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Siegmeyer, Johann Gottlieb: Theorie der Tonsetzkunst. Berlin, 1822.

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fand, daß; wenn man diese rhythmischen Normen durch alle Stimmen, und zwar
theils in vergrößerten theils in verkleinerten, theils in rückenden, theils in gebundenen
Noten etc. hindurch führte, man nicht Gefahr lief, aus dem Karacter des Stücks
zu fallen. Die Fuge wurde mithin nach und nach in alle andre Gattungen von Musik-
stücken, die einigermaßen Anspruch auf Vollkommenheit machten, übertragen. Die neu-
ern Componisten beobachten zwar dieses Verfahren auch, aber mehr aus Gefühl als aus
Grundsatz, weil sie sich für den Zwang, den ihnen diese Beobachtung auflegt, nicht entschä-
digen zu können glauben und befürchten, die schönsten Ideen aufgeben zu müßen. Wie vor-
theilhaft die Beobachtung des Hauptcharakters ist, kann aus den Werken Glucks, Händels etc.,
deren Musik allen Nationen und zu allen Zeiten gefallen wird, bewiesen werden. Und
worinnen bestehen die uns so sehr ergreifenden Schönheiten der Gluckschen Opern an-
ders als in der Kunst: den Ausdruck der Leidenschaften, der Gefühle, in fugirten Sätzen
nach einem zweckmäßigen Thema zu bewirken und den Tönen der Stimmen; sie mögen
Vocal- oder Instrumental-Stimmen sein, Leben und einen Drang zu geben um sich
wechselseitig im Ausdrucke zu übertreffen, indem sie einander übersteigen oder nachahmen.

Wie weit die Vorschrift: das Thema durch ein ganzes Stück durchzuführen, zuläßig
ist, kann nicht genau bestimmt werden, weil alles darauf ankommt, zu welchem Zwecke
das Musikstück bestimmt ist. Es giebt Fälle, wo das Thema nur in wenig Stellen hör-
bar werden kann. Z. B. in der Oper, wo der Rhythmus einer Arie oft so schnell ab-
wechselt, daß der Componist nicht im Stande ist, den Versen das Thema anpaßen zu
können. Es muß daher dem Urtheile, der Erfahrung und dem Geschmacke des Compo-
nisten überlaßen bleiben, wie weit er sich von dem festgesetzten Thema entfernen kann
und will.

b) die Tonschlüße.

Es ist zwar schon unter dem Titel: Von der Melodie verschiedenes berührt wor-
den, was auch Bezug auf die Tonschlüße hat, weil sie zur Distinction der rhythmischen
Abschnitte und der Accente gebraucht werden.

Sie bestehen in dem Gebrauche einiger Intervalle, vermittelst welcher eine Harmo-
nie oder vielmehr der Abschnitt einer Melodie oder ein ganzes Musikstück geendet wer-
den kann. Jeder Tonschluß ist entweder vollkommen oder unvollkommen. Sie
sind leicht zu unterscheiden, weil es dabei durchaus auf den Grundton ankommt.

Ein vollkommener Tonschluß ist nur derjenige zu nennen, der durch den
Dreiklang geschieht, in welcher Tonart oder Harmonie es auch sei; auch ist es gleich-
viel, ob sich die Melodie in der Octave oder Quinte oder Terz oder Prime schließt.

Ein unvollkommener Tonschluß ist derjenige, wenn der Abschnitt einer Me-
lodie durch den Grundbaß des Sexten oder Sext-Quarten-Accords bezeichnet wird, der

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fand, daß; wenn man dieſe rhythmiſchen Normen durch alle Stimmen, und zwar
theils in vergroͤßerten theils in verkleinerten, theils in ruͤckenden, theils in gebundenen
Noten ꝛc. hindurch fuͤhrte, man nicht Gefahr lief, aus dem Karacter des Stuͤcks
zu fallen. Die Fuge wurde mithin nach und nach in alle andre Gattungen von Muſik-
ſtuͤcken, die einigermaßen Anſpruch auf Vollkommenheit machten, uͤbertragen. Die neu-
ern Componiſten beobachten zwar dieſes Verfahren auch, aber mehr aus Gefuͤhl als aus
Grundſatz, weil ſie ſich fuͤr den Zwang, den ihnen dieſe Beobachtung auflegt, nicht entſchaͤ-
digen zu koͤnnen glauben und befuͤrchten, die ſchoͤnſten Ideen aufgeben zu muͤßen. Wie vor-
theilhaft die Beobachtung des Hauptcharakters iſt, kann aus den Werken Glucks, Haͤndels ꝛc.,
deren Muſik allen Nationen und zu allen Zeiten gefallen wird, bewieſen werden. Und
worinnen beſtehen die uns ſo ſehr ergreifenden Schoͤnheiten der Gluckſchen Opern an-
ders als in der Kunſt: den Ausdruck der Leidenſchaften, der Gefuͤhle, in fugirten Saͤtzen
nach einem zweckmaͤßigen Thema zu bewirken und den Toͤnen der Stimmen; ſie moͤgen
Vocal- oder Inſtrumental-Stimmen ſein, Leben und einen Drang zu geben um ſich
wechſelſeitig im Ausdrucke zu uͤbertreffen, indem ſie einander uͤberſteigen oder nachahmen.

