Das Frankreich eigenthümliche System der Facultes ist formell die Aufstellung selbständiger Fachbildungsanstalten für die einzelnen wissen- schaftlichen Berufe, in der aber die im Bifurcationssystem der Lyceen auftretende Scheidung der Sciences und der Lettres sich fortsetzt. Es gibt daher fünf Arten der Facultes in Frankreich. In dieser Bezie- hung ist die äußere Aehnlichkeit mit dem deutschen Universitätswesen allerdings vorhanden. Allein der Unterschied tritt sogleich hervor, so wie man einen Schritt weiter geht. Jene fünf Facultes sind nämlich nicht Fakultäten an einer Universität, also zusammen einen selbstän- digen, auch örtlich als Einheit auftretenden wissenschaftlichen Selbst- verwaltungskörper bildend, sondern jede dieser Facultes besteht ganz für sich; sie sind in verschiedenen Orten hergestellt, und sowohl ohne wissen- schaftliche als administrative Verbindung unter einander. Gemeinsam ist ihnen nur die oberste staatliche Verwaltung, vermöge deren sie unter der Universite als Instruction superieure stehen. Eben so wenig ist ihnen der Lehrgang oder auch nur die Dauer desselben gleich; jede Faculte ist von vorn herein als eine ganz selbständige, nur für ihren Zweck bestimmte Fachbildungsanstalt aufgefaßt. Es ist der tiefe innere Unterschied des Fakultätswesens Frankreichs von dem deutschen fast auf den ersten Blick klar, so wie man die Organisation derselben betrachtet. Sie sind allerdings Berufsbildungsanstalten; allein der Beruf selbst ist dem französischen Geiste überhaupt nicht die ethische Einheit des ganzen geistigen Lebens, ausgedrückt in der Lebensaufgabe des Einzelnen, son- dern nur eine specielle Ausübung einer bestimmten öffentlichen Pflicht. Der Beruf fordert daher auch in Frankreich keine Gesammtbildung des Geistes, sondern nur die specielle Fachbildung. Der geistige Einfluß, den eine Wissenschaft auf die andere hat, ist hier nicht bekannt oder doch nicht anerkannt. Es gibt kein geistiges Band und daher auch kein äußeres Zusammenwirken und Zusammensein der Fakultäten in der Universität. Daher fehlt der ganzen Fakultätsbildung Frankreichs dasjenige, was dieselbe in Deutschland so wesentlich charakterisirt. Die Faculte hat keine allgemeinen Fächer, keine Philosophie, keine Ge- schichte, keine Staatswissenschaft, nicht einmal Lehrstühle für dieselben, viel weniger eine Prüfung dafür. Selbst der Zusammenhang mit der Vorbildung ist ein anderer. Die Instruction secondaire der Lycees gilt nicht für jede Faculte, sondern das Baccalaureat es sciences gilt nur für die Faculte des sciences und nicht für die übrigen, während die Faculte des sciences selbst wieder, mit Ausschluß der klassischen Bildung, nur die theoretisch wirthschaftliche in Mathematik
A.Das Syſtem der Facultés.
Das Frankreich eigenthümliche Syſtem der Facultés iſt formell die Aufſtellung ſelbſtändiger Fachbildungsanſtalten für die einzelnen wiſſen- ſchaftlichen Berufe, in der aber die im Bifurcationsſyſtem der Lyceen auftretende Scheidung der Sciences und der Lettres ſich fortſetzt. Es gibt daher fünf Arten der Facultés in Frankreich. In dieſer Bezie- hung iſt die äußere Aehnlichkeit mit dem deutſchen Univerſitätsweſen allerdings vorhanden. Allein der Unterſchied tritt ſogleich hervor, ſo wie man einen Schritt weiter geht. Jene fünf Facultés ſind nämlich nicht Fakultäten an einer Univerſität, alſo zuſammen einen ſelbſtän- digen, auch örtlich als Einheit auftretenden wiſſenſchaftlichen Selbſt- verwaltungskörper bildend, ſondern jede dieſer Facultés beſteht ganz für ſich; ſie ſind in verſchiedenen Orten hergeſtellt, und ſowohl ohne wiſſen- ſchaftliche als adminiſtrative Verbindung unter einander. Gemeinſam iſt ihnen nur die oberſte ſtaatliche Verwaltung, vermöge deren ſie unter der Université als Instruction supérieure ſtehen. Eben ſo wenig iſt ihnen der Lehrgang oder auch nur die Dauer deſſelben gleich; jede Faculté iſt von vorn herein als eine ganz ſelbſtändige, nur für ihren Zweck beſtimmte Fachbildungsanſtalt aufgefaßt. Es iſt der tiefe innere Unterſchied des Fakultätsweſens Frankreichs von dem deutſchen faſt auf den erſten Blick klar, ſo wie man die Organiſation derſelben betrachtet. Sie ſind allerdings Berufsbildungsanſtalten; allein der Beruf ſelbſt iſt dem franzöſiſchen Geiſte überhaupt nicht die ethiſche Einheit des ganzen geiſtigen Lebens, ausgedrückt in der Lebensaufgabe des Einzelnen, ſon- dern nur eine ſpecielle Ausübung einer beſtimmten öffentlichen Pflicht. Der Beruf fordert daher auch in Frankreich keine Geſammtbildung des Geiſtes, ſondern nur die ſpecielle Fachbildung. Der geiſtige Einfluß, den eine Wiſſenſchaft auf die andere hat, iſt hier nicht bekannt oder