Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

Bild:
<< vorherige Seite
Neuntes Kapitel. §. 92.
§. 92.
Heilungen von Paralytischen. Ob Jesus Krankheiten als
Sündenstrafen betrachtet habe.

Ein wichtiger Zug in der johanneischen Heilungsge-
schichte des Blindgeborenen ist übergangen worden, weil
er erst in Verbindung mit einem entsprechenden in der
synoptischen Erzählung von der Heilung eines Paralyti-
schen (Matth. 9, 1 ff. Marc. 2, 1 ff. Luc. 5, 17 ff.), die wir
demnächst zu betrachten haben, richtig gewürdigt werden
kann. Hier nämlich erklärt Jesus dem Kranken zuerst:
apheontai soi ai amartiai sou, und hierauf, als Beweis, dass
er zu solcher Sündenvergebung Vollmacht habe, heilt er
ihn, wobei die Beziehung auf die jüdische Ansicht nicht
verkannt werden kann, dass das Übel und namentlich die
Krankheit des Einzelnen Strafe seiner Sünde sei; eine An-
sicht, welche, in ihren Grundzügen im A. T. angelegt
(3 Mos. 26, 14 ff. 5 Mos. 28, 15 ff. 2 Chron. 21, 15. 18 f.),
von den späteren Juden auf's Bestimmteste ausgesprochen
wurde 1). Hätten wir nun bloss jene synoptische Erzäh-
lung, so müssten wir glauben, Jesus habe die Ansicht sei-
ner Zeit- und Volksgenossen über diesen Punkt getheilt,
indem er ja seine Befugniss, Sünden (als Grund der Krank-
heit) zu vergeben, durch eine Probe seiner Fähigkeit,
Krankheiten (die Folgen der Sünde) zu heilen, beweist.
Allein, sagt man, es finden sich andre Stellen, wo Jesus die-
ser jüdischen Meinung geradezu widerspricht, und daraus
folgt, dass, was er dort zum Paralytischen sprach, blosse
Accommodation an die Vorstellungen des Kranken zur För-
derung seiner Heilung war 2).

Die Hauptstelle, welche man hiefür anzuführen pflegt,

1) Nedarim f. 41, 1. (bei Schöttgen, 1, S. 93.): Dixit R. Chija
fil. Abba: nullus aegrotus a morbo suo sanatur, doncc ipsi
omnia peccata remissa sint.
2) Hase, L. J. §. 73. Fritzsche, in Matth. S. 335.
6 *
Neuntes Kapitel. §. 92.
§. 92.
Heilungen von Paralytischen. Ob Jesus Krankheiten als
Sündenstrafen betrachtet habe.

Ein wichtiger Zug in der johanneischen Heilungsge-
schichte des Blindgeborenen ist übergangen worden, weil
er erst in Verbindung mit einem entsprechenden in der
synoptischen Erzählung von der Heilung eines Paralyti-
schen (Matth. 9, 1 ff. Marc. 2, 1 ff. Luc. 5, 17 ff.), die wir
demnächst zu betrachten haben, richtig gewürdigt werden
kann. Hier nämlich erklärt Jesus dem Kranken zuerst:
ἀφέωνταί σοι αἱ ἁμαρτίαι σου, und hierauf, als Beweis, daſs
er zu solcher Sündenvergebung Vollmacht habe, heilt er
ihn, wobei die Beziehung auf die jüdische Ansicht nicht
verkannt werden kann, daſs das Übel und namentlich die
Krankheit des Einzelnen Strafe seiner Sünde sei; eine An-
sicht, welche, in ihren Grundzügen im A. T. angelegt
(3 Mos. 26, 14 ff. 5 Mos. 28, 15 ff. 2 Chron. 21, 15. 18 f.),
von den späteren Juden auf's Bestimmteste ausgesprochen
wurde 1). Hätten wir nun bloſs jene synoptische Erzäh-
lung, so müſsten wir glauben, Jesus habe die Ansicht sei-
ner Zeit- und Volksgenossen über diesen Punkt getheilt,
indem er ja seine Befugniſs, Sünden (als Grund der Krank-
heit) zu vergeben, durch eine Probe seiner Fähigkeit,
Krankheiten (die Folgen der Sünde) zu heilen, beweist.
Allein, sagt man, es finden sich andre Stellen, wo Jesus die-
ser jüdischen Meinung geradezu widerspricht, und daraus
folgt, daſs, was er dort zum Paralytischen sprach, bloſse
Accommodation an die Vorstellungen des Kranken zur För-
derung seiner Heilung war 2).

