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Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 1. Halle (Saale), 1700.

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Das andere Capitel.
und dessen keinen scheu trage. Wie dann auch in hiesigen landen/ da der beicht-
pfennig an den meisten orten (dann etliche haben ihn gleichwohl nicht) in übung/
unser ordnungen denselben von den beichtenden zu exigiren verbieten/ von denen
aber/ welche denselben willich reichen/ anzunehmen erlauben/ jedoch nicht aus-
drücklich befehlen: daher es in der freyen willkühr stehet/ solche verehrung anzu-
nehmen/ oder zu unterlassen. Jch sehe auch nicht/ wie das sorgend praejudici-
um
andrer Collegarum die nothwendigkeit des annehmens mit sich brächte. Dann
wenn Paulus ohne sünde und verletzung der liebe gegen seine Mit-Apostel und an-
dre lehrer des Evangelii sich auch seines rechtes von der predigt zu leben/ das von dem
HErrn selbs gegeben ist/ begeben dörffen/ so darff vielmehr ein Prediger sich des
accidentis freywillig begeben/ welches ohne das nicht anders als aus noth/ und
mit allen rechtschaffenen hertzen verlangen und wunsch/ daß man auff andere art/
des predigt-amts unterhalt verschaffen könte/ nur toleriret wird: Und wird also
keiner wohl zu dessen annehmung gezwungen werden können. Damit aber wür-
de ein solcher zu weit gehen/ wenn er andere seine collegas gleichfals dazu nöthi-
gen wolte: in dem wie ihn billig die freyheit/ nach seinem gewissen zu thun oder zu
lassen/ wie ers in seinem amt am erbaulichsten findet/ bleibet er auch andern ihre
freyheit nicht zu urtheilen oder zu benehmen hat: so wenig als Paulus andere zu
derfolge seines exempels verbunden hat oder verbinden könte. Vielmehr solte solcher
unterscheid die collegialische freundschafft und vernehmen nicht stören. Wel-
ches ich mich hiedurch ihres orts nicht geschehen zu werden hoffe und hertzlich wün-
sche. 1688.

SECTIO XXXVIII.
Die welt heist tugenden laster. Wie sich wegen
der beichtpfennige zuhalten.

DErselbe wolle sich nicht befremden lassen/ wann bey einigen sein thun lau-
ter heucheley/ und die einfalt in predigen stümpeley heissen muß: Dann
es ist schon lange/ daß wir leider das rechte wörterbuch/ so gar auch in dem
gemeinen bürgerlichen leben/ geschweige in den Christenthum davon die vernunfft
nichts fasset/ verlohren haben/ und also so viele laster den nahmen der tugenden
tragen/ diese aber mit dem nahmen der laster sich beladen lassen müssen. Aber wohl
uns/ wo wir gelernet haben von einem menschlichen tage gerichtet zu werden/ vor
ein geringes zu halten/ und uns von der menschen urtheil nicht verunruhigen zu
lassen/ daß ist/ weder wo dasselbe angenehm fällt/ uns darinnen zugefallen/ noch wo
es widrig ist/ uns drüber zu ängsten. Gnug ist/ wo uns unser gewissen/ und in
demselben das zeugnüs des Geistes GOttes/ loßspricht/ so uns wichtiger seyn muß
als alles schelten und loben der welt. Der Herr hat mich selbs von mehrern jah-

ren

Das andere Capitel.
und deſſen keinen ſcheu trage. Wie dann auch in hieſigen landen/ da der beicht-
pfennig an den meiſten orten (dann etliche haben ihn gleichwohl nicht) in uͤbung/
unſer ordnungen denſelben von den beichtenden zu exigiren verbieten/ von denen
aber/ welche denſelben willich reichen/ anzunehmen erlauben/ jedoch nicht aus-
druͤcklich befehlen: daher es in der freyen willkuͤhr ſtehet/ ſolche verehrung anzu-
nehmen/ oder zu unterlaſſen. Jch ſehe auch nicht/ wie das ſorgend præjudici-
um
andrer Collegarum die nothwendigkeit des annehmens mit ſich braͤchte. Dann
wenn Paulus ohne ſuͤnde und verletzung der liebe gegen ſeine Mit-Apoſtel und an-
dre lehrer des Evangelii ſich auch ſeines rechtes von der predigt zu leben/ das von dem
HErrn ſelbs gegeben iſt/ begeben doͤrffen/ ſo darff vielmehr ein Prediger ſich des
accidentis freywillig begeben/ welches ohne das nicht anders als aus noth/ und
mit allen rechtſchaffenen hertzen verlangen und wunſch/ daß man auff andere art/
des predigt-amts unterhalt verſchaffen koͤnte/ nur toleriret wird: Und wird alſo
keiner wohl zu deſſen annehmung gezwungen werden koͤnnen. Damit aber wuͤr-
de ein ſolcher zu weit gehen/ wenn er andere ſeine collegas gleichfals dazu noͤthi-
gen wolte: in dem wie ihn billig die freyheit/ nach ſeinem gewiſſen zu thun oder zu
laſſen/ wie ers in ſeinem amt am erbaulichſten findet/ bleibet er auch andern ihre
freyheit nicht zu urtheilen oder zu benehmen hat: ſo wenig als Paulus andere zu
deꝛfolge ſeines exempels veꝛbunden hat odeꝛ verbinden koͤnte. Vielmehr ſolte ſolcher
unterſcheid die collegialiſche freundſchafft und vernehmen nicht ſtoͤren. Wel-
ches ich mich hiedurch ihres orts nicht geſchehen zu werden hoffe und hertzlich wuͤn-
ſche. 1688.