Wie weit die Vorſchrift: das Thema durch ein ganzes Stuͤck durchzufuͤhren, zulaͤßig
iſt, kann nicht genau beſtimmt werden, weil alles darauf ankommt, zu welchem Zwecke
das Muſikſtuͤck beſtimmt iſt. Es giebt Faͤlle, wo das Thema nur in wenig Stellen hoͤr-
bar werden kann. Z. B. in der Oper, wo der Rhythmus einer Arie oft ſo ſchnell ab-
wechſelt, daß der Componiſt nicht im Stande iſt, den Verſen das Thema anpaßen zu
koͤnnen. Es muß daher dem Urtheile, der Erfahrung und dem Geſchmacke des Compo-
niſten uͤberlaßen bleiben, wie weit er ſich von dem feſtgeſetzten Thema entfernen kann
und will.

b) die Tonſchluͤße.

Es iſt zwar ſchon unter dem Titel: Von der Melodie verſchiedenes beruͤhrt wor-
den, was auch Bezug auf die Tonſchluͤße hat, weil ſie zur Diſtinction der rhythmiſchen
Abſchnitte und der Accente gebraucht werden.

Sie beſtehen in dem Gebrauche einiger Intervalle, vermittelſt welcher eine Harmo-
nie oder vielmehr der Abſchnitt einer Melodie oder ein ganzes Muſikſtuͤck geendet wer-
den kann. Jeder Tonſchluß iſt entweder vollkommen oder unvollkommen. Sie
ſind leicht zu unterſcheiden, weil es dabei durchaus auf den Grundton ankommt.

Ein vollkommener Tonſchluß iſt nur derjenige zu nennen, der durch den
Dreiklang geſchieht, in welcher Tonart oder Harmonie es auch ſei; auch iſt es gleich-
viel, ob ſich die Melodie in der Octave oder Quinte oder Terz oder Prime ſchließt.

Ein unvollkommener Tonſchluß iſt derjenige, wenn der Abſchnitt einer Me-
lodie durch den Grundbaß des Sexten oder Sext-Quarten-Accords bezeichnet wird, der

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[235/0253] fand, daß; wenn man dieſe rhythmiſchen Normen durch alle Stimmen, und zwar theils in vergroͤßerten theils in verkleinerten, theils in ruͤckenden, theils in gebundenen Noten ꝛc. hindurch fuͤhrte, man nicht Gefahr lief, aus dem Karacter des Stuͤcks zu fallen. Die Fuge wurde mithin nach und nach in alle andre Gattungen von Muſik- ſtuͤcken, die einigermaßen Anſpruch auf Vollkommenheit machten, uͤbertragen. Die neu- ern Componiſten beobachten zwar dieſes Verfahren auch, aber mehr aus Gefuͤhl als aus Grundſatz, weil ſie ſich fuͤr den Zwang, den ihnen dieſe Beobachtung auflegt, nicht entſchaͤ- digen zu koͤnnen glauben und befuͤrchten, die ſchoͤnſten Ideen aufgeben zu muͤßen. Wie vor- theilhaft die Beobachtung des Hauptcharakters iſt, kann aus den Werken Glucks, Haͤndels ꝛc., deren Muſik allen Nationen und zu allen Zeiten gefallen wird, bewieſen werden. Und worinnen beſtehen die uns ſo ſehr ergreifenden Schoͤnheiten der Gluckſchen Opern an- ders als in der Kunſt: den Ausdruck der Leidenſchaften, der Gefuͤhle, in fugirten Saͤtzen nach einem zweckmaͤßigen Thema zu bewirken und den Toͤnen der Stimmen; ſie moͤgen Vocal- oder Inſtrumental-Stimmen ſein, Leben und einen Drang zu geben um ſich wechſelſeitig im Ausdrucke zu uͤbertreffen, indem ſie einander uͤberſteigen oder nachahmen. Wie weit die Vorſchrift: das Thema durch ein ganzes Stuͤck durchzufuͤhren, zulaͤßig iſt, kann nicht genau beſtimmt werden, weil alles darauf ankommt, zu welchem Zwecke das Muſikſtuͤck beſtimmt iſt. Es giebt Faͤlle, wo das Thema nur in wenig Stellen hoͤr- bar werden kann. Z. B. in der Oper, wo der Rhythmus einer Arie oft ſo ſchnell ab- wechſelt, daß der Componiſt nicht im Stande iſt, den Verſen das Thema anpaßen zu koͤnnen. Es muß daher dem Urtheