darüber hinaus ist, sich nicht bewusst, und wenn das Bild nur skizzenhaft ausgeführt ist, und der Beleuchtung noch viel Spielraum lässt: so kann es leicht auch von ei- ner späteren, scharfsichtiger gewordenen Zeit, so lange sie den guten Willen der günstigsten Beleuchtung hat, noch als fleckenlos betrachtet werden.
Hiemit sehen wir, was an dem Vorwurf ist, der Schleiermacher'n so ungehalten machte, dass sein Chri- stus kein historischer, sondern ein idealer sei: er ist un- gerecht, wenn auf die Meinung Schleiermacher's gesehen wird, denn er glaubte steif und fest, der Christus, wie er ihn construirte, habe wirklich so gelebt; aber gerecht ist er einerseits in Bezug auf den geschichtlichen Thatbe- stand, weil ein solcher Christus immer nur in der Idee vorhanden gewesen ist, in welchem Sinn freilich dem kirchlichen System derselbe Vorwurf noch stärker gemacht werden müsste, weil sein Christus noch viel weniger exi- stirt haben kann; gerecht endlich rücksichtlich der Con- sequenz des Systems, indem, um das zu bewirken, was Schleiermacher ihn bewirken lässt, kein anderer Christus nöthig, und nach den Schleiermacher'schen Grundsätzen über das Verhältniss Gottes zur Welt, des Übernatürli- chen zum Natürlichen, auch kein andrer möglich ist, als ein idealer -- und in diesem Sinne trifft der Vorwurf die Schleiermacher'sche Glaubenslehre specifisch, da nach den Prämissen der Kirchenlehre allerdings ein historischer Christus sowohl möglich als nothwendig war.
§. 145. Die Christologie, symbolisch gewendet. Kant. de Wette.
Ist hiemit der Versuch gescheitert, das Urbildliche in Christo mit dem Geschichtlichen zusammenzuhalten: so scheiden sich diese beiden Elemente, das leztere fällt als natürliches Residuum zu Boden, das erstere aber steigt als reines Sublimat in den Äther der Ideenwelt empor. Ge-
Schluſsabhandlung. §. 145.
darüber hinaus ist, sich nicht bewuſst, und wenn das Bild nur skizzenhaft ausgeführt ist, und der Beleuchtung noch viel Spielraum läſst: so kann es leicht auch von ei- ner späteren, scharfsichtiger gewordenen Zeit, so lange sie den guten Willen der günstigsten Beleuchtung hat, noch als fleckenlos betrachtet werden.
Hiemit sehen wir, was an dem Vorwurf ist, der Schleiermacher'n so ungehalten machte, daſs sein Chri- stus kein historischer, sondern ein idealer sei: er ist un- gerecht, wenn auf die Meinung Schleiermacher's gesehen wird, denn er glaubte steif und fest, der Christus, wie er ihn construirte, habe wirklich so gelebt; aber gerecht ist er einerseits in Bezug auf den geschichtlichen Thatbe- stand, weil ein solcher Christus immer nur in der Idee vorhanden gewesen ist, in welchem Sinn freilich dem kirchlichen System derselbe Vorwurf noch stärker gemacht werden müſste, weil sein Christus noch viel weniger exi- stirt haben kann; gerecht endlich rücksichtlich der Con- sequenz des Systems, indem, um das zu bewirken, was Schleiermacher ihn bewirken läſst, kein anderer Christus nöthig, und nach den Schleiermacher'schen Grundsätzen über das Verhältniſs Gottes zur Welt, des Übernatürli- chen zum Natürlichen, auch kein andrer möglich ist, als ein idealer — und in diesem Sinne trifft der Vorwurf die Schleiermacher'sche Glaubenslehre specifisch, da nach den Prämissen der Kirchenlehre allerdings ein historischer Christus sowohl möglich als nothwendig war.
§. 145. Die Christologie, symbolisch gewendet. Kant. de Wette.
Ist hiemit der Versuch gescheitert, das Urbildliche in Christo mit dem Geschichtlichen zusammenzuhalten: so scheiden sich diese beiden Elemente, das leztere fällt als natürliches Residuum zu Boden, das erstere aber steigt als reines Sublimat in den Äther der Ideenwelt empor. Ge-
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Schluſsabhandlung. §. 145.
darüber hinaus ist, sich nicht bewuſst, und wenn das
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noch viel Spielraum läſst: so kann es leicht auch von ei-
ner späteren, scharfsichtiger gewordenen Zeit, so lange
sie den guten Willen der günstigsten Beleuchtung hat, noch
als fleckenlos betrachtet werden.
Hiemit sehen wir, was an dem Vorwurf ist, der
Schleiermacher'n so ungehalten machte, daſs sein Chri-
stus kein historischer, sondern ein idealer sei: er ist un-
gerecht, wenn auf die Meinung Schleiermacher's gesehen
wird, denn er glaubte steif und fest, der Christus, wie
er ihn construirte, habe wirklich so gelebt; aber gerecht
ist er einerseits in Bezug auf den geschichtlichen Thatbe-
stand, weil ein solcher Christus immer nur in der Idee
vorhanden gewesen ist, in welchem Sinn freilich dem
kirchlichen System derselbe Vorwurf noch stärker gemacht
werden müſste, weil sein Christus noch viel weniger exi-
stirt haben kann; gerecht endlich rücksichtlich der Con-
sequenz des Systems, indem, um das zu bewirken, was
Schleiermacher ihn bewirken läſst, kein anderer Christus
nöthig, und nach den Schleiermacher'schen Grundsätzen
über das Verhältniſs Gottes zur Welt, des Übernatürli-
chen zum Natürlichen, auch kein andrer möglich ist, als
ein idealer — und in diesem Sinne trifft der Vorwurf die
Schleiermacher'sche Glaubenslehre specifisch, da nach den
Prämissen der Kirchenlehre allerdings ein historischer
Christus sowohl möglich als nothwendig war.
§. 145.
Die Christologie, symbolisch gewendet. Kant. de Wette.
Ist hiemit der Versuch gescheitert, das Urbildliche
in Christo mit dem Geschichtlichen zusammenzuhalten: so
scheiden sich diese beiden Elemente, das leztere fällt als
natürliches Residuum zu Boden, das erstere aber steigt als
reines Sublimat in den Äther der Ideenwelt empor. Ge-
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 720. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/739>, abgerufen am 22.12.2024.
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