anschließt, niemals ein vollständiges, geschweige denn ein einheitliches Ganze zu werden, sondern vor allem erscheint es, gegeben durch die Volksvertretung, auch den in derselben herrschenden Classen und Stimmungen unterworfen. Denn erst in der Verwaltung wird die Idee der Herrschaft einer Classe über die andere zu einem positiven Inhalt, und unwiderstehlich durch die Gewalt des Staats und das Wesen des Gesetzes. Es ist daher stets seiner Form nach frei, aber oft seinem Inhalt nach unfrei; niemals öfter als da, wo es am freiesten sein sollte, in den Epochen tiefgehender und lebendig gefühlter gesellschaft- licher Gegensätze.
2) Die Entwicklung des rechtsbildenden Processes, den wir die constitutionelle Rechtsbildung des Verwaltungs- rechts nennen. -- Begriff und Bedeutung der sogenannten Initiative der Regierung.
So sind beide Grundformen des Verwaltungsrechts, das verord- nungsmäßige und das gesetzmäßige, bei aller Gleichheit ihrer Objekte und bei aller Gleichheit ihrer äußern Gültigkeit wesentlich verschieden. Trotz dem ist nun diese Verschiedenheit nicht der Art, daß die eine Form die andere an sich ausschlösse, oder eine als die vorzugsweise richtige erscheinen ließe. Sondern es ist kein Zweifel, daß sie sich gegen- seitig zu erfüllen und zu ersetzen haben. Jede dieser Formen leistet etwas, was die andere nicht leistet; jede ist bis zu einem gewissen Grade das, was die andere nicht sein kann. Es ist daher schon hier klar, daß es weder richtig ist, die Bildung des Verwaltungsrechts aus- schließlich auf die Verordnung, noch auch dieselbe ausschließlich auf das Gesetz zu basiren. Sondern wir müssen vielmehr sagen, daß die wahre Bildung des Verwaltungsrechts im harmonischen Zusammenwirken beider Bildungsformen vor sich gehen soll.
In der That nun sind auch zu keiner Zeit und an keinem Orte beide Grundformen dauernd ganz beseitigt worden. Sie haben im Gegentheil stets neben und mit einander bestanden. Man kann im Allgemeinen sagen, daß in der ständischen Epoche das gesetzmäßige Ver- waltungsrecht das verordnungsmäßige fast ganz beseitigt, während umgekehrt in der darauf folgenden Zeit des absoluten Königthums das verordnungsmäßige Verwaltungsrecht das gesetzmäßige fast gänzlich ver- nichtet. Die folgende Darstellung wird diesen, ohnehin bekannten Satz im Einzelnen genauer nachweisen. Erst in der staatsbürgerlichen Ge- sellschaftsordnung erzeugt sich die Harmonie zwischen dem persönlichen Staate und dem freien Staatsbürgerthum, in andern Gebieten und so
Stein, die Verwaltungslehre. II. 6
anſchließt, niemals ein vollſtändiges, geſchweige denn ein einheitliches Ganze zu werden, ſondern vor allem erſcheint es, gegeben durch die Volksvertretung, auch den in derſelben herrſchenden Claſſen und Stimmungen unterworfen. Denn erſt in der Verwaltung wird die Idee der Herrſchaft einer Claſſe über die andere zu einem poſitiven Inhalt, und unwiderſtehlich durch die Gewalt des Staats und das Weſen des Geſetzes. Es iſt daher ſtets ſeiner Form nach frei, aber oft ſeinem Inhalt nach unfrei; niemals öfter als da, wo es am freieſten ſein ſollte, in den Epochen tiefgehender und lebendig gefühlter geſellſchaft- licher Gegenſätze.
2) Die Entwicklung des rechtsbildenden Proceſſes, den wir die conſtitutionelle Rechtsbildung des Verwaltungs- rechts nennen. — Begriff und Bedeutung der ſogenannten Initiative der Regierung.
So ſind beide Grundformen des Verwaltungsrechts, das verord- nungsmäßige und das geſetzmäßige, bei aller Gleichheit ihrer Objekte und bei aller Gleichheit ihrer äußern Gültigkeit weſentlich verſchieden. Trotz dem iſt nun dieſe Verſchiedenheit nicht der Art, daß die eine Form die andere an ſich ausſchlöſſe, oder eine als die vorzugsweiſe richtige erſcheinen ließe. Sondern es iſt kein Zweifel, daß ſie ſich gegen- ſeitig zu erfüllen und zu erſetzen haben. Jede dieſer Formen leiſtet etwas, was die andere nicht leiſtet; jede iſt bis zu einem gewiſſen Grade das, was die andere nicht ſein kann. Es iſt daher ſchon hier klar, daß es weder richtig iſt, die Bildung des Verwaltungsrechts aus- ſchließlich auf die Verordnung, noch auch dieſelbe ausſchließlich auf das Geſetz zu baſiren. Sondern wir müſſen vielmehr ſagen, daß die wahre Bildung des Verwaltungsrechts im harmoniſchen Zuſammenwirken beider Bildungsformen vor ſich gehen ſoll.
