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Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900.

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III.

Innerhalb der Geistesgeschichte begegnet uns eine Entwicklung,
die, so einfach ihr Schema ist, durch ihre umfassende und tiefgreifende
Verwirklichung zu den bedeutsamsten Formen der geistigen Realität
gehört. Wir finden nämlich gewisse Gebiete zuerst von je einem
Charakterzuge uneingeschränkt beherrscht; die Entwicklung zerspaltet
die Einheitlichkeit des einzelnen in mehrere Teilgebiete, von welchen
nun eines den Charakter des Ganzen im engeren Sinne und im Gegen-
satz gegen die andern Teile repräsentiert. Oder, anders ausgedrückt:
bei allem relativen Gegensatz zweier Elemente eines Ganzen können
doch beide den Charakter des einen von ihnen, aber in absoluter Form,
gemeinsam tragen. So könnte z. B. der moralphilosophische Egoismus
recht haben, dass wir überhaupt nicht anders als im eignen Interesse
und um persönlicher Lust willen handeln können. Dann aber müsste
weiterhin zwischen einem Egoismus im engeren und einem im weiteren
Sinne unterschieden werden; wer seinen Egoismus an dem Wohlergehen
Andrer, etwa unter Aufopferung des eignen Lebens, befriedigt, den
würden wir zweifellos weiter einen Altruisten nennen und ihn von dem-
jenigen unterscheiden, dessen Handeln nur auf Schädigung und Unter-
drückung Andrer geht; diesen müssen wir als den Egoisten schlechthin
bezeichnen, so sehr der Egoismus, in seiner absoluten und weitesten
Bedeutung, sich mit jedem Handeln als solchem deckend, auch jenen
ersteren einschliessen mag. -- Ferner: die erkenntnistheoretische Lehre,
dass alles Erkennen ein rein subjektiver, ausschliesslich im Ich ver-
laufender und vom Ich bestimmter Prozess ist, mag ihre Richtigkeit
haben; dennoch unterscheiden wir nun solche Vorstellungen, die objektiv
wahr sind, von den nur subjektiv, durch Phantasie, Willkür, Sinnes-
täuschung erzeugten -- wenngleich, absolut genommen, auch jene ob-
jektiveren Erkenntnisse bloss subjektiver Provenienz sein mögen. Die
Entwicklung geht auf immer gründlichere, bewusstere Scheidung zwischen
den objektiven und den subjektiven Vorstellungen, die sich ursprüng-
lich in einem unklaren psychologischen Indifferenzzustand bewegten.

III.

Innerhalb der Geistesgeschichte begegnet uns eine Entwicklung,
die, so einfach ihr Schema ist, durch ihre umfassende und tiefgreifende
Verwirklichung zu den bedeutsamsten Formen der geistigen Realität
gehört. Wir finden nämlich gewisse Gebiete zuerst von je einem
Charakterzuge uneingeschränkt beherrscht; die Entwicklung zerspaltet
die Einheitlichkeit des einzelnen in mehrere Teilgebiete, von welchen
nun eines den Charakter des Ganzen im engeren Sinne und im Gegen-
satz gegen die andern Teile repräsentiert. Oder, anders ausgedrückt:
bei allem relativen Gegensatz zweier Elemente eines Ganzen können
doch beide den Charakter des einen von ihnen, aber in absoluter Form,
gemeinsam tragen. So könnte z. B. der moralphilosophische Egoismus
recht haben, daſs wir überhaupt nicht anders als im eignen Interesse
und um persönlicher Lust willen handeln können. Dann aber müſste
weiterhin zwischen einem Egoismus im engeren und einem im weiteren
Sinne unterschieden werden; wer seinen Egoismus an dem Wohlergehen
Andrer, etwa unter Aufopferung des eignen Lebens, befriedigt, den
würden wir zweifellos weiter einen Altruisten nennen und ihn von dem-
jenigen unterscheiden, dessen Handeln nur auf Schädigung und Unter-
drückung Andrer geht; diesen müssen wir als den Egoisten schlechthin
bezeichnen, so sehr der Egoismus, in seiner absoluten und weitesten
Bedeutung, sich mit jedem Handeln als solchem deckend, auch jenen
ersteren einschlieſsen mag. — Ferner: die erkenntnistheoretische Lehre,
daſs alles Erkennen ein rein subjektiver, ausschlieſslich im Ich ver-
laufender und vom Ich bestimmter Prozeſs ist, mag ihre Richtigkeit
haben; dennoch unterscheiden wir nun solche Vorstellungen, die objektiv
wahr sind, von den nur subjektiv, durch Phantasie, Willkür, Sinnes-
täuschung erzeugten — wenngleich, absolut genommen, auch jene ob-
jektiveren Erkenntnisse bloſs subjektiver Provenienz sein mögen. Die
Entwicklung geht auf immer gründlichere, bewuſstere Scheidung zwischen
den objektiven und den subjektiven Vorstellungen, die sich ursprüng-
lich in einem unklaren psychologischen Indifferenzzustand bewegten.

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[[336]/0360] III. Innerhalb der Geistesgeschichte begegnet uns eine Entwicklung, die, so einfach ihr Schema ist, durch ihre umfassende und tiefgreifende Verwirklichung zu den bedeutsamsten Formen der geistigen Realität gehört. Wir finden nämlich gewisse Gebiete zuerst von je einem Charakterzuge uneingeschränkt beherrscht; die Entwicklung zerspaltet die Einheitlichkeit des einzelnen in mehrere Teilgebiete, von welchen nun eines den Charakter des Ganzen im engeren Sinne und im Gegen- satz gegen die andern Teile repräsentiert. Oder, anders ausgedrückt: bei allem relativen Gegensatz zweier Elemente eines Ganzen können doch beide den Charakter des einen von ihnen, aber in absoluter Form, gemeinsam tragen. So könnte z. B. der moralphilosophische Egoismus recht haben, daſs wir überhaupt nicht anders als im eignen Interesse und um persönlicher Lust willen handeln können. Dann aber müſste weiterhin zwischen einem Egoismus im engeren und einem im weiteren Sinne unterschieden werden; wer seinen Egoismus an dem Wohlergehen Andrer, etwa unter Aufopferung des eignen Lebens, befriedigt, den würden wir zweifellos weiter einen Altruisten nennen und ihn von dem- jenigen unterscheiden, dessen Handeln nur auf Schädigung und Unter- drückung Andrer geht; diesen müssen wir als den Egoisten schlechthin bezeichnen, so sehr der Egoismus, in seiner absoluten und weitesten Bedeutung, sich mit jedem Handeln als solchem deckend, auch jenen ersteren einschlieſsen mag. — Ferner: die erkenntnistheoretische Lehre, daſs alles Erkennen ein rein subjektiver, ausschlieſslich im Ich ver- laufender und vom Ich bestimmter Prozeſs ist, mag ihre Richtigkeit haben; dennoch unterscheiden wir nun solche Vorstellungen, die objektiv wahr sind, von den nur subjektiv, durch Phantasie, Willkür, Sinnes- täuschung erzeugten — wenngleich, absolut genommen, auch jene ob- jektiveren Erkenntnisse bloſs subjektiver Provenienz sein mögen. Die Entwicklung geht auf immer gründlichere, bewuſstere Scheidung zwischen den objektiven und den subjektiven Vorstellungen, die sich ursprüng- lich in einem unklaren psychologischen Indifferenzzustand bewegten.

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900, S. [336]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_geld_1900/360>, abgerufen am 21.11.2024.