Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Stein, Lorenz von: Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts: mit Vergleichung der Literatur und Gesetzgebung von Frankreich, England und Deutschland; als Grundlage für Vorlesungen. Stuttgart, 1870.

Bild:
<< vorherige Seite

Wirthschaft und Gesellschaft zu seinen hundertfach verschiedenen indivi-
duellen Gestaltungen historisch ausgebildet hat. Die künftige Verwal-
tungslehre wird diese Grundlage voraussetzen können, wenn man sich
darüber einig geworden sein wird; wir können es bis jetzt noch nicht.
Die Institutionen des Verwaltungsrechts werden daher nothwendig die
ersten Elemente der Lehre vom Staat mit in sich aufnehmen müssen,
um die erste Bedingung richtigen Verständnisses, den organischen Zu-
sammenhang mit dem Ganzen des Staatslebens auf jedem Punkte in
lebendigem Bewußtsein auf sich zu nehmen. So wird sie die Wahrheit
auch des Satzes beweisen, daß zuletzt stets der Beweis für die Richtig-
keit des Einzelnen nicht in ihm, sondern in seinem Zusammenhange
mit dem Ganzen besteht.

Das große Verbindungsglied zwischen der Idee des Staats und
der Verwaltung überhaupt, im besondern der innern Verwaltung, ist
nun der Begriff und der Inhalt der vollziehenden Gewalt. Sie
ist der große selbständige Organismus, durch welchen die Grundsätze
der Verfassung in die Verwaltung übergehen
. Denn in jedem
Punkte der Verwaltung erzeugt die Verfassung das Gesetz derselben, die
vollziehende Gewalt aber ihre Ausführung. So tritt uns in Verfassung,
Vollziehung und Verwaltung der lebendige Staat entgegen. Und dieß
darzulegen, ist die Aufgabe dieser Institutionen des Verwaltungsrechts.

Wir dürfen eine Bemerkung vorauf senden. Nachdem in der zweiten
Auflage der vollziehenden Gewalt (3. Bd.) der Stoff mit ziemlicher Reichhaltig-
keit gegeben ist und die ersten Gebiete der inneren Verwaltung (Bd. 2 bis 7)
ausführlich behandelt sind, so haben wir die vollziehende Gewalt nur in ganz
kurzer Uebersicht hier mit aufgenommen, und die ersten Gebiete der Verwaltung
gleichfalls in möglichster Gedrängtheit dargestellt. Das Mißverhältniß zwischen
den spätern noch nicht ausführlich behandelten und jenen ersten Theilen dürfte
dadurch erklärt und motivirt erscheinen.


Der organische Staatsbegriff.
I. Der Staat und seine organischen Grundbegriffe.

Die Gemeinschaft der Einzelnen ist ein durch das Wesen der ein-
zelnen Persönlichkeit selbst gegebenes Moment derselben. Als solches,
nicht durch den Willen und die Willkür, sondern durch den Begriff
der Einzelnen selbst gesetztes Leben wird sie selbst zur Persönlichkeit.
Und diese zur selbständigen, selbstbewußten und selbstthätigen Persön-
lichkeit erhobene Gemeinschaft ist der Staat.

Wirthſchaft und Geſellſchaft zu ſeinen hundertfach verſchiedenen indivi-
duellen Geſtaltungen hiſtoriſch ausgebildet hat. Die künftige Verwal-
tungslehre wird dieſe Grundlage vorausſetzen können, wenn man ſich
darüber einig geworden ſein wird; wir können es bis jetzt noch nicht.
Die Inſtitutionen des Verwaltungsrechts werden daher nothwendig die
erſten Elemente der Lehre vom Staat mit in ſich aufnehmen müſſen,
um die erſte Bedingung richtigen Verſtändniſſes, den organiſchen Zu-
ſammenhang mit dem Ganzen des Staatslebens auf jedem Punkte in
lebendigem Bewußtſein auf ſich zu nehmen. So wird ſie die Wahrheit
auch des Satzes beweiſen, daß zuletzt ſtets der Beweis für die Richtig-
keit des Einzelnen nicht in ihm, ſondern in ſeinem Zuſammenhange
mit dem Ganzen beſteht.

Das große Verbindungsglied zwiſchen der Idee des Staats und
der Verwaltung überhaupt, im beſondern der innern Verwaltung, iſt
nun der Begriff und der Inhalt der vollziehenden Gewalt. Sie
iſt der große ſelbſtändige Organismus, durch welchen die Grundſätze
der Verfaſſung in die Verwaltung übergehen
. Denn in jedem
Punkte der Verwaltung erzeugt die Verfaſſung das Geſetz derſelben, die
vollziehende Gewalt aber ihre Ausführung. So tritt uns in Verfaſſung,
Vollziehung und Verwaltung der lebendige Staat entgegen. Und dieß
darzulegen, iſt die Aufgabe dieſer Inſtitutionen des Verwaltungsrechts.

