pro und contra sich disputiren lässt, die unbedenkliche Entscheidung der Kritiker für die Darstellung des vierten Evangeliums eine berechtigte sei; wir unsrerseits sind weit entfernt, uns ebenso übereilt für die Synoptiker auszuspre- chen, und begnügen uns, den oft übersehenen wahren Stand der synoptisch-johanneischen Streitsache zu weite- rer Prüfung vorgelegt zu haben.
§. 54. Der Wohnsitz Jesu in Kapernaum.
Wie Jesu für die Zeit, die er in Judäa zubrachte, vorzugsweise die Hauptstadt und deren Umgegend zum Schau- plaz seiner Wirksamkeit angewiesen war: so könnte es scheinen, als wäre ihm für den galiläischen Aufenthalt et- wa seine Vaterstadt Nazaret nahe gelegt gewesen. Statt dessen finden wir ihn aber, wenn er nicht auf Reisen ist, wie schon erwähnt, in Kapernaum heimisch: die Synopti- ker bezeichnen diesen Ort als die idia polis Jesu (Matth. 9, 1. vrgl. Mare. 2, 1.); hier war nach ihnen der oikos, wo sich Jesus aufzuhalten pflegte (Marc. 2, 1. 3, 20. Matth. 13, 1. 36.), welches vielleicht das Haus des Petrus war (Marc. 1, 29. Matth. 8. 14. 17, 25. Luc. 4, 38.). Im vier- ten Evangelium, welches Jesum überhaupt nur sehr vor- übergehend in Galiläa zeigt, tritt auch Kapernaum nicht als Wohnort Jesu hervor, und scheint eher Kana als der Ort vorausgesezt zu werden, mit welchem Jesus am meisten Verbindung hatte. Nach seiner Taufe kommt er hier zu- erst nach Kana (2, 1.), zwar diessmal aus einer besondern Veranlassung; hierauf hält er sich nur kurze Zeit in Kapernaum auf (V. 12.); dann aber nach der Rückkehr von der ersten Festreise ist es wieder Kana, wohin sich Jesus begiebt, und selbst eine Heilung, welche er nach den Synop- tikern zu Kapernaum vornimmt, lässt ihn das vierte Evan- gelium von Kana aus verrichten (4, 46 ff.), worauf wir ihn nur noch Einmal in der Synagoge von Kapernaum finden
Drittes Kapitel. §. 54.
pro und contra sich disputiren läſst, die unbedenkliche Entscheidung der Kritiker für die Darstellung des vierten Evangeliums eine berechtigte sei; wir unsrerseits sind weit entfernt, uns ebenso übereilt für die Synoptiker auszuspre- chen, und begnügen uns, den oft übersehenen wahren Stand der synoptisch-johanneischen Streitsache zu weite- rer Prüfung vorgelegt zu haben.
§. 54. Der Wohnsitz Jesu in Kapernaum.
Wie Jesu für die Zeit, die er in Judäa zubrachte, vorzugsweise die Hauptstadt und deren Umgegend zum Schau- plaz seiner Wirksamkeit angewiesen war: so könnte es scheinen, als wäre ihm für den galiläischen Aufenthalt et- wa seine Vaterstadt Nazaret nahe gelegt gewesen. Statt dessen finden wir ihn aber, wenn er nicht auf Reisen ist, wie schon erwähnt, in Kapernaum heimisch: die Synopti- ker bezeichnen diesen Ort als die ἰδία πόλις Jesu (Matth. 9, 1. vrgl. Mare. 2, 1.); hier war nach ihnen der οἶκος, wo sich Jesus aufzuhalten pflegte (Marc. 2, 1. 3, 20. Matth. 13, 1. 36.), welches vielleicht das Haus des Petrus war (Marc. 1, 29. Matth. 8. 14. 17, 25. Luc. 4, 38.). Im vier- ten Evangelium, welches Jesum überhaupt nur sehr vor- übergehend in Galiläa zeigt, tritt auch Kapernaum nicht als Wohnort Jesu hervor, und scheint eher Kana als der Ort vorausgesezt zu werden, mit welchem Jesus am meisten Verbindung hatte. Nach seiner Taufe kommt er hier zu- erst nach Kana (2, 1.), zwar dieſsmal aus einer besondern Veranlassung; hierauf hält er sich nur kurze Zeit in Kapernaum auf (V. 12.); dann aber nach der Rückkehr von der ersten Festreise ist es wieder Kana, wohin sich Jesus begiebt, und selbst eine Heilung, welche er nach den Synop- tikern zu Kapernaum vornimmt, läſst ihn das vierte Evan- gelium von Kana aus verrichten (4, 46 ff.), worauf wir ihn nur noch Einmal in der Synagoge von Kapernaum finden
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0469"n="445"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#g">Drittes Kapitel</hi>. §. 54.</fw><lb/><hirendition="#i">pro</hi> und <hirendition="#i">contra</hi> sich disputiren läſst, die unbedenkliche<lb/>
Entscheidung der Kritiker für die Darstellung des vierten<lb/>
Evangeliums eine berechtigte sei; wir unsrerseits sind weit<lb/>
entfernt, uns ebenso übereilt für die Synoptiker auszuspre-<lb/>
chen, und begnügen uns, den oft übersehenen wahren<lb/>
Stand der synoptisch-johanneischen Streitsache zu weite-<lb/>
rer Prüfung vorgelegt zu haben.</p></div><lb/><divn="3"><head>§. 54.<lb/>
Der Wohnsitz Jesu in Kapernaum.</head><lb/><p>Wie Jesu für die Zeit, die er in Judäa zubrachte,<lb/>
vorzugsweise die Hauptstadt und deren Umgegend zum Schau-<lb/>
plaz seiner Wirksamkeit angewiesen war: so könnte es<lb/>
scheinen, als wäre ihm für den galiläischen Aufenthalt et-<lb/>
wa seine Vaterstadt Nazaret nahe gelegt gewesen. Statt<lb/>
dessen finden wir ihn aber, wenn er nicht auf Reisen ist,<lb/>
wie schon erwähnt, in Kapernaum heimisch: die Synopti-<lb/>
ker bezeichnen diesen Ort als die <foreignxml:lang="ell">ἰδίαπόλις</foreign> Jesu (Matth.<lb/>
9, 1. vrgl. Mare. 2, 1.); hier war nach ihnen der οἶκος,<lb/>
wo sich Jesus aufzuhalten pflegte (Marc. 2, 1. 3, 20. Matth.<lb/>
13, 1. 36.), welches vielleicht das Haus des Petrus war<lb/>
(Marc. 1, 29. Matth. 8. 14. 17, 25. Luc. 4, 38.). Im vier-<lb/>
ten Evangelium, welches Jesum überhaupt nur sehr vor-<lb/>
übergehend in Galiläa zeigt, tritt auch Kapernaum nicht<lb/>
als Wohnort Jesu hervor, und scheint eher Kana als der<lb/>
Ort vorausgesezt zu werden, mit welchem Jesus am meisten<lb/>
Verbindung hatte. Nach seiner Taufe kommt er hier zu-<lb/>
erst nach Kana (2, 1.), zwar dieſsmal aus einer besondern<lb/>
Veranlassung; hierauf hält er sich nur kurze Zeit in<lb/>
Kapernaum auf (V. 12.); dann aber nach der Rückkehr von<lb/>
der ersten Festreise ist es wieder Kana, wohin sich Jesus<lb/>
begiebt, und selbst eine Heilung, welche er nach den Synop-<lb/>
tikern zu Kapernaum vornimmt, läſst ihn das vierte Evan-<lb/>
gelium von Kana aus verrichten (4, 46 ff.), worauf wir ihn<lb/>
nur noch Einmal in der Synagoge von Kapernaum finden<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[445/0469]
Drittes Kapitel. §. 54.
pro und contra sich disputiren läſst, die unbedenkliche
Entscheidung der Kritiker für die Darstellung des vierten
Evangeliums eine berechtigte sei; wir unsrerseits sind weit
entfernt, uns ebenso übereilt für die Synoptiker auszuspre-
chen, und begnügen uns, den oft übersehenen wahren
Stand der synoptisch-johanneischen Streitsache zu weite-
rer Prüfung vorgelegt zu haben.
§. 54.
Der Wohnsitz Jesu in Kapernaum.
Wie Jesu für die Zeit, die er in Judäa zubrachte,
vorzugsweise die Hauptstadt und deren Umgegend zum Schau-
plaz seiner Wirksamkeit angewiesen war: so könnte es
scheinen, als wäre ihm für den galiläischen Aufenthalt et-
wa seine Vaterstadt Nazaret nahe gelegt gewesen. Statt
dessen finden wir ihn aber, wenn er nicht auf Reisen ist,
wie schon erwähnt, in Kapernaum heimisch: die Synopti-
ker bezeichnen diesen Ort als die ἰδία πόλις Jesu (Matth.
9, 1. vrgl. Mare. 2, 1.); hier war nach ihnen der οἶκος,
wo sich Jesus aufzuhalten pflegte (Marc. 2, 1. 3, 20. Matth.
13, 1. 36.), welches vielleicht das Haus des Petrus war
(Marc. 1, 29. Matth. 8. 14. 17, 25. Luc. 4, 38.). Im vier-
ten Evangelium, welches Jesum überhaupt nur sehr vor-
übergehend in Galiläa zeigt, tritt auch Kapernaum nicht
als Wohnort Jesu hervor, und scheint eher Kana als der
Ort vorausgesezt zu werden, mit welchem Jesus am meisten
Verbindung hatte. Nach seiner Taufe kommt er hier zu-
erst nach Kana (2, 1.), zwar dieſsmal aus einer besondern
Veranlassung; hierauf hält er sich nur kurze Zeit in
Kapernaum auf (V. 12.); dann aber nach der Rückkehr von
der ersten Festreise ist es wieder Kana, wohin sich Jesus
begiebt, und selbst eine Heilung, welche er nach den Synop-
tikern zu Kapernaum vornimmt, läſst ihn das vierte Evan-
gelium von Kana aus verrichten (4, 46 ff.), worauf wir ihn
nur noch Einmal in der Synagoge von Kapernaum finden
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 445. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/469>, abgerufen am 21.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.