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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 3 (2,2). Stuttgart, 1867.

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für Dasjenige empfänglich macht, was die Theorie gefunden hat; und
auf dieser Verbindung, die in keinem andern Theile der Verwaltung
so organisch hergestellt ist, als in diesem, beruht die wahre Zukunft
des Gesundheitswesens.

Was nun daneben die Verwaltung als solche betrifft, so kann
man nicht verkennen, daß auch sie von ihrem Standpunkt namentlich
in den letzten Jahrzehnten ein neues und eigenthümliches Element in
das Gesundheitswesen hineingebracht hat, das mit dem Obigen Hand in
Hand geht. Dasselbe besteht in der socialen Auffassung der Gesund-
heitsverwaltung. Die regelmäßige Beobachtung der Zustände und des
Wechsels der öffentlichen Gesundheit drängt nämlich der letzteren unab-
weisbar die Ueberzeugung auf, daß die Gesundheitszustände der ver-
schiedenen Classen der Bevölkerung mit einander in gegenseitig bedingen-
dem Verhältniß stehen, und daß es keine Gesundheit der höheren Classen
ohne eine Gesundheit der niederen gebe. Die große Idee der Identität
der Interessen
aller gesellschaftlichen Ordnungen und Zustände bricht
sich daher auch in dem Gesundheitswesen Bahn, und die Gesundheits-
verwaltung wird dadurch wiederum unter allen Theilen der Verwaltung
derjenige, der am ersten und am klarsten in der Sorge für die niedern
Classen den Schutz der höheren erkennt. Das bildet nun einen unend-
lich reichhaltigen Stoff sowohl für die theoretische als für die praktische
Thätigkeit, und es ist kein Zweifel, daß an diesen Punkt sich das Be-
wußtsein der gesellschaftlichen Mission der Aerzte anschließt, das schon
jetzt Bedeutendes leistet, und zu noch größeren Dingen im Namen der
Grundlage aller wirklichen Gesittung, der körperlichen Gesundheit und
Kraft berufen ist.

Diese beiden Faktoren haben nun ihrerseits wieder einen entschei-
denden Einfluß auf die Gesetzgebung einerseits, und auf die Literatur
andererseits.

Die Gesetzgebung nämlich verläßt auf Grundlage der geistigen
Bewegung in der Wissenschaft der Heilkunde ihren bisherigen Stand-
punkt, auf welchem sie das ganze Gesundheitswesen codificiren und
in der vorschriftsmäßigen Thätigkeit der Aerzte die Höhe der Verwal-
tung erkennen wollte. Sie gibt es ferner auf, durch einzelne, nutzlose
und unerquickliche Vorschriften über das individuelle Leben für die Ge-
sundheit der Einzelnen sorgen zu wollen. Alle Verordnungen über
Unmäßigkeit, Kleiderordnung, Verhalten der Schwangern u. s. w. ver-
schwinden oder führen nur noch ein Scheinleben auf dem Papiere fort.
Dagegen entstehen gründliche und tüchtige Gesetze über die einzelnen
Gebiete des Gesundheitswesens, verbunden mit einer stets wachsenden
oberaufsehenden Thätigkeit über die elementaren Verhältnisse des öffent-

für Dasjenige empfänglich macht, was die Theorie gefunden hat; und
auf dieſer Verbindung, die in keinem andern Theile der Verwaltung
ſo organiſch hergeſtellt iſt, als in dieſem, beruht die wahre Zukunft
des Geſundheitsweſens.

Was nun daneben die Verwaltung als ſolche betrifft, ſo kann
man nicht verkennen, daß auch ſie von ihrem Standpunkt namentlich
in den letzten Jahrzehnten ein neues und eigenthümliches Element in
das Geſundheitsweſen hineingebracht hat, das mit dem Obigen Hand in
Hand geht. Daſſelbe beſteht in der ſocialen Auffaſſung der Geſund-
heitsverwaltung. Die regelmäßige Beobachtung der Zuſtände und des
Wechſels der öffentlichen Geſundheit drängt nämlich der letzteren unab-
weisbar die Ueberzeugung auf, daß die Geſundheitszuſtände der ver-
ſchiedenen Claſſen der Bevölkerung mit einander in gegenſeitig bedingen-
dem Verhältniß ſtehen, und daß es keine Geſundheit der höheren Claſſen
ohne eine Geſundheit der niederen gebe. Die große Idee der Identität
der Intereſſen
aller geſellſchaftlichen Ordnungen und Zuſtände bricht
ſich daher auch in dem Geſundheitsweſen Bahn, und die Geſundheits-
verwaltung wird dadurch wiederum unter allen Theilen der Verwaltung
derjenige, der am erſten und am klarſten in der Sorge für die niedern
Claſſen den Schutz der höheren erkennt. Das bildet nun einen unend-
lich reichhaltigen Stoff ſowohl für die theoretiſche als für die praktiſche
Thätigkeit, und es iſt kein Zweifel, daß an dieſen Punkt ſich das Be-
wußtſein der geſellſchaftlichen Miſſion der Aerzte anſchließt, das ſchon
jetzt Bedeutendes leiſtet, und zu noch größeren Dingen im Namen der
Grundlage aller wirklichen Geſittung, der körperlichen Geſundheit und
Kraft berufen iſt.