Die Hauptstelle, welche man hiefür anzuführen pflegt,

1) Nedarim f. 41, 1. (bei Schöttgen, 1, S. 93.): Dixit R. Chija
fil. Abba: nullus aegrotus a morbo suo sanatur, doncc ipsi
omnia peccata remissa sint.
2) Hase, L. J. §. 73. Fritzsche, in Matth. S. 335.
6 *
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0102" n="83"/>
        <fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Neuntes Kapitel</hi>. §. 92.</fw><lb/>
        <div n="2">
          <head>§. 92.<lb/>
Heilungen von Paralytischen. Ob Jesus Krankheiten als<lb/>
Sündenstrafen betrachtet habe.</head><lb/>
          <p>Ein wichtiger Zug in der johanneischen Heilungsge-<lb/>
schichte des Blindgeborenen ist übergangen worden, weil<lb/>
er erst in Verbindung mit einem entsprechenden in der<lb/>
synoptischen Erzählung von der Heilung eines Paralyti-<lb/>
schen (Matth. 9, 1 ff. Marc. 2, 1 ff. Luc. 5, 17 ff.), die wir<lb/>
demnächst zu betrachten haben, richtig gewürdigt werden<lb/>
kann. Hier nämlich erklärt Jesus dem Kranken zuerst:<lb/>
&#x1F00;&#x03C6;&#x03AD;&#x03C9;&#x03BD;&#x03C4;&#x03B1;&#x03AF; &#x03C3;&#x03BF;&#x03B9; &#x03B1;&#x1F31; &#x1F01;&#x03BC;&#x03B1;&#x03C1;&#x03C4;&#x03AF;&#x03B1;&#x03B9; &#x03C3;&#x03BF;&#x03C5;, und hierauf, als Beweis, da&#x017F;s<lb/>
er zu solcher Sündenvergebung Vollmacht habe, heilt er<lb/>
ihn, wobei die Beziehung auf die jüdische Ansicht nicht<lb/>
verkannt werden kann, da&#x017F;s das Übel und namentlich die<lb/>
Krankheit des Einzelnen Strafe seiner Sünde sei; eine An-<lb/>
sicht, welche, in ihren Grundzügen im A. T. angelegt<lb/>
(3 Mos. 26, 14 ff. 5 Mos. 28, 15 ff. 2 Chron. 21, 15. 18 f.),<lb/>
von den späteren Juden auf's Bestimmteste ausgesprochen<lb/>
wurde <note place="foot" n="1)">Nedarim f. 41, 1. (bei <hi rendition="#k">Schöttgen</hi>, 1, S. 93.): Dixit R. Chija<lb/>
fil. Abba: nullus aegrotus a morbo suo sanatur, doncc ipsi<lb/>
omnia peccata remissa sint.</note>. Hätten wir nun blo&#x017F;s jene synoptische Erzäh-<lb/>
lung, so mü&#x017F;sten wir glauben, Jesus habe die Ansicht sei-<lb/>
ner Zeit- und Volksgenossen über diesen Punkt getheilt,<lb/>
indem er ja seine Befugni&#x017F;s, Sünden (als Grund der Krank-<lb/>
heit) zu vergeben, durch eine Probe seiner Fähigkeit,<lb/>
Krankheiten (die Folgen der Sünde) zu heilen, beweist.<lb/>
Allein, sagt man, es finden sich andre Stellen, wo Jesus die-<lb/>
ser jüdischen Meinung geradezu widerspricht, und daraus<lb/>
folgt, da&#x017F;s, was er dort zum Paralytischen sprach, blo&#x017F;se<lb/>
Accommodation an die Vorstellungen des Kranken zur För-<lb/>
derung seiner Heilung war <note place="foot" n="2)"><hi rendition="#k">Hase</hi>, L. J. §. 73. <hi rendition="#k">Fritzsche</hi>, in Matth. S. 335.</note>.</p><lb/>
          <p>Die Hauptstelle, welche man hiefür anzuführen pflegt,<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">6 *</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[83/0102] Neuntes Kapitel. §. 92. §. 92. Heilungen von Paralytischen. Ob Jesus Krankheiten als Sündenstrafen betrachtet habe. Ein wichtiger Zug in der johanneischen Heilungsge- schichte des Blindgeborenen ist übergangen worden, weil er erst in Verbindung mit einem entsprechenden in der synoptischen Erzählung von der Heilung eines Paralyti- schen (Matth. 9, 1 ff. Marc. 2, 1 ff. Luc. 5, 17 ff.), die wir demnächst zu betrachten haben, richtig gewürdigt werden kann. Hier nämlich erklärt Jesus dem Kranken zuerst: ἀφέωνταί σοι αἱ ἁμαρτίαι σου, und hierauf, als Beweis, daſs er zu solcher Sündenvergebung Vollmacht habe, heilt er ihn, wobei die Beziehung auf die jüdische Ansicht nicht verkannt werden kann, daſs das Übel und namentlich die Krankheit des Einzelnen Strafe seiner Sünde sei; eine An- sicht, welche, in ihren Grundzügen im A. T. angelegt (3 Mos. 26, 14 ff. 5 Mos. 28, 15 ff. 2 Chron. 21, 15. 18 f.), von den späteren Juden auf's Bestimmteste ausgesprochen wurde 1). Hätten wir nun bloſs jene synoptische Erzäh- lung, so müſsten wir glauben, Jesus habe die Ansicht sei- ner Zeit- und Volksgenossen über diesen Punkt getheilt, indem er ja seine Befugniſs, Sünden (als Grund der Krank- heit) zu vergeben, durch eine Probe seiner Fähigkeit, Krankheiten (die Folgen der Sünde) zu heilen, beweist. Allein, sagt man, es finden sich andre Stellen, wo Jesus die- ser jüdischen Meinung geradezu widerspricht, und daraus folgt, daſs, was er dort zum Paralytischen sprach, bloſse Accommodation an die Vorstellungen des Kranken zur För- derung seiner Heilung war 2). Die Hauptstelle, welche man hiefür anzuführen pflegt, 1) Nedarim f. 41, 1. (bei Schöttgen, 1, S. 93.): Dixit R. Chija fil. Abba: nullus aegrotus a morbo suo sanatur, doncc ipsi omnia peccata remissa sint. 2) Hase, L. J. §. 73. Fritzsche, in Matth. S. 335. 6 *

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/102
Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 83. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/102>, abgerufen am 19.11.2024.