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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865.

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Das Leben des Staats und seine Wissenschaft.

Wir sind gezwungen, einen fertigen Begriff des Staats hier an
die Spitze zu stellen, ohne seine tiefere philosophische Begründung unter-
nehmen zu dürfen. Der entscheidende Beweis für seine Richtigkeit muß
dann in seiner Fähigkeit gesucht werden, von ihm aus jede den theo-
retischen sowie den praktischen Inhalt des Staats betreffende Frage zu
beantworten.

Die Gemeinschaft der Menschen erscheint in der That nicht bloß
als eine Thatsache, sondern als eine absolute Bedingung für das höchste
Princip alles Lebens der Persönlichkeit, der vollen und freien Entwick-
lung derselben. Als eine absolute, das ist, in der Natur der Persön-
lichkeit selbst liegende Bedingung für diese Erfüllung des Wesens und
der Bestimmung des letztern ist sie selbst nicht eine Folge eines Beschlusses
oder Vertrages der Einzelnen zu betrachten, sondern sie ist, wie die
einzelne Persönlichkeit, durch sich selbst vorhanden. Sie hat daher ihren
Grund in sich, unabhängig von dem Einzelwillen und selbst von der
äußern Natur: sie ist vielmehr ein Ausfluß desselben Wesens, aus dem
die einzelne Persönlichkeit entsprungen ist. Sie kann nie aufgehoben
werden, so lange es Einzelne gibt; sie ist, wie man es anders aus-
drücken kann, dem Begriffe der Persönlichkeit immanent; es ist nicht
möglich, ohne sie den letztern auszudrücken. Das ist es, was schon
Aristoteles mit seinem zoon politikon bezeichnen wollte, und was
am Ende auch allen Vertragstheorien zum Grunde liegt. Denn die
Unmöglichkeit, die Nothwendigkeit eines solchen Vertrages zu läug-
nen oder auch nur zu bezweifeln, -- und nie hat das jemand versucht
-- ist selbst allein der Beweis für das nicht mehr vertragsmäßige, son-
dern selbstbedingte Dasein der menschlichen Gemeinschaft.

Ist sie aber ein solches selbstbedingtes Wesen, so ist sie eben nicht
mehr bloß Thatsache und Bedingung für die Einzelnen, sondern sie ist,
das höchste Wesen der letztern selbst besitzend, dasselbe was diese selber
sind, eine Persönlichkeit. Und diese zur Persönlichkeit, zum per-
sönlichen Bewußtsein, zum persönlichen Wollen und Handeln erhobene
Gemeinschaft der Menschen ist der Staat.

Indem nun der Staat die zum individuellen, persönlichen Leben
erhobene Gemeinschaft der Einzelnen, eine selbständige, höhere und un-
endlich großartigere Gestalt der Persönlichkeit ist, als der Einzelnen, so
folgt, daß die Grundbegriffe und Grundverhältnisse der einzelnen Per-
sönlichkeit bei ihm nicht bloß im Allgemeinen wieder erscheinen, sondern
daß sie vielmehr in höherer und größerer Form in ihm da sein müssen


Das Leben des Staats und ſeine Wiſſenſchaft.

Wir ſind gezwungen, einen fertigen Begriff des Staats hier an
die Spitze zu ſtellen, ohne ſeine tiefere philoſophiſche Begründung unter-
nehmen zu dürfen. Der entſcheidende Beweis für ſeine Richtigkeit muß
dann in ſeiner Fähigkeit geſucht werden, von ihm aus jede den theo-
retiſchen ſowie den praktiſchen Inhalt des Staats betreffende Frage zu
beantworten.

Die Gemeinſchaft der Menſchen erſcheint in der That nicht bloß
als eine Thatſache, ſondern als eine abſolute Bedingung für das höchſte
Princip alles Lebens der Perſönlichkeit, der vollen und freien Entwick-
lung derſelben. Als eine abſolute, das iſt, in der Natur der Perſön-
lichkeit ſelbſt liegende Bedingung für dieſe Erfüllung des Weſens und
der Beſtimmung des letztern iſt ſie ſelbſt nicht eine Folge eines Beſchluſſes
oder Vertrages der Einzelnen zu betrachten, ſondern ſie iſt, wie die
einzelne Perſönlichkeit, durch ſich ſelbſt vorhanden. Sie hat daher ihren
Grund in ſich, unabhängig von dem Einzelwillen und ſelbſt von der
äußern Natur: ſie iſt vielmehr ein Ausfluß deſſelben Weſens, aus dem
die einzelne Perſönlichkeit entſprungen iſt. Sie kann nie aufgehoben
werden, ſo lange es Einzelne gibt; ſie iſt, wie man es anders aus-
drücken kann, dem Begriffe der Perſönlichkeit immanent; es iſt nicht
möglich, ohne ſie den letztern auszudrücken. Das iſt es, was ſchon
Ariſtoteles mit ſeinem ζωον πολιτικον bezeichnen wollte, und was
am Ende auch allen Vertragstheorien zum Grunde liegt. Denn die
Unmöglichkeit, die Nothwendigkeit eines ſolchen Vertrages zu läug-
nen oder auch nur zu bezweifeln, — und nie hat das jemand verſucht
— iſt ſelbſt allein der Beweis für das nicht mehr vertragsmäßige, ſon-
dern ſelbſtbedingte Daſein der menſchlichen Gemeinſchaft.

