplace="bottom"type="catch">ren.</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[798[780]/0215]
Nach
Nach
fremde Werke zum Spiehl nachahmen, deren Ab-
ſicht ſie einzuſehen, und deren Geiſt und Kraft ſie
zu fuͤhlen nicht im Stande ſind. So wurden in
den Schulen der ſpaͤthern griechiſchen Rhetoren,
Reden uͤber Staatsangelegenheiten gehalten, als
kein Staat mehr vorhanden war. Jn unſern Zei-
ten ſind alle Kuͤnſte mit ſolchen Nachaͤffungen uͤber-
haͤuft. Man macht Gemaͤhlde von griechiſchen
Helden und griechiſchen Religionsgebraͤuchen, die
gerade ſo viel Realitaͤt haben, als die Feſtungen,
die Kinder im Sand auffuͤhren, um ſie zum Spiehl
zu vertheidigen und anzugreifen. Wir haben eine
Menge horaziſcher, pindariſcher, anakreontiſcher
Oden und Dithyramben, die eben ſo entſtanden ſind,
wie jene kindiſche Feſtungen. Solche Werke ſind
bloße Larven, die etwas von der Form der Origi-
nalwerke haben, ohne Spuhr des Geiſtes der dieſe
belebt.
Es iſt nicht unangenehm auch ganz beſondere
und etwas umſtaͤndlichere Nachahmungen fremder
Werke zu ſehen, wenn ſie von Maͤnnern die eigenes
Genie haben, ausgefuͤhrt werden. Die Hauptſa-
chen ſind alsdenn in dem Original und in der Nach-
ahmung dieſelbigen; aber das eigene Gepraͤg des
Genies zeiget ſich alsdenn in den beſondern Umſtaͤn-
den, in den kleinern Verziehrungen und in man-
cherley Originalwendungen, die dem Nachahmer ei-
gen ſind, und die den Gegenſtand, den wir im Ori-
ginal auf eine gewiſſe Weiſe geſehen haben, uns
auf eine andere, nicht weniger intreſſante Weiſe ſe-
hen laſſen. So ſind die Nachahmungen einiger
Comoͤdien des Terenz, die Moliere nach ſeiner Art
behandelt hat. Die Charaktere ſind im Grund die-
ſelben, die wir bey dem Roͤmer antreffen, aber ſie
find durch das Beſondere und Originale der fran-
zoͤſiſchen Sitten und Lebensart gleichſam anders
ſchattirt. Dadurch erkennen wir, wie Menſchen
von einerley Genie und Charakter nach Verſchie-
denheit der Zeiten und Oerter ſich in verſchiedenen
Geſtalten zeigen. So ſind auch viele Fabeln, Er-
zaͤhlungen und Lieder, die unſer Hagedorn nach
franzoͤſiſchen Originalen, auf die ihm eigene Art
behandelt, und denen er das Gepraͤg ſeines eigenen
Genies eingedruͤkt hat. Wie man mit Vergnuͤgen
die vielerley Veraͤnderungen bemerkt, die das ver-
ſchiedene Clima und der veraͤnderte Boden den ver-
ſchiedenen Weinen giebt, die im Grunde aus der-
ſelbigen Pflanze entſprungen ſind; ſo iſt es auch
angenehm die veraͤnderten Wuͤrkungen des Genies
an Werken der Kunſt von einerley Stoff zu ſehen.
Bey den Alten war es nicht ſelten, daß auch gute
Kuͤnſtler die Werke der groͤßten Meiſter nachahme-
ten. Man ſieht noch izt auf geſchnittenen Steinen
Nachahmungen groͤßerer Werke der Bildhauerey,
die ſehr hochzuſchaͤtzen ſind. Daß die neuern Dich-
ter die alten ſo wol in Formen ganzer Gedichte, als
in einzelen Theilen nachahmen, iſt alſo auch nicht
zu tadeln: nur muß man eben nicht das zur unver-
aͤnderlichen Regel machen wollen, was die alten gut
gefunden haben. Wir koͤnnen gute dramatiſche
Stuͤcke, gute Oden, gute Elegien haben, die in der
Form ſich ſehr weit von den alten Muſtern entfer-
nen. Nur das, was unmittelbar aus dem Weſen
einer Gattung folget, muß unveraͤnderlich beybe-
halten werden. (*)
Nachahmungen.
(Muſik.)
Melodiſche aufeinander folgende Saͤze, die mehr
oder weniger Aehnlichkeit unter einander haben.
Jnsgemein werden ſie nach dem lateiniſchen Aus-
druk Jmitationen genennt. Man bringet ſie ſo
wol in einer, als in mehreren Stimmen, bald
mit ſtrengerer, bald mit weniger genauer Aehnlich-
keit an, und nennet ſie deswegen ſtrenge, oder freye
Nachahmungen. Jene kommen meiſtens in Fugen
und ſugirten Sachen, dieſe in allen ſigurirten Ton-
ſtuͤken vor.
Wenn einmal ein melodiſcher Saz gefunden wor-
den, der den Charakter der Empfindung, die man
ausdruͤcken will, hat; ſo muß auch jeder ihm mehr
oder weniger aͤhnliche Satz, etwas von dieſem Cha-
rakter an ſich haben. Und da die ſingende Sprach
in Anſehung der Mittel ſich beſtimmt auszudruͤken,
unendlich eingeſchraͤnkter iſt, als die redende; ſo
mußte ſie, um einen hinlaͤnglichen Vorrath melo-
diſcher Gedanken von gutem Ausdruk zu bekommen,
ſich des Mittels der Nachahmung bedienen, um in
einer Melodie die Einheit des Charakters zu erhal-
ten. Tonſezer von fruchtbarem Genie wiſſen zwar
in einer Melodie mehrerley ganz verſchiedene, aber
im Charakter aͤhnliche Gedanken anzubringen: den-
noch koͤnnen ſie die Nachahmungen nicht wol ent-
behren, und wuͤrden es auch nicht thun, weil es
angenehm iſt, denſelben Gedanken in mehrern Wen-
dungen und in verſchiedenen Schattirungen zu hoͤ-
ren.
(*) Mit
dieſem Art.
verbinde
man den
Art Na-
tur.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 798[780]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/215>, abgerufen am 20.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.