Wenn wir die Verfeinerungen, die vergeistigten Formen des Lebens, die Ergebnisse der inneren und äusseren Arbeit an ihm als Kultur bezeichnen, so ordnen wir diese Werte damit in eine Blick- richtung, in der sie durch ihre eigene und sachliche Bedeutung noch nicht ohne weiteres stehen. Inhalte der Kultur sind sie uns, insofern wir sie als gesteigerte Entfaltungen natürlicher Keime und Tendenzen ansehen, gesteigert über das Mass der Entwicklung, Fülle und Differen- zierung hinaus, das ihrer blossen Natur erreichbar wäre. Eine natur- gegebene Energie oder Hinweisung -- die freilich nur da sein muss, um hinter der wirklichen Entwicklung zurückzubleiben -- bildet die Voraussetzung für den Begriff der Kultur. Denn von diesem aus ge- sehen sind die Werte des Lebens eben kultivierte Natur, sie haben hier nicht die isolierte Bedeutung, die sich gleichsam von oben her an dem Ideal des Glücks, der Intelligenz, der Schönheit misst, sondern sie erscheinen als Entwicklungen einer Grundlage, die wir Natur nennen und deren Kräfte und Ideengehalt sie überschreiten, insofern sie eben Kultur sind. Wenn deshalb ein veredeltes Gartenobst und eine Statue gleichermassen Kulturprodukte sind, so deutet die Sprache doch dieses Verhältnis sehr fein an, indem sie jenen Obstbaum selbst "kultiviert" nennt, während der rohe Marmorblock keineswegs zu Statuen "kultiviert" ist. Denn in dem ersteren Falle nimmt man eine natürliche Triebkraft und Angelegtheit des Baumes in der Richtung jener Früchte an, die durch intelligente Beeinflussung über ihre natür- liche Grenze hinausgetrieben ist, während wir in dem Marmorblock keine entsprechende Tendenz auf die Statue hin voraussetzen; die in ihr verwirklichte Kultur bedeutet die Erhöhung und Verfeinerung ge- wisser menschlicher Energien, deren ursprüngliche Äusserungen wir als "natürliche" bezeichnen.
Nun scheint es zunächst selbstverständlich, dass unpersönliche Dinge nur gleichnisweise als kultiviert zu bezeichnen sind. Denn jene durch Willen und Intellekt bewirkte Entfaltung des Gegebenen
II.
Wenn wir die Verfeinerungen, die vergeistigten Formen des Lebens, die Ergebnisse der inneren und äuſseren Arbeit an ihm als Kultur bezeichnen, so ordnen wir diese Werte damit in eine Blick- richtung, in der sie durch ihre eigene und sachliche Bedeutung noch nicht ohne weiteres stehen. Inhalte der Kultur sind sie uns, insofern wir sie als gesteigerte Entfaltungen natürlicher Keime und Tendenzen ansehen, gesteigert über das Maſs der Entwicklung, Fülle und Differen- zierung hinaus, das ihrer bloſsen Natur erreichbar wäre. Eine natur- gegebene Energie oder Hinweisung — die freilich nur da sein muſs, um hinter der wirklichen Entwicklung zurückzubleiben — bildet die Voraussetzung für den Begriff der Kultur. Denn von diesem aus ge- sehen sind die Werte des Lebens eben kultivierte Natur, sie haben hier nicht die isolierte Bedeutung, die sich gleichsam von oben her an dem Ideal des Glücks, der Intelligenz, der Schönheit miſst, sondern sie erscheinen als Entwicklungen einer Grundlage, die wir Natur nennen und deren Kräfte und Ideengehalt sie überschreiten, insofern sie eben Kultur sind. Wenn deshalb ein veredeltes Gartenobst und eine Statue gleichermaſsen Kulturprodukte sind, so deutet die Sprache doch dieses Verhältnis sehr fein an, indem sie jenen Obstbaum selbst „kultiviert“ nennt, während der rohe Marmorblock keineswegs zu Statuen „kultiviert“ ist. Denn in dem ersteren Falle nimmt man eine natürliche Triebkraft und Angelegtheit des Baumes in der Richtung jener Früchte an, die durch intelligente Beeinflussung über ihre natür- liche Grenze hinausgetrieben ist, während wir in dem Marmorblock keine entsprechende Tendenz auf die Statue hin voraussetzen; die in ihr verwirklichte Kultur bedeutet die Erhöhung und Verfeinerung ge- wisser menschlicher Energien, deren ursprüngliche Äuſserungen wir als „natürliche“ bezeichnen.
Nun scheint es zunächst selbstverständlich, daſs unpersönliche Dinge nur gleichnisweise als kultiviert zu bezeichnen sind. Denn jene durch Willen und Intellekt bewirkte Entfaltung des Gegebenen
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[[475]/0499]
II.
Wenn wir die Verfeinerungen, die vergeistigten Formen des
Lebens, die Ergebnisse der inneren und äuſseren Arbeit an ihm als
Kultur bezeichnen, so ordnen wir diese Werte damit in eine Blick-
richtung, in der sie durch ihre eigene und sachliche Bedeutung noch
nicht ohne weiteres stehen. Inhalte der Kultur sind sie uns, insofern
wir sie als gesteigerte Entfaltungen natürlicher Keime und Tendenzen
ansehen, gesteigert über das Maſs der Entwicklung, Fülle und Differen-
zierung hinaus, das ihrer bloſsen Natur erreichbar wäre. Eine natur-
gegebene Energie oder Hinweisung — die freilich nur da sein muſs,
um hinter der wirklichen Entwicklung zurückzubleiben — bildet die
Voraussetzung für den Begriff der Kultur. Denn von diesem aus ge-
sehen sind die Werte des Lebens eben kultivierte Natur, sie haben
hier nicht die isolierte Bedeutung, die sich gleichsam von oben her an
dem Ideal des Glücks, der Intelligenz, der Schönheit miſst, sondern
sie erscheinen als Entwicklungen einer Grundlage, die wir Natur
nennen und deren Kräfte und Ideengehalt sie überschreiten, insofern
sie eben Kultur sind. Wenn deshalb ein veredeltes Gartenobst und
eine Statue gleichermaſsen Kulturprodukte sind, so deutet die Sprache
doch dieses Verhältnis sehr fein an, indem sie jenen Obstbaum selbst
„kultiviert“ nennt, während der rohe Marmorblock keineswegs zu
Statuen „kultiviert“ ist. Denn in dem ersteren Falle nimmt man eine
natürliche Triebkraft und Angelegtheit des Baumes in der Richtung
jener Früchte an, die durch intelligente Beeinflussung über ihre natür-
liche Grenze hinausgetrieben ist, während wir in dem Marmorblock
keine entsprechende Tendenz auf die Statue hin voraussetzen; die in
ihr verwirklichte Kultur bedeutet die Erhöhung und Verfeinerung ge-
wisser menschlicher Energien, deren ursprüngliche Äuſserungen wir als
„natürliche“ bezeichnen.
Nun scheint es zunächst selbstverständlich, daſs unpersönliche
Dinge nur gleichnisweise als kultiviert zu bezeichnen sind. Denn
jene durch Willen und Intellekt bewirkte Entfaltung des Gegebenen
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Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900, S. [475]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_geld_1900/499>, abgerufen am 21.11.2024.
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