Iſt ſie aber ein ſolches ſelbſtbedingtes Weſen, ſo iſt ſie eben nicht
mehr bloß Thatſache und Bedingung für die Einzelnen, ſondern ſie iſt,
das höchſte Weſen der letztern ſelbſt beſitzend, daſſelbe was dieſe ſelber
ſind, eine Perſönlichkeit. Und dieſe zur Perſönlichkeit, zum per-
ſönlichen Bewußtſein, zum perſönlichen Wollen und Handeln erhobene
Gemeinſchaft der Menſchen iſt der Staat.

Indem nun der Staat die zum individuellen, perſönlichen Leben
erhobene Gemeinſchaft der Einzelnen, eine ſelbſtändige, höhere und un-
endlich großartigere Geſtalt der Perſönlichkeit iſt, als der Einzelnen, ſo
folgt, daß die Grundbegriffe und Grundverhältniſſe der einzelnen Per-
ſönlichkeit bei ihm nicht bloß im Allgemeinen wieder erſcheinen, ſondern
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[2/0026] Das Leben des Staats und ſeine Wiſſenſchaft. Wir ſind gezwungen, einen fertigen Begriff des Staats hier an die Spitze zu ſtellen, ohne ſeine tiefere philoſophiſche Begründung unter- nehmen zu dürfen. Der entſcheidende Beweis für ſeine Richtigkeit muß dann in ſeiner Fähigkeit geſucht werden, von ihm aus jede den theo- retiſchen ſowie den praktiſchen Inhalt des Staats betreffende Frage zu beantworten. Die Gemeinſchaft der Menſchen erſcheint in der That nicht bloß als eine Thatſache, ſondern als eine abſolute Bedingung für das höchſte Princip alles Lebens der Perſönlichkeit, der vollen und freien Entwick- lung derſelben. Als eine abſolute, das iſt, in der Natur der Perſön- lichkeit ſelbſt liegende Bedingung für dieſe Erfüllung des Weſens und der Beſtimmung des letztern iſt ſie ſelbſt nicht eine Folge eines Beſchluſſes oder Vertrages der Einzelnen zu betrachten, ſondern ſie iſt, wie die einzelne Perſönlichkeit, durch ſich ſelbſt vorhanden. Sie hat daher ihren Grund in ſich, unabhängig von dem Einzelwillen und ſelbſt von der äußern Natur: ſie iſt vielmehr ein Ausfluß deſſelben Weſens, aus dem die einzelne Perſönlichkeit entſprungen iſt. Sie kann nie aufgehoben werden, ſo lange es Einzelne gibt; ſie iſt, wie man es anders aus- drücken kann, dem Begriffe der Perſönlichkeit immanent; es iſt nicht möglich, ohne ſie den letztern auszudrücken. Das iſt es, was ſchon Ariſtoteles mit ſeinem ζωον πολιτικον bezeichnen wollte, und was am Ende auch allen Vertragstheorien zum Grunde liegt. Denn die Unmöglichkeit, die Nothwendigkeit eines ſolchen Vertrages zu läug- nen oder auch nur zu bezweifeln, — und nie hat das jemand verſucht — iſt ſelbſt allein der Beweis für das nicht mehr vertragsmäßige, ſon- dern ſelbſtbedingte Daſein der menſchlichen Gemeinſchaft. Iſt ſie aber ein ſolches ſelbſtbedingtes Weſen, ſo iſt ſie eben nicht mehr bloß Thatſache und Bedingung für die Einzelnen, ſondern ſie iſt, das höchſte Weſen der letztern ſelbſt beſitzend, daſſelbe was dieſe ſelber ſind, eine Perſönlichkeit. Und dieſe zur Perſönlichkeit, zum per- ſönlichen Bewußtſein, zum perſönlichen Wollen und Handeln erhobene Gemeinſchaft der Menſchen iſt der Staat. Indem nun der Staat die zum individuellen, perſönlichen Leben erhobene Gemeinſchaft der Einzelnen, eine ſelbſtändige, höhere und un- endlich großartigere Geſtalt der Perſönlichkeit iſt, als der Einzelnen, ſo folgt, daß die Grundbegriffe und Grundverhältniſſe der einzelnen Per- ſönlichkeit bei ihm nicht bloß im Allgemeinen wieder erſcheinen, ſondern daß ſie vielmehr in höherer und größerer Form in ihm da ſein müſſen

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/26>, abgerufen am 21.11.2024.