doch nicht anerkannt. Es gibt kein geiſtiges Band und daher auch kein äußeres Zuſammenwirken und Zuſammenſein der Fakultäten in der Univerſität. Daher fehlt der ganzen Fakultätsbildung Frankreichs dasjenige, was dieſelbe in Deutſchland ſo weſentlich charakteriſirt. Die Faculté hat keine allgemeinen Fächer, keine Philoſophie, keine Ge- ſchichte, keine Staatswiſſenſchaft, nicht einmal Lehrſtühle für dieſelben, viel weniger eine Prüfung dafür. Selbſt der Zuſammenhang mit der Vorbildung iſt ein anderer. Die Instruction secondaire der Lycées gilt nicht für jede Faculté, ſondern das Baccalauréat ès sciences gilt nur für die Faculté des sciences und nicht für die übrigen, während die Faculté des sciences ſelbſt wieder, mit Ausſchluß der klaſſiſchen Bildung, nur die theoretiſch wirthſchaftliche in Mathematik
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><divn="5"><divn="6"><divn="7"><divn="8"><pbfacs="#f0336"n="308"/><divn="9"><head><hirendition="#aq">A.</hi><hirendition="#g">Das Syſtem der <hirendition="#aq">Facultés.</hi></hi></head><lb/><p>Das Frankreich eigenthümliche Syſtem der <hirendition="#aq">Facultés</hi> iſt formell die<lb/>
Aufſtellung ſelbſtändiger Fachbildungsanſtalten für die einzelnen wiſſen-<lb/>ſchaftlichen Berufe, in der aber die im Bifurcationsſyſtem der Lyceen<lb/>
auftretende Scheidung der <hirendition="#aq">Sciences</hi> und der <hirendition="#aq">Lettres</hi>ſich fortſetzt. Es<lb/>
gibt daher fünf Arten der <hirendition="#aq">Facultés</hi> in Frankreich. In dieſer Bezie-<lb/>
hung iſt die äußere Aehnlichkeit mit dem deutſchen Univerſitätsweſen<lb/>
allerdings vorhanden. Allein der Unterſchied tritt ſogleich hervor, ſo<lb/>
wie man einen Schritt weiter geht. Jene fünf <hirendition="#aq">Facultés</hi>ſind nämlich<lb/>
nicht Fakultäten an einer Univerſität, alſo <hirendition="#g">zuſammen</hi> einen ſelbſtän-<lb/>
digen, auch örtlich als Einheit auftretenden wiſſenſchaftlichen Selbſt-<lb/>
verwaltungskörper bildend, ſondern jede dieſer <hirendition="#aq">Facultés</hi> beſteht ganz für<lb/>ſich; ſie ſind in verſchiedenen Orten hergeſtellt, und ſowohl ohne wiſſen-<lb/>ſchaftliche als adminiſtrative Verbindung unter einander. Gemeinſam<lb/>
iſt ihnen nur die oberſte ſtaatliche Verwaltung, vermöge deren ſie<lb/>
unter der <hirendition="#aq">Université</hi> als <hirendition="#aq">Instruction supérieure</hi>ſtehen. Eben ſo wenig<lb/>
iſt ihnen der Lehrgang oder auch nur die Dauer deſſelben gleich; jede<lb/><hirendition="#aq">Faculté</hi> iſt von vorn herein als eine ganz ſelbſtändige, nur für <hirendition="#g">ihren</hi><lb/>
Zweck beſtimmte Fachbildungsanſtalt aufgefaßt. Es iſt der tiefe <hirendition="#g">innere</hi><lb/>
Unterſchied des Fakultätsweſens Frankreichs von dem deutſchen faſt auf<lb/>
den erſten Blick klar, ſo wie man die Organiſation derſelben betrachtet.<lb/>
Sie ſind allerdings Berufsbildungsanſtalten; allein der Beruf ſelbſt iſt<lb/>
dem franzöſiſchen Geiſte überhaupt nicht die ethiſche Einheit des ganzen<lb/>
geiſtigen Lebens, ausgedrückt in der Lebensaufgabe des Einzelnen, ſon-<lb/>
dern nur eine ſpecielle Ausübung einer beſtimmten öffentlichen Pflicht.<lb/>
Der Beruf fordert daher auch in Frankreich keine Geſammtbildung des<lb/>
Geiſtes, ſondern <hirendition="#g">nur</hi> die ſpecielle Fachbildung. Der geiſtige Einfluß,<lb/>
den eine Wiſſenſchaft auf die andere hat, iſt hier nicht bekannt oder<lb/>
doch nicht anerkannt. Es gibt kein geiſtiges Band und daher auch kein<lb/>
äußeres Zuſammenwirken und Zuſammenſein der Fakultäten in der<lb/>
Univerſität. Daher <hirendition="#g">fehlt</hi> der ganzen Fakultätsbildung Frankreichs<lb/>
dasjenige, was dieſelbe in Deutſchland ſo weſentlich charakteriſirt. Die<lb/><hirendition="#aq">Faculté</hi> hat <hirendition="#g">keine</hi> allgemeinen Fächer, keine Philoſophie, keine Ge-<lb/>ſchichte, keine Staatswiſſenſchaft, nicht einmal Lehrſtühle für dieſelben,<lb/>
viel weniger eine Prüfung dafür. Selbſt der Zuſammenhang mit der<lb/>
Vorbildung iſt ein anderer. Die <hirendition="#aq">Instruction secondaire</hi> der <hirendition="#aq">Lycées</hi><lb/>
gilt <hirendition="#g">nicht</hi> für jede <hirendition="#aq">Faculté,</hi>ſondern das <hirendition="#aq">Baccalauréat ès sciences</hi><lb/>
gilt <hirendition="#g">nur</hi> für die <hirendition="#aq">Faculté des sciences</hi> und nicht für die übrigen,<lb/>
während die <hirendition="#aq">Faculté des sciences</hi>ſelbſt wieder, mit <hirendition="#g">Ausſchluß</hi> der<lb/>
klaſſiſchen Bildung, nur die theoretiſch wirthſchaftliche in Mathematik<lb/></p></div></div></div></div></div></div></div></div></div></body></text></TEI>
[308/0336]