SECTIO XXXVIII.
Die welt heiſt tugenden laſter. Wie ſich wegen
der beichtpfennige zuhalten.

DErſelbe wolle ſich nicht befremden laſſen/ wann bey einigen ſein thun lau-
ter heucheley/ und die einfalt in predigen ſtuͤmpeley heiſſen muß: Dann
es iſt ſchon lange/ daß wir leider das rechte woͤrterbuch/ ſo gar auch in dem
gemeinen buͤrgerlichen leben/ geſchweige in den Chriſtenthum davon die vernunfft
nichts faſſet/ verlohren haben/ und alſo ſo viele laſter den nahmen der tugenden
tragen/ dieſe aber mit dem nahmen der laſter ſich beladen laſſen muͤſſen. Aber wohl
uns/ wo wir gelernet haben von einem menſchlichen tage gerichtet zu werden/ vor
ein geringes zu halten/ und uns von der menſchen urtheil nicht verunruhigen zu
laſſen/ daß iſt/ weder wo daſſelbe angenehm faͤllt/ uns darinnen zugefallen/ noch wo
es widrig iſt/ uns druͤber zu aͤngſten. Gnug iſt/ wo uns unſer gewiſſen/ und in
demſelben das zeugnuͤs des Geiſtes GOttes/ loßſpricht/ ſo uns wichtiger ſeyn muß
als alles ſchelten und loben der welt. Der Herr hat mich ſelbs von mehrern jah-

ren
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[322/1122] Das andere Capitel. und deſſen keinen ſcheu trage. Wie dann auch in hieſigen landen/ da der beicht- pfennig an den meiſten orten (dann etliche haben ihn gleichwohl nicht) in uͤbung/ unſer ordnungen denſelben von den beichtenden zu exigiren verbieten/ von denen aber/ welche denſelben willich reichen/ anzunehmen erlauben/ jedoch nicht aus- druͤcklich befehlen: daher es in der freyen willkuͤhr ſtehet/ ſolche verehrung anzu- nehmen/ oder zu unterlaſſen. Jch ſehe auch nicht/ wie das ſorgend præjudici- um andrer Collegarum die nothwendigkeit des annehmens mit ſich braͤchte. Dann wenn Paulus ohne ſuͤnde und verletzung der liebe gegen ſeine Mit-Apoſtel und an- dre lehrer des Evangelii ſich auch ſeines rechtes von der predigt zu leben/ das von dem HErrn ſelbs gegeben iſt/ begeben doͤrffen/ ſo darff vielmehr ein Prediger ſich des accidentis freywillig begeben/ welches ohne das nicht anders als aus noth/ und mit allen rechtſchaffenen hertzen verlangen und wunſch/ daß man auff andere art/ des predigt-amts unterhalt verſchaffen koͤnte/ nur toleriret wird: Und wird alſo keiner wohl zu deſſen annehmung gezwungen werden koͤnnen. Damit aber wuͤr- de ein ſolcher zu weit gehen/ wenn er andere ſeine collegas gleichfals dazu noͤthi- gen wolte: in dem wie ihn billig die freyheit/ nach ſeinem gewiſſen zu thun oder zu laſſen/ wie ers in ſeinem amt am erbaulichſten findet/ bleibet er auch andern ihre freyheit nicht zu urtheilen oder zu benehmen hat: ſo wenig als Paulus andere zu deꝛfolge ſeines exempels veꝛbunden hat odeꝛ verbinden koͤnte. Vielmehr ſolte ſolcher unterſcheid die collegialiſche freundſchafft und vernehmen nicht ſtoͤren. Wel- ches ich mich hiedurch ihres orts nicht geſchehen zu werden hoffe und hertzlich wuͤn- ſche. 1688. SECTIO XXXVIII. Die welt heiſt tugenden laſter. Wie ſich wegen der beichtpfennige zuhalten. DErſelbe wolle ſich nicht befremden laſſen/ wann bey einigen ſein thun lau- ter heucheley/ und die einfalt in predigen ſtuͤmpeley heiſſen muß: Dann es iſt ſchon lange/ daß wir leider das rechte woͤrterbuch/ ſo gar auch in dem gemeinen buͤrgerlichen leben/ geſchweige in den Chriſtenthum davon die vernunfft nichts faſſet/ verlohren haben/ und alſo ſo viele laſter den nahmen der tugenden tragen/ dieſe aber mit dem nahmen der laſter ſich beladen laſſen muͤſſen. Aber wohl uns/ wo wir gelernet haben von einem menſchlichen tage gerichtet zu werden/ vor ein geringes zu halten/ und uns von der menſchen urtheil nicht verunruhigen zu laſſen/ daß iſt/ weder wo daſſelbe angenehm faͤllt/ uns darinnen zugefallen/ noch wo es widrig iſt/ uns druͤber zu aͤngſten. Gnug iſt/ wo uns unſer gewiſſen/ und in demſelben das zeugnuͤs des Geiſtes GOttes/ loßſpricht/ ſo uns wichtiger ſeyn muß als alles ſchelten und loben der welt. Der Herr hat mich ſelbs von mehrern jah- ren

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Zitationshilfe: Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 1. Halle (Saale), 1700, S. 322. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spener_bedencken01_1700/1122>, abgerufen am 21.11.2024.