A. Die Rechtsbildung des Versicherungswesens und sein Fortschritt.
Die Rechtsbildung des ganzen Versicherungswesens beruht nämlich darauf, daß in jeder Versicherung zwei Elemente zusammenwirken. Das erste dieser Elemente ist der privatrechtliche Versicherungsvertrag, das zweite ist die öffentliche Funktion des Versicherungswesens als Theil der organischen Verwaltung der Volkswirthschaft. In dem ersten steckt das Sonderinteresse der Unternehmer, in dem zweiten die Forderung des öffentlichen Interesses, die auch hier in scharfen Gegensatz kommen können. Der gegebene Rechtszustand des Versicherungswesens besteht deßhalb wesentlich in dem zeitweiligen Verhältniß beider zu einander; die Entwicklung in dem allmähligen Siege des letzteren über das erstere. Der Gang derselben aber bis zum gegenwärtigen Zustand ist in seinen Hauptpunkten folgender.
Die Versicherung beginnt allerdings als reiner Vertrag in den Seeversicherungen; allein fast gleichzeitig wird dieß Vertragsrecht, na- mentlich im Anschluß an das Seerecht, als eine öffentliche Angelegen- heit anerkannt, und dadurch Gegenstand der Gesetzgebung in den alten Assecuranzordnungen. Das ist die erste Epoche der Rechtsbildung. Sie bleibt jedoch dabei stehen, daß sich die Gesetzgebung nur auf die Be- stimmung des rechtlichen Inhalts dieses Versicherungsvertrages be- schränkt, und sich um die Verwaltung der Versicherungsanstalten noch gar nicht kümmert. Die zweite Epoche entsteht da, wo der Staat die polizeilichen Brandschadenanstalten einführt; in diesen ver- schwindet wieder das Vertragsrecht und an seine Stelle tritt das Ver- ordnungsrecht, und der Staat verwaltet das Versicherungswesen durch seine Beamtete, entweder ausschließlich, oder unter Zuziehung der Betheiligten (Deutschland, achtzehntes Jahrhundert). Da jedoch die Seeversicherung davon ausgeschlossen bleibt, so geschieht es, daß für das letztere eine ausführliche Jurisprudenz entsteht, während sie für das Feuerversicherungswesen bis auf den heutigen Tag mangelt. Trotz dem erzeugt diese polizeiliche Epoche theils durch den Einfluß der Lite- ratur, theils durch specielle Gesetze das Verständniß für die wichtige öffentliche Funktion alles Versicherungswesens. Die Regierungen er- kennen die Nothwendigkeit, dasselbe im öffentlichen Interesse ihrer Oberaufsicht zu unterwerfen. Das ist der Grund, weßhalb sich der unfreie Zustand der gesetzlichen Zwangsversicherungsanstalten noch theil- weise erhält. Da aber, wo die Vereine an ihre Stelle treten, und das Versicherungswesen in die Hand nehmen, mangelt der Verwaltung Erfahrung und Theorie, um dasselbe einer ausreichenden Controle zu unterziehen, und sie muß sich deßhalb genügen lassen, jene Oberauf-
A. Die Rechtsbildung des Verſicherungsweſens und ſein Fortſchritt.
Die Rechtsbildung des ganzen Verſicherungsweſens beruht nämlich darauf, daß in jeder Verſicherung zwei Elemente zuſammenwirken. Das erſte dieſer Elemente iſt der privatrechtliche Verſicherungsvertrag, das zweite iſt die öffentliche Funktion des Verſicherungsweſens als Theil der organiſchen Verwaltung der Volkswirthſchaft. In dem erſten ſteckt das Sonderintereſſe der Unternehmer, in dem zweiten die Forderung des öffentlichen Intereſſes, die auch hier in ſcharfen Gegenſatz kommen können. Der gegebene Rechtszuſtand des Verſicherungsweſens beſteht deßhalb weſentlich in dem zeitweiligen Verhältniß beider zu einander; die Entwicklung in dem allmähligen Siege des letzteren über das erſtere. Der Gang derſelben aber bis zum gegenwärtigen Zuſtand iſt in ſeinen Hauptpunkten folgender.