In der That nun ſind auch zu keiner Zeit und an keinem Orte beide Grundformen dauernd ganz beſeitigt worden. Sie haben im Gegentheil ſtets neben und mit einander beſtanden. Man kann im Allgemeinen ſagen, daß in der ſtändiſchen Epoche das geſetzmäßige Ver- waltungsrecht das verordnungsmäßige faſt ganz beſeitigt, während umgekehrt in der darauf folgenden Zeit des abſoluten Königthums das verordnungsmäßige Verwaltungsrecht das geſetzmäßige faſt gänzlich ver- nichtet. Die folgende Darſtellung wird dieſen, ohnehin bekannten Satz im Einzelnen genauer nachweiſen. Erſt in der ſtaatsbürgerlichen Ge- ſellſchaftsordnung erzeugt ſich die Harmonie zwiſchen dem perſönlichen Staate und dem freien Staatsbürgerthum, in andern Gebieten und ſo
Stein, die Verwaltungslehre. II. 6
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anſchließt, niemals ein vollſtändiges, geſchweige denn ein einheitliches
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die Volksvertretung, auch den in derſelben herrſchenden Claſſen und
Stimmungen unterworfen. Denn erſt in der Verwaltung wird die
Idee der Herrſchaft einer Claſſe über die andere zu einem poſitiven
Inhalt, und unwiderſtehlich durch die Gewalt des Staats und das
Weſen des Geſetzes. Es iſt daher ſtets ſeiner Form nach frei, aber
oft ſeinem Inhalt nach unfrei; niemals öfter als da, wo es am freieſten
ſein ſollte, in den Epochen tiefgehender und lebendig gefühlter geſellſchaft-
licher Gegenſätze.
2) Die Entwicklung des rechtsbildenden Proceſſes, den
wir die conſtitutionelle Rechtsbildung des Verwaltungs-
rechts nennen. — Begriff und Bedeutung der ſogenannten
Initiative der Regierung.
So ſind beide Grundformen des Verwaltungsrechts, das verord-
nungsmäßige und das geſetzmäßige, bei aller Gleichheit ihrer Objekte
und bei aller Gleichheit ihrer äußern Gültigkeit weſentlich verſchieden.
Trotz dem iſt nun dieſe Verſchiedenheit nicht der Art, daß die eine
Form die andere an ſich ausſchlöſſe, oder eine als die vorzugsweiſe
richtige erſcheinen ließe. Sondern es iſt kein Zweifel, daß ſie ſich gegen-
ſeitig zu erfüllen und zu erſetzen haben. Jede dieſer Formen leiſtet
etwas, was die andere nicht leiſtet; jede iſt bis zu einem gewiſſen
Grade das, was die andere nicht ſein kann. Es iſt daher ſchon hier
klar, daß es weder richtig iſt, die Bildung des Verwaltungsrechts aus-
ſchließlich auf die Verordnung, noch auch dieſelbe ausſchließlich auf das
Geſetz zu baſiren. Sondern wir müſſen vielmehr ſagen, daß die wahre
Bildung des Verwaltungsrechts im harmoniſchen Zuſammenwirken beider
Bildungsformen vor ſich gehen ſoll.
In der That nun ſind auch zu keiner Zeit und an keinem Orte
beide Grundformen dauernd ganz beſeitigt worden. Sie haben im
Gegentheil ſtets neben und mit einander beſtanden. Man kann im
Allgemeinen ſagen, daß in der ſtändiſchen Epoche das geſetzmäßige Ver-
waltungsrecht das verordnungsmäßige faſt ganz beſeitigt, während
umgekehrt in der darauf folgenden Zeit des abſoluten Königthums das
verordnungsmäßige Verwaltungsrecht das geſetzmäßige faſt gänzlich ver-
nichtet. Die folgende Darſtellung wird dieſen, ohnehin bekannten Satz
im Einzelnen genauer nachweiſen. Erſt in der ſtaatsbürgerlichen Ge-
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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866, S. 81. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre02_1866/103>, abgerufen am 21.02.2025.
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