Selten, sagt man im gemeinen Sprüchwor- te, sind die Ehen der Grossen und Vorneh- men glücklich, weil sie selten aus ächter Liebe und Neigung, meistens nur aus Eigennutz und Nebenabsichten die Gehülfin wählen, wel- che mit ihnen Hand in Hand durchs Leben wan- dern, Kummer und Freude, Glück und Un- glück mit ihnen theilen soll. Graf L-- war unter den Wenigen, welche blos aus Nei- gung und Liebe wählten, der glücklichste! Als sein sterbender, sehr reicher Vater von dem jammernden Sohne die Erfüllung des einzigen Wunsches, ihn vor seinem Ende verheurathet zu sehen, mit Wehmuth heischte, da führte der Gehorsame ein sehr armes, aber schönes und tugendhaftes Mädchen vor sein Sterbe-
Graf von L—.
Selten, ſagt man im gemeinen Spruͤchwor- te, ſind die Ehen der Groſſen und Vorneh- men gluͤcklich, weil ſie ſelten aus aͤchter Liebe und Neigung, meiſtens nur aus Eigennutz und Nebenabſichten die Gehuͤlfin waͤhlen, wel- che mit ihnen Hand in Hand durchs Leben wan- dern, Kummer und Freude, Gluͤck und Un- gluͤck mit ihnen theilen ſoll. Graf L— war unter den Wenigen, welche blos aus Nei- gung und Liebe waͤhlten, der gluͤcklichſte! Als ſein ſterbender, ſehr reicher Vater von dem jammernden Sohne die Erfuͤllung des einzigen Wunſches, ihn vor ſeinem Ende verheurathet zu ſehen, mit Wehmuth heiſchte, da fuͤhrte der Gehorſame ein ſehr armes, aber ſchoͤnes und tugendhaftes Maͤdchen vor ſein Sterbe-
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Graf von L—.
Selten, ſagt man im gemeinen Spruͤchwor-
te, ſind die Ehen der Groſſen und Vorneh-
men gluͤcklich, weil ſie ſelten aus aͤchter Liebe
und Neigung, meiſtens nur aus Eigennutz
und Nebenabſichten die Gehuͤlfin waͤhlen, wel-
che mit ihnen Hand in Hand durchs Leben wan-
dern, Kummer und Freude, Gluͤck und Un-
gluͤck mit ihnen theilen ſoll. Graf L— war
unter den Wenigen, welche blos aus Nei-
gung und Liebe waͤhlten, der gluͤcklichſte! Als
ſein ſterbender, ſehr reicher Vater von dem
jammernden Sohne die Erfuͤllung des einzigen
Wunſches, ihn vor ſeinem Ende verheurathet
zu ſehen, mit Wehmuth heiſchte, da fuͤhrte
der Gehorſame ein ſehr armes, aber ſchoͤnes
und tugendhaftes Maͤdchen vor ſein Sterbe-
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Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 4. Leipzig, 1796, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien04_1796/71>, abgerufen am 21.11.2024.
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