A. Das Syſtem der Facultés.
Das Frankreich eigenthümliche Syſtem der Facultés iſt formell die
Aufſtellung ſelbſtändiger Fachbildungsanſtalten für die einzelnen wiſſen-
ſchaftlichen Berufe, in der aber die im Bifurcationsſyſtem der Lyceen
auftretende Scheidung der Sciences und der Lettres ſich fortſetzt. Es
gibt daher fünf Arten der Facultés in Frankreich. In dieſer Bezie-
hung iſt die äußere Aehnlichkeit mit dem deutſchen Univerſitätsweſen
allerdings vorhanden. Allein der Unterſchied tritt ſogleich hervor, ſo
wie man einen Schritt weiter geht. Jene fünf Facultés ſind nämlich
nicht Fakultäten an einer Univerſität, alſo zuſammen einen ſelbſtän-
digen, auch örtlich als Einheit auftretenden wiſſenſchaftlichen Selbſt-
verwaltungskörper bildend, ſondern jede dieſer Facultés beſteht ganz für
ſich; ſie ſind in verſchiedenen Orten hergeſtellt, und ſowohl ohne wiſſen-
ſchaftliche als adminiſtrative Verbindung unter einander. Gemeinſam
iſt ihnen nur die oberſte ſtaatliche Verwaltung, vermöge deren ſie
unter der Université als Instruction supérieure ſtehen. Eben ſo wenig
iſt ihnen der Lehrgang oder auch nur die Dauer deſſelben gleich; jede
Faculté iſt von vorn herein als eine ganz ſelbſtändige, nur für ihren
Zweck beſtimmte Fachbildungsanſtalt aufgefaßt. Es iſt der tiefe innere
Unterſchied des Fakultätsweſens Frankreichs von dem deutſchen faſt auf
den erſten Blick klar, ſo wie man die Organiſation derſelben betrachtet.
Sie ſind allerdings Berufsbildungsanſtalten; allein der Beruf ſelbſt iſt
dem franzöſiſchen Geiſte überhaupt nicht die ethiſche Einheit des ganzen
geiſtigen Lebens, ausgedrückt in der Lebensaufgabe des Einzelnen, ſon-
dern nur eine ſpecielle Ausübung einer beſtimmten öffentlichen Pflicht.
Der Beruf fordert daher auch in Frankreich keine Geſammtbildung des
Geiſtes, ſondern nur die ſpecielle Fachbildung. Der geiſtige Einfluß,
den eine Wiſſenſchaft auf die andere hat, iſt hier nicht bekannt oder
doch nicht anerkannt. Es gibt kein geiſtiges Band und daher auch kein
äußeres Zuſammenwirken und Zuſammenſein der Fakultäten in der
Univerſität. Daher fehlt der ganzen Fakultätsbildung Frankreichs
dasjenige, was dieſelbe in Deutſchland ſo weſentlich charakteriſirt. Die
Faculté hat keine allgemeinen Fächer, keine Philoſophie, keine Ge-
ſchichte, keine Staatswiſſenſchaft, nicht einmal Lehrſtühle für dieſelben,
viel weniger eine Prüfung dafür. Selbſt der Zuſammenhang mit der
Vorbildung iſt ein anderer. Die Instruction secondaire der Lycées
gilt nicht für jede Faculté, ſondern das Baccalauréat ès sciences
gilt nur für die Faculté des sciences und nicht für die übrigen,
während die Faculté des sciences ſelbſt wieder, mit Ausſchluß der
klaſſiſchen Bildung, nur die theoretiſch wirthſchaftliche in Mathematik
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 5. Stuttgart, 1868, S. 308. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre05_1868/336>, abgerufen am 22.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.