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Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 4. 3. Aufl. Halle (Saale), 1715.

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ARTIC. I. SECT. XIX.
Der andere punct.

Dieser bestehet darinnen, ob der autor lehre, daß die heiligung in
diesem leben bereits gantz vollkommen seye?
Jch achte aber, wer nur
das besagte mit unpartheyischem hertzen erweget, werde erkennen, daß wo
man dieses dem autori beymessen wolte, ihm damit zu viel geschehen würde.
Wir haben gehöret, er bekenne, es stecke der mensch vom haupt zu fuß voll
sündlicher gebrechen, GOTT finde tadel an dem menschen, und seye allein
seine väterliche gedult, daß er mit seiner glaubigen treuen hertzen und wandel
zu frieden seyn, und nach seinem gedultigen wohlgefallen das treugemeinte
vor fein und rein schätzen, also den menschen nicht tadeln wolle; Welches
alles der meinung einer vollkommenen hie geschehenden heiligung und erneu-
rung entgegen stehet: Jn dem wer in solcher heiligkeit stünde, nunmehr das
examen rigorosum nach dem gesetz ausstehen könte, welches er ausschliesset.
Weiln aber einige stellen, welche dieses mit sich zu bringen scheinen, in der
predigt vorkommen, so lasset uns dieselbe besehen. Die erste stehet p. 15.
lautet also: Bin ich nun fromm von hertzen, schlecht und recht von
geberden, rein und ohne wandel vom leben, so bin ich vollkommen,
wie mein GOTT im himmel Vater, Sohn und heiliger Geist voll-
kommen ist. Meinestu, ich spanne hie den bogen zu hoch, und wol-
te aus sündlichen menschen gar heilige Engel haben; So höre
CHristi eigenes wort Matth. 5, 48. Darum solt ihr vollkommen
seyn gleich wie euer Vater im himmel vollkommen ist. Gehe nun
hin und schütze noch viel deinen schwachen menschen für.
Wiederum
p. 20. lautets also: Sihestu das bleiben im guten wird mich abermal
dahin bringen, daß ich kan vollkommen seyn, wie mein vater im
himmel vollkommen ist. Und daß ich werde können gesinnet seyn,
wie mein HERR JESUS gesinnet ist.
Letzlich p. 42. Von den
gläubigen heisset es nicht weniger, daß sie JEsum mit seiner gerech-
tigkeit anziehen, ja so nahe, dicht und genau anziehen, daß sie darin-
nen als eitel vergötterte menschen und neue CHristi vor GOTT
einher wandeln.
Wo nun diese stellen wol eingesehen werden, wird sich
gleichwol nichts darinnen finden, das einen grund solcher beschuldigung
legte. 1. Das vornehmste möchte seyn, daß der autor sagt, wir könten voll-
kommen seyn, wie GOTT unser himmlischer vater vollkommen ist. Aber
es sind solche wort unsers Heylands selbs an dem angeführten ort. Dann
obwol die wort daselbs lauten von dem sollen seyn (Daher unserer Theo-
logen
einige, wo dieselbe uns von den Papisten zum erweiß der vollkommen-

heit
ARTIC. I. SECT. XIX.
Der andere punct.

Dieſer beſtehet darinnen, ob der autor lehre, daß die heiligung in
dieſem leben bereits gantz vollkommen ſeye?
Jch achte aber, wer nur
das beſagte mit unpartheyiſchem hertzen erweget, werde erkennen, daß wo
man dieſes dem autori beymeſſen wolte, ihm damit zu viel geſchehen wuͤrde.
Wir haben gehoͤret, er bekenne, es ſtecke der menſch vom haupt zu fuß voll
ſuͤndlicher gebrechen, GOTT finde tadel an dem menſchen, und ſeye allein
ſeine vaͤterliche gedult, daß er mit ſeiner glaubigen treuen hertzen und wandel
zu frieden ſeyn, und nach ſeinem gedultigen wohlgefallen das treugemeinte
vor fein und rein ſchaͤtzen, alſo den menſchen nicht tadeln wolle; Welches
alles der meinung einer vollkommenen hie geſchehenden heiligung und erneu-
rung entgegen ſtehet: Jn dem wer in ſolcher heiligkeit ſtuͤnde, nunmehr das
examen rigoroſum nach dem geſetz ausſtehen koͤnte, welches er ausſchlieſſet.
Weiln aber einige ſtellen, welche dieſes mit ſich zu bringen ſcheinen, in der
predigt vorkommen, ſo laſſet uns dieſelbe beſehen. Die erſte ſtehet p. 15.
lautet alſo: Bin ich nun fromm von hertzen, ſchlecht und recht von
geberden, rein und ohne wandel vom leben, ſo bin ich vollkommen,
wie mein GOTT im himmel Vater, Sohn und heiliger Geiſt voll-
kommen iſt. Meineſtu, ich ſpanne hie den bogen zu hoch, und wol-
te aus ſuͤndlichen menſchen gar heilige Engel haben; So hoͤre
CHriſti eigenes wort Matth. 5, 48. Darum ſolt ihr vollkommen
ſeyn gleich wie euer Vater im himmel vollkommen iſt. Gehe nun
hin und ſchuͤtze noch viel deinen ſchwachen menſchen fuͤr.
Wiederum
p. 20. lautets alſo: Siheſtu das bleiben im guten wird mich abermal
dahin bringen, daß ich kan vollkommen ſeyn, wie mein vater im
himmel vollkommen iſt. Und daß ich werde koͤnnen geſinnet ſeyn,
wie mein HERR JESUS geſinnet iſt.
Letzlich p. 42. Von den
glaͤubigen heiſſet es nicht weniger, daß ſie JEſum mit ſeiner gerech-
tigkeit anziehen, ja ſo nahe, dicht und genau anziehen, daß ſie darin-
nen als eitel vergoͤtterte menſchen und neue CHriſti vor GOTT
einher wandeln.
Wo nun dieſe ſtellen wol eingeſehen werden, wird ſich
gleichwol nichts darinnen finden, das einen grund ſolcher beſchuldigung
legte. 1. Das vornehmſte moͤchte ſeyn, daß der autor ſagt, wir koͤnten voll-
kommen ſeyn, wie GOTT unſer himmliſcher vater vollkommen iſt. Aber
es ſind ſolche wort unſers Heylands ſelbs an dem angefuͤhrten ort. Dann
obwol die wort daſelbs lauten von dem ſollen ſeyn (Daher unſerer Theo-
logen
einige, wo dieſelbe uns von den Papiſten zum erweiß der vollkommen-

