I. Einleitung. Zur Erkenntnistheorie der Socialwissenschaft.
Die häufig beobachtete Eigentümlichkeit komplizierter Gebilde: dass das Verhältnis eines Ganzen zu einem andern sich innerhalb der Teile eines dieser Ganzen wiederholt -- liegt auch in dem Verhältnis zwischen Theorie und Praxis vor. Wenn man innerhalb der theoretischen Erkenntnis nicht auf den rein ideellen Inhalt, sondern auf das Zustandekommen desselben achtet, auf die psychologischen Motive, die metho- dischen Wege, die systematischen Ziele, so erscheint doch auch die Erkenntnis als ein Gebiet menschlicher Praxis, das nun seinerseits wieder zum Gegenstand des theoretisierenden Erkennens wird. Damit ist zugleich ein Wertmass für die erkenntnistheoretische und methodologische Betrachtung der Wissenschaften gegeben; sie verhält sich als Theorie der Theorie zu der auf die Objekte gerichteten Forschung, wie sich eben die Theorie zur Praxis verhält, d. h. von geringerer Bedeutung, unselbständiger, mehr im Charakter des Registrie- rens als des Erwerbens, nur die formalen Seiten eines schon gegebenen Inhaltes auf höherer Bewusstseinsstufe wiederholend. Im allgemeinen liegt dem Menschen mehr daran, etwas zu machen, als zu wissen, wie er es macht, und die Thatsache des ersteren ist auch stets der Klarheit über das letztere vorausgegangen. Ja, nicht nur das Wie, sondern auch das Wozu des Erkennens pflegt im Unbewussten zu bleiben, so- bald es über die nächste Stufe der Zweckreihe hinaus nach den entfernteren oder letzten Zielen desselben fragt; die Ein- ordnung der einzelnen Erkenntnis in ein geschlossenes System von Wahrheiten, ihre Dienstbarkeit als Mittel zu einem höch-
Forschungen (42) X 1. -- Simmel. 1
I. Einleitung. Zur Erkenntnistheorie der Socialwissenschaft.
Die häufig beobachtete Eigentümlichkeit komplizierter Gebilde: daſs das Verhältnis eines Ganzen zu einem andern sich innerhalb der Teile eines dieser Ganzen wiederholt — liegt auch in dem Verhältnis zwischen Theorie und Praxis vor. Wenn man innerhalb der theoretischen Erkenntnis nicht auf den rein ideellen Inhalt, sondern auf das Zustandekommen desselben achtet, auf die psychologischen Motive, die metho- dischen Wege, die systematischen Ziele, so erscheint doch auch die Erkenntnis als ein Gebiet menschlicher Praxis, das nun seinerseits wieder zum Gegenstand des theoretisierenden Erkennens wird. Damit ist zugleich ein Wertmaſs für die erkenntnistheoretische und methodologische Betrachtung der Wissenschaften gegeben; sie verhält sich als Theorie der Theorie zu der auf die Objekte gerichteten Forschung, wie sich eben die Theorie zur Praxis verhält, d. h. von geringerer Bedeutung, unselbständiger, mehr im Charakter des Registrie- rens als des Erwerbens, nur die formalen Seiten eines schon gegebenen Inhaltes auf höherer Bewuſstseinsstufe wiederholend. Im allgemeinen liegt dem Menschen mehr daran, etwas zu machen, als zu wissen, wie er es macht, und die Thatsache des ersteren ist auch stets der Klarheit über das letztere vorausgegangen. Ja, nicht nur das Wie, sondern auch das Wozu des Erkennens pflegt im Unbewuſsten zu bleiben, so- bald es über die nächste Stufe der Zweckreihe hinaus nach den entfernteren oder letzten Zielen desselben fragt; die Ein- ordnung der einzelnen Erkenntnis in ein geschlossenes System von Wahrheiten, ihre Dienstbarkeit als Mittel zu einem höch-
Forschungen (42) X 1. — Simmel. 1
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I.
Einleitung.
Zur Erkenntnistheorie der Socialwissenschaft.
Die häufig beobachtete Eigentümlichkeit komplizierter
Gebilde: daſs das Verhältnis eines Ganzen zu einem andern
sich innerhalb der Teile eines dieser Ganzen wiederholt —
liegt auch in dem Verhältnis zwischen Theorie und Praxis
vor. Wenn man innerhalb der theoretischen Erkenntnis nicht
auf den rein ideellen Inhalt, sondern auf das Zustandekommen
desselben achtet, auf die psychologischen Motive, die metho-
dischen Wege, die systematischen Ziele, so erscheint doch
auch die Erkenntnis als ein Gebiet menschlicher Praxis, das
nun seinerseits wieder zum Gegenstand des theoretisierenden
Erkennens wird. Damit ist zugleich ein Wertmaſs für die
erkenntnistheoretische und methodologische Betrachtung der
Wissenschaften gegeben; sie verhält sich als Theorie der
Theorie zu der auf die Objekte gerichteten Forschung, wie
sich eben die Theorie zur Praxis verhält, d. h. von geringerer
Bedeutung, unselbständiger, mehr im Charakter des Registrie-
rens als des Erwerbens, nur die formalen Seiten eines schon
gegebenen Inhaltes auf höherer Bewuſstseinsstufe wiederholend.
Im allgemeinen liegt dem Menschen mehr daran, etwas zu
machen, als zu wissen, wie er es macht, und die Thatsache
des ersteren ist auch stets der Klarheit über das letztere
vorausgegangen. Ja, nicht nur das Wie, sondern auch das
Wozu des Erkennens pflegt im Unbewuſsten zu bleiben, so-
bald es über die nächste Stufe der Zweckreihe hinaus nach
den entfernteren oder letzten Zielen desselben fragt; die Ein-
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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. [1]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/15>, abgerufen am 21.02.2025.
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