Die Verſicherung beginnt allerdings als reiner Vertrag in den Seeverſicherungen; allein faſt gleichzeitig wird dieß Vertragsrecht, na- mentlich im Anſchluß an das Seerecht, als eine öffentliche Angelegen- heit anerkannt, und dadurch Gegenſtand der Geſetzgebung in den alten Aſſecuranzordnungen. Das iſt die erſte Epoche der Rechtsbildung. Sie bleibt jedoch dabei ſtehen, daß ſich die Geſetzgebung nur auf die Be- ſtimmung des rechtlichen Inhalts dieſes Verſicherungsvertrages be- ſchränkt, und ſich um die Verwaltung der Verſicherungsanſtalten noch gar nicht kümmert. Die zweite Epoche entſteht da, wo der Staat die polizeilichen Brandſchadenanſtalten einführt; in dieſen ver- ſchwindet wieder das Vertragsrecht und an ſeine Stelle tritt das Ver- ordnungsrecht, und der Staat verwaltet das Verſicherungsweſen durch ſeine Beamtete, entweder ausſchließlich, oder unter Zuziehung der Betheiligten (Deutſchland, achtzehntes Jahrhundert). Da jedoch die Seeverſicherung davon ausgeſchloſſen bleibt, ſo geſchieht es, daß für das letztere eine ausführliche Jurisprudenz entſteht, während ſie für das Feuerverſicherungsweſen bis auf den heutigen Tag mangelt. Trotz dem erzeugt dieſe polizeiliche Epoche theils durch den Einfluß der Lite- ratur, theils durch ſpecielle Geſetze das Verſtändniß für die wichtige öffentliche Funktion alles Verſicherungsweſens. Die Regierungen er- kennen die Nothwendigkeit, daſſelbe im öffentlichen Intereſſe ihrer Oberaufſicht zu unterwerfen. Das iſt der Grund, weßhalb ſich der unfreie Zuſtand der geſetzlichen Zwangsverſicherungsanſtalten noch theil- weiſe erhält. Da aber, wo die Vereine an ihre Stelle treten, und das Verſicherungsweſen in die Hand nehmen, mangelt der Verwaltung Erfahrung und Theorie, um daſſelbe einer ausreichenden Controle zu unterziehen, und ſie muß ſich deßhalb genügen laſſen, jene Oberauf-
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A. Die Rechtsbildung des Verſicherungsweſens und ſein Fortſchritt.
Die Rechtsbildung des ganzen Verſicherungsweſens beruht nämlich
darauf, daß in jeder Verſicherung zwei Elemente zuſammenwirken. Das
erſte dieſer Elemente iſt der privatrechtliche Verſicherungsvertrag, das
zweite iſt die öffentliche Funktion des Verſicherungsweſens als Theil
der organiſchen Verwaltung der Volkswirthſchaft. In dem erſten ſteckt
das Sonderintereſſe der Unternehmer, in dem zweiten die Forderung
des öffentlichen Intereſſes, die auch hier in ſcharfen Gegenſatz kommen
können. Der gegebene Rechtszuſtand des Verſicherungsweſens beſteht
deßhalb weſentlich in dem zeitweiligen Verhältniß beider zu einander;
die Entwicklung in dem allmähligen Siege des letzteren über das erſtere.
Der Gang derſelben aber bis zum gegenwärtigen Zuſtand iſt in ſeinen
Hauptpunkten folgender.
Die Verſicherung beginnt allerdings als reiner Vertrag in den
Seeverſicherungen; allein faſt gleichzeitig wird dieß Vertragsrecht, na-
mentlich im Anſchluß an das Seerecht, als eine öffentliche Angelegen-
heit anerkannt, und dadurch Gegenſtand der Geſetzgebung in den alten
Aſſecuranzordnungen. Das iſt die erſte Epoche der Rechtsbildung. Sie
bleibt jedoch dabei ſtehen, daß ſich die Geſetzgebung nur auf die Be-
ſtimmung des rechtlichen Inhalts dieſes Verſicherungsvertrages be-
ſchränkt, und ſich um die Verwaltung der Verſicherungsanſtalten
noch gar nicht kümmert. Die zweite Epoche entſteht da, wo der Staat
die polizeilichen Brandſchadenanſtalten einführt; in dieſen ver-
ſchwindet wieder das Vertragsrecht und an ſeine Stelle tritt das Ver-
ordnungsrecht, und der Staat verwaltet das Verſicherungsweſen durch
ſeine Beamtete, entweder ausſchließlich, oder unter Zuziehung der
Betheiligten (Deutſchland, achtzehntes Jahrhundert). Da jedoch die
Seeverſicherung davon ausgeſchloſſen bleibt, ſo geſchieht es, daß für
das letztere eine ausführliche Jurisprudenz entſteht, während ſie für
das Feuerverſicherungsweſen bis auf den heutigen Tag mangelt. Trotz
dem erzeugt dieſe polizeiliche Epoche theils durch den Einfluß der Lite-
ratur, theils durch ſpecielle Geſetze das Verſtändniß für die wichtige
öffentliche Funktion alles Verſicherungsweſens. Die Regierungen er-
kennen die Nothwendigkeit, daſſelbe im öffentlichen Intereſſe ihrer
Oberaufſicht zu unterwerfen. Das iſt der Grund, weßhalb ſich der
unfreie Zuſtand der geſetzlichen Zwangsverſicherungsanſtalten noch theil-
weiſe erhält. Da aber, wo die Vereine an ihre Stelle treten, und
das Verſicherungsweſen in die Hand nehmen, mangelt der Verwaltung
Erfahrung und Theorie, um daſſelbe einer ausreichenden Controle zu
unterziehen, und ſie muß ſich deßhalb genügen laſſen, jene Oberauf-
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Stein, Lorenz von: Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts: mit Vergleichung der Literatur und Gesetzgebung von Frankreich, England und Deutschland; als Grundlage für Vorlesungen. Stuttgart, 1870, S. 169. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_handbuch_1870/193>, abgerufen am 19.11.2024.
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