Wir dürfen eine Bemerkung vorauf ſenden. Nachdem in der zweiten
Auflage der vollziehenden Gewalt (3. Bd.) der Stoff mit ziemlicher Reichhaltig-
keit gegeben iſt und die erſten Gebiete der inneren Verwaltung (Bd. 2 bis 7)
ausführlich behandelt ſind, ſo haben wir die vollziehende Gewalt nur in ganz
kurzer Ueberſicht hier mit aufgenommen, und die erſten Gebiete der Verwaltung
gleichfalls in möglichſter Gedrängtheit dargeſtellt. Das Mißverhältniß zwiſchen
den ſpätern noch nicht ausführlich behandelten und jenen erſten Theilen dürfte
dadurch erklärt und motivirt erſcheinen.


Der organiſche Staatsbegriff.
I. Der Staat und ſeine organiſchen Grundbegriffe.

Die Gemeinſchaft der Einzelnen iſt ein durch das Weſen der ein-
zelnen Perſönlichkeit ſelbſt gegebenes Moment derſelben. Als ſolches,
nicht durch den Willen und die Willkür, ſondern durch den Begriff
der Einzelnen ſelbſt geſetztes Leben wird ſie ſelbſt zur Perſönlichkeit.
Und dieſe zur ſelbſtändigen, ſelbſtbewußten und ſelbſtthätigen Perſön-
lichkeit erhobene Gemeinſchaft iſt der Staat.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0028" n="4"/>
Wirth&#x017F;chaft und Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft zu &#x017F;einen hundertfach ver&#x017F;chiedenen indivi-<lb/>
duellen Ge&#x017F;taltungen hi&#x017F;tori&#x017F;ch ausgebildet hat. Die künftige Verwal-<lb/>
tungslehre wird die&#x017F;e Grundlage voraus&#x017F;etzen können, wenn man &#x017F;ich<lb/>
darüber einig geworden &#x017F;ein wird; wir können es bis jetzt noch nicht.<lb/>
Die In&#x017F;titutionen des Verwaltungsrechts werden daher nothwendig die<lb/>
er&#x017F;ten Elemente der Lehre vom Staat mit in &#x017F;ich aufnehmen mü&#x017F;&#x017F;en,<lb/>
um die er&#x017F;te Bedingung richtigen Ver&#x017F;tändni&#x017F;&#x017F;es, den organi&#x017F;chen Zu-<lb/>
&#x017F;ammenhang mit dem Ganzen des Staatslebens auf jedem Punkte in<lb/>
lebendigem Bewußt&#x017F;ein auf &#x017F;ich zu nehmen. So wird &#x017F;ie die Wahrheit<lb/>
auch des Satzes bewei&#x017F;en, daß zuletzt &#x017F;tets der Beweis für die Richtig-<lb/>
keit des Einzelnen nicht in ihm, &#x017F;ondern in &#x017F;einem Zu&#x017F;ammenhange<lb/>
mit dem Ganzen be&#x017F;teht.</p><lb/>
            <p>Das große Verbindungsglied zwi&#x017F;chen der Idee des Staats und<lb/>
der Verwaltung überhaupt, im be&#x017F;ondern der innern Verwaltung, i&#x017F;t<lb/>
nun der Begriff und der Inhalt der <hi rendition="#g">vollziehenden Gewalt</hi>. Sie<lb/>
i&#x017F;t der große &#x017F;elb&#x017F;tändige Organismus, durch welchen die <hi rendition="#g">Grund&#x017F;ätze<lb/>
der Verfa&#x017F;&#x017F;ung in die Verwaltung übergehen</hi>. Denn in jedem<lb/>
Punkte der Verwaltung erzeugt die Verfa&#x017F;&#x017F;ung das Ge&#x017F;etz der&#x017F;elben, die<lb/>
vollziehende Gewalt aber ihre Ausführung. So tritt uns in Verfa&#x017F;&#x017F;ung,<lb/>
Vollziehung und Verwaltung der lebendige Staat entgegen. Und dieß<lb/>
darzulegen, i&#x017F;t die Aufgabe die&#x017F;er In&#x017F;titutionen des Verwaltungsrechts.</p><lb/>
            <p>Wir dürfen eine Bemerkung vorauf &#x017F;enden. Nachdem in der zweiten<lb/>
Auflage der vollziehenden Gewalt (3. Bd.) der Stoff mit ziemlicher Reichhaltig-<lb/>
keit gegeben i&#x017F;t und die er&#x017F;ten Gebiete der inneren Verwaltung (Bd. 2 bis 7)<lb/>
ausführlich behandelt &#x017F;ind, &#x017F;o haben wir die vollziehende Gewalt nur in ganz<lb/>
kurzer Ueber&#x017F;icht hier mit aufgenommen, und die er&#x017F;ten Gebiete der Verwaltung<lb/>
gleichfalls in möglich&#x017F;ter Gedrängtheit darge&#x017F;tellt. Das Mißverhältniß zwi&#x017F;chen<lb/>
den &#x017F;pätern noch nicht ausführlich behandelten und jenen er&#x017F;ten Theilen dürfte<lb/>
dadurch erklärt und motivirt er&#x017F;cheinen.</p>
          </div><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          <div n="3">