Dieſe beiden Faktoren haben nun ihrerſeits wieder einen entſchei-
denden Einfluß auf die Geſetzgebung einerſeits, und auf die Literatur
andererſeits.

Die Geſetzgebung nämlich verläßt auf Grundlage der geiſtigen
Bewegung in der Wiſſenſchaft der Heilkunde ihren bisherigen Stand-
punkt, auf welchem ſie das ganze Geſundheitsweſen codificiren und
in der vorſchriftsmäßigen Thätigkeit der Aerzte die Höhe der Verwal-
tung erkennen wollte. Sie gibt es ferner auf, durch einzelne, nutzloſe
und unerquickliche Vorſchriften über das individuelle Leben für die Ge-
ſundheit der Einzelnen ſorgen zu wollen. Alle Verordnungen über
Unmäßigkeit, Kleiderordnung, Verhalten der Schwangern u. ſ. w. ver-
ſchwinden oder führen nur noch ein Scheinleben auf dem Papiere fort.
Dagegen entſtehen gründliche und tüchtige Geſetze über die einzelnen
Gebiete des Geſundheitsweſens, verbunden mit einer ſtets wachſenden
oberaufſehenden Thätigkeit über die elementaren Verhältniſſe des öffent-

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[15/0031] für Dasjenige empfänglich macht, was die Theorie gefunden hat; und auf dieſer Verbindung, die in keinem andern Theile der Verwaltung ſo organiſch hergeſtellt iſt, als in dieſem, beruht die wahre Zukunft des Geſundheitsweſens. Was nun daneben die Verwaltung als ſolche betrifft, ſo kann man nicht verkennen, daß auch ſie von ihrem Standpunkt namentlich in den letzten Jahrzehnten ein neues und eigenthümliches Element in das Geſundheitsweſen hineingebracht hat, das mit dem Obigen Hand in Hand geht. Daſſelbe beſteht in der ſocialen Auffaſſung der Geſund- heitsverwaltung. Die regelmäßige Beobachtung der Zuſtände und des Wechſels der öffentlichen Geſundheit drängt nämlich der letzteren unab- weisbar die Ueberzeugung auf, daß die Geſundheitszuſtände der ver- ſchiedenen Claſſen der Bevölkerung mit einander in gegenſeitig bedingen- dem Verhältniß ſtehen, und daß es keine Geſundheit der höheren Claſſen ohne eine Geſundheit der niederen gebe. Die große Idee der Identität der Intereſſen aller geſellſchaftlichen Ordnungen und Zuſtände bricht ſich daher auch in dem Geſundheitsweſen Bahn, und die Geſundheits- verwaltung wird dadurch wiederum unter allen Theilen der Verwaltung derjenige, der am erſten und am klarſten in der Sorge für die niedern Claſſen den Schutz der höheren erkennt. Das bildet nun einen unend- lich reichhaltigen Stoff ſowohl für die theoretiſche als für die praktiſche Thätigkeit, und es iſt kein Zweifel, daß an dieſen Punkt ſich das Be- wußtſein der geſellſchaftlichen Miſſion der Aerzte anſchließt, das ſchon jetzt Bedeutendes leiſtet, und zu noch größeren Dingen im Namen der Grundlage aller wirklichen Geſittung, der körperlichen Geſundheit und Kraft berufen iſt. Dieſe beiden Faktoren haben nun ihrerſeits wieder einen entſchei- denden Einfluß auf die Geſetzgebung einerſeits, und auf die Literatur andererſeits. Die Geſetzgebung nämlich verläßt auf Grundlage der geiſtigen Bewegung in der Wiſſenſchaft der Heilkunde ihren bisherigen Stand- punkt, auf welchem ſie das ganze Geſundheitsweſen codificiren und in der vorſchriftsmäßigen Thätigkeit der Aerzte die Höhe der Verwal- tung erkennen wollte. Sie gibt es ferner auf, durch einzelne, nutzloſe und unerquickliche Vorſchriften über das individuelle Leben für die Ge- ſundheit der Einzelnen ſorgen zu wollen. Alle Verordnungen über Unmäßigkeit, Kleiderordnung, Verhalten der Schwangern u. ſ. w. ver- ſchwinden oder führen nur noch ein Scheinleben auf dem Papiere fort. Dagegen entſtehen gründliche und tüchtige Geſetze über die einzelnen Gebiete des Geſundheitsweſens, verbunden mit einer ſtets wachſenden oberaufſehenden Thätigkeit über die elementaren Verhältniſſe des öffent-

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 3 (2,2). Stuttgart, 1867, S. 15. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre03_1867/31>, abgerufen am 26.04.2024.