heit
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[103/0115] ARTIC. I. SECT. XIX. Der andere punct. Dieſer beſtehet darinnen, ob der autor lehre, daß die heiligung in dieſem leben bereits gantz vollkommen ſeye? Jch achte aber, wer nur das beſagte mit unpartheyiſchem hertzen erweget, werde erkennen, daß wo man dieſes dem autori beymeſſen wolte, ihm damit zu viel geſchehen wuͤrde. Wir haben gehoͤret, er bekenne, es ſtecke der menſch vom haupt zu fuß voll ſuͤndlicher gebrechen, GOTT finde tadel an dem menſchen, und ſeye allein ſeine vaͤterliche gedult, daß er mit ſeiner glaubigen treuen hertzen und wandel zu frieden ſeyn, und nach ſeinem gedultigen wohlgefallen das treugemeinte vor fein und rein ſchaͤtzen, alſo den menſchen nicht tadeln wolle; Welches alles der meinung einer vollkommenen hie geſchehenden heiligung und erneu- rung entgegen ſtehet: Jn dem wer in ſolcher heiligkeit ſtuͤnde, nunmehr das examen rigoroſum nach dem geſetz ausſtehen koͤnte, welches er ausſchlieſſet. Weiln aber einige ſtellen, welche dieſes mit ſich zu bringen ſcheinen, in der predigt vorkommen, ſo laſſet uns dieſelbe beſehen. Die erſte ſtehet p. 15. lautet alſo: Bin ich nun fromm von hertzen, ſchlecht und recht von geberden, rein und ohne wandel vom leben, ſo bin ich vollkommen, wie mein GOTT im himmel Vater, Sohn und heiliger Geiſt voll- kommen iſt. Meineſtu, ich ſpanne hie den bogen zu hoch, und wol- te aus ſuͤndlichen menſchen gar heilige Engel haben; So hoͤre CHriſti eigenes wort Matth. 5, 48. Darum ſolt ihr vollkommen ſeyn gleich wie euer Vater im himmel vollkommen iſt. Gehe nun hin und ſchuͤtze noch viel deinen ſchwachen menſchen fuͤr. Wiederum p. 20. lautets alſo: Siheſtu das bleiben im guten wird mich abermal dahin bringen, daß ich kan vollkommen ſeyn, wie mein vater im himmel vollkommen iſt. Und daß ich werde koͤnnen geſinnet ſeyn, wie mein HERR JESUS geſinnet iſt. Letzlich p. 42. Von den glaͤubigen heiſſet es nicht weniger, daß ſie JEſum mit ſeiner gerech- tigkeit anziehen, ja ſo nahe, dicht und genau anziehen, daß ſie darin- nen als eitel vergoͤtterte menſchen und neue CHriſti vor GOTT einher wandeln. Wo nun dieſe ſtellen wol eingeſehen werden, wird ſich gleichwol nichts darinnen finden, das einen grund ſolcher beſchuldigung legte. 1. Das vornehmſte moͤchte ſeyn, daß der autor ſagt, wir koͤnten voll- kommen ſeyn, wie GOTT unſer himmliſcher vater vollkommen iſt. Aber es ſind ſolche wort unſers Heylands ſelbs an dem angefuͤhrten ort. Dann obwol die wort daſelbs lauten von dem ſollen ſeyn (Daher unſerer Theo- logen einige, wo dieſelbe uns von den Papiſten zum erweiß der vollkommen- heit

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Zitationshilfe: Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 4. 3. Aufl. Halle (Saale), 1715, S. 103. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spener_bedencken04_1702/115>, abgerufen am 21.11.2024.