            <head> <hi rendition="#b">Der organi&#x017F;che Staatsbegriff.</hi> </head><lb/>
            <div n="4">
              <head> <hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">I.</hi> Der Staat und &#x017F;eine organi&#x017F;chen Grundbegriffe.</hi> </head><lb/>
              <p>Die Gemein&#x017F;chaft der Einzelnen i&#x017F;t ein durch das We&#x017F;en der ein-<lb/>
zelnen Per&#x017F;önlichkeit &#x017F;elb&#x017F;t gegebenes Moment der&#x017F;elben. Als &#x017F;olches,<lb/>
nicht durch den Willen und die Willkür, &#x017F;ondern durch den Begriff<lb/>
der Einzelnen &#x017F;elb&#x017F;t ge&#x017F;etztes Leben wird &#x017F;ie &#x017F;elb&#x017F;t zur Per&#x017F;önlichkeit.<lb/>
Und die&#x017F;e zur &#x017F;elb&#x017F;tändigen, &#x017F;elb&#x017F;tbewußten und &#x017F;elb&#x017F;tthätigen Per&#x017F;ön-<lb/>
lichkeit erhobene Gemein&#x017F;chaft i&#x017F;t der Staat.</p><lb/>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[4/0028] Wirthſchaft und Geſellſchaft zu ſeinen hundertfach verſchiedenen indivi- duellen Geſtaltungen hiſtoriſch ausgebildet hat. Die künftige Verwal- tungslehre wird dieſe Grundlage vorausſetzen können, wenn man ſich darüber einig geworden ſein wird; wir können es bis jetzt noch nicht. Die Inſtitutionen des Verwaltungsrechts werden daher nothwendig die erſten Elemente der Lehre vom Staat mit in ſich aufnehmen müſſen, um die erſte Bedingung richtigen Verſtändniſſes, den organiſchen Zu- ſammenhang mit dem Ganzen des Staatslebens auf jedem Punkte in lebendigem Bewußtſein auf ſich zu nehmen. So wird ſie die Wahrheit auch des Satzes beweiſen, daß zuletzt ſtets der Beweis für die Richtig- keit des Einzelnen nicht in ihm, ſondern in ſeinem Zuſammenhange mit dem Ganzen beſteht. Das große Verbindungsglied zwiſchen der Idee des Staats und der Verwaltung überhaupt, im beſondern der innern Verwaltung, iſt nun der Begriff und der Inhalt der vollziehenden Gewalt. Sie iſt der große ſelbſtändige Organismus, durch welchen die Grundſätze der Verfaſſung in die Verwaltung übergehen. Denn in jedem Punkte der Verwaltung erzeugt die Verfaſſung das Geſetz derſelben, die vollziehende Gewalt aber ihre Ausführung. So tritt uns in Verfaſſung, Vollziehung und Verwaltung der lebendige Staat entgegen. Und dieß darzulegen, iſt die Aufgabe dieſer Inſtitutionen des Verwaltungsrechts. Wir dürfen eine Bemerkung vorauf ſenden. Nachdem in der zweiten Auflage der vollziehenden Gewalt (3. Bd.) der Stoff mit ziemlicher Reichhaltig- keit gegeben iſt und die erſten Gebiete der inneren Verwaltung (Bd. 2 bis 7) ausführlich behandelt ſind, ſo haben wir die vollziehende Gewalt nur in ganz kurzer Ueberſicht hier mit aufgenommen, und die erſten Gebiete der Verwaltung gleichfalls in möglichſter Gedrängtheit dargeſtellt. Das Mißverhältniß zwiſchen den ſpätern noch nicht ausführlich behandelten und jenen erſten Theilen dürfte dadurch erklärt und motivirt erſcheinen. Der organiſche Staatsbegriff. I. Der Staat und ſeine organiſchen Grundbegriffe. Die Gemeinſchaft der Einzelnen iſt ein durch das Weſen der ein- zelnen Perſönlichkeit ſelbſt gegebenes Moment derſelben. Als ſolches, nicht durch den Willen und die Willkür, ſondern durch den Begriff der Einzelnen ſelbſt geſetztes Leben wird ſie ſelbſt zur Perſönlichkeit. Und dieſe zur ſelbſtändigen, ſelbſtbewußten und ſelbſtthätigen Perſön- lichkeit erhobene Gemeinſchaft iſt der Staat.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/stein_handbuch_1870
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/stein_handbuch_1870/28
Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts: mit Vergleichung der Literatur und Gesetzgebung von Frankreich, England und Deutschland; als Grundlage für Vorlesungen. Stuttgart, 1870, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_handbuch_1870/28>, abgerufen am 22.12.2024.