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Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845.

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In welcherlei Art der moralische Einfluß, das Hauptingredienz
unserer Erziehung, den Verkehr der Menschen zu regeln sucht,
soll hier wenigstens an Einem Beispiele mit egoistischen Augen
betrachtet werden.

Die Uns erziehen, lassen sich's angelegen sein, frühzeitig
Uns das Lügen abzugewöhnen und den Grundsatz einzuprägen,
daß man stets die Wahrheit sagen müsse. Machte man für
diese Regel den Eigennutz zur Basis, so würde Jeder leicht
begreifen, wie er das Vertrauen zu sich, welches er bei Andern
erwecken will, durch Lügen verscherze, und wie richtig sich der
Satz erweise: Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und
wenn er auch die Wahrheit spricht. Zu gleicher Zeit würde
er jedoch auch fühlen, daß er nur demjenigen mit der Wahr¬
heit entgegenzukommen habe, welchen er befugt, die Wahrheit
zu hören. Durchstreicht ein Spion verkleidet das feindliche
Lager und wird gefragt, wer er sei, so sind die Fragenden
allerdings befugt, nach dem Namen sich zu erkundigen, der
Verkleidete giebt aber ihnen das Recht nicht, die Wahrheit
von ihm zu erfahren; er sagt ihnen, was er mag, nur nicht
das Richtige. Und doch heischt die Moral: "Du sollst nicht
lügen!" Durch die Moral sind jene dazu berechtigt, die
Wahrheit zu erwarten; aber von Mir sind sie nicht dazu be¬
rechtigt, und Ich erkenne nur das Recht an, welches Ich er¬
theile. In eine Versammlung von Revolutionairen drängt sich
die Polizei ein und fragt den Redner nach seinem Namen;
Jedermann weiß, daß die Polizei dazu das Recht hat, allein
vom Revolutionair hat sie's nicht, da er ihr Feind ist: er
sagt ihr einen falschen Namen und -- belügt sie. Auch handelt
die Polizei nicht so thöricht, daß sie auf die Wahrheitsliebe
ihrer Feinde rechnete; im G[e][s][a][m]theil glaubt sie nicht ohne

In welcherlei Art der moraliſche Einfluß, das Hauptingredienz
unſerer Erziehung, den Verkehr der Menſchen zu regeln ſucht,
ſoll hier wenigſtens an Einem Beiſpiele mit egoiſtiſchen Augen
betrachtet werden.

Die Uns erziehen, laſſen ſich's angelegen ſein, frühzeitig
Uns das Lügen abzugewöhnen und den Grundſatz einzuprägen,
daß man ſtets die Wahrheit ſagen müſſe. Machte man für
dieſe Regel den Eigennutz zur Baſis, ſo würde Jeder leicht
begreifen, wie er das Vertrauen zu ſich, welches er bei Andern
erwecken will, durch Lügen verſcherze, und wie richtig ſich der
Satz erweiſe: Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und
wenn er auch die Wahrheit ſpricht. Zu gleicher Zeit würde
er jedoch auch fühlen, daß er nur demjenigen mit der Wahr¬
heit entgegenzukommen habe, welchen er befugt, die Wahrheit
zu hören. Durchſtreicht ein Spion verkleidet das feindliche
Lager und wird gefragt, wer er ſei, ſo ſind die Fragenden
allerdings befugt, nach dem Namen ſich zu erkundigen, der
Verkleidete giebt aber ihnen das Recht nicht, die Wahrheit
von ihm zu erfahren; er ſagt ihnen, was er mag, nur nicht
das Richtige. Und doch heiſcht die Moral: „Du ſollſt nicht
lügen!“ Durch die Moral ſind jene dazu berechtigt, die
Wahrheit zu erwarten; aber von Mir ſind ſie nicht dazu be¬
rechtigt, und Ich erkenne nur das Recht an, welches Ich er¬
theile. In eine Verſammlung von Revolutionairen drängt ſich
die Polizei ein und fragt den Redner nach ſeinem Namen;
Jedermann weiß, daß die Polizei dazu das Recht hat, allein
vom Revolutionair hat ſie's nicht, da er ihr Feind iſt: er
ſagt ihr einen falſchen Namen und — belügt ſie. Auch handelt
die Polizei nicht ſo thöricht, daß ſie auf die Wahrheitsliebe
ihrer Feinde rechnete; im G[e][ſ][a][m]theil glaubt ſie nicht ohne

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[396/0404] In welcherlei Art der moraliſche Einfluß, das Hauptingredienz unſerer Erziehung, den Verkehr der Menſchen zu regeln ſucht, ſoll hier wenigſtens an Einem Beiſpiele mit egoiſtiſchen Augen betrachtet werden. Die Uns erziehen, laſſen ſich's angelegen ſein, frühzeitig Uns das Lügen abzugewöhnen und den Grundſatz einzuprägen, daß man ſtets die Wahrheit ſagen müſſe. Machte man für dieſe Regel den Eigennutz zur Baſis, ſo würde Jeder leicht begreifen, wie er das Vertrauen zu ſich, welches er bei Andern erwecken will, durch Lügen verſcherze, und wie richtig ſich der Satz erweiſe: Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit ſpricht. Zu gleicher Zeit würde er jedoch auch fühlen, daß er nur demjenigen mit der Wahr¬ heit entgegenzukommen habe, welchen er befugt, die Wahrheit zu hören. Durchſtreicht ein Spion verkleidet das feindliche Lager und wird gefragt, wer er ſei, ſo ſind die Fragenden allerdings befugt, nach dem Namen ſich zu erkundigen, der Verkleidete giebt aber ihnen das Recht nicht, die Wahrheit von ihm zu erfahren; er ſagt ihnen, was er mag, nur nicht das Richtige. Und doch heiſcht die Moral: „Du ſollſt nicht lügen!“ Durch die Moral ſind jene dazu berechtigt, die Wahrheit zu erwarten; aber von Mir ſind ſie nicht dazu be¬ rechtigt, und Ich erkenne nur das Recht an, welches Ich er¬ theile. In eine Verſammlung von Revolutionairen drängt ſich die Polizei ein und fragt den Redner nach ſeinem Namen; Jedermann weiß, daß die Polizei dazu das Recht hat, allein vom Revolutionair hat ſie's nicht, da er ihr Feind iſt: er ſagt ihr einen falſchen Namen und — belügt ſie. Auch handelt die Polizei nicht ſo thöricht, daß ſie auf die Wahrheitsliebe ihrer Feinde rechnete; im Geſamtheil glaubt ſie nicht ohne

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Zitationshilfe: Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 396. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/404>, abgerufen am 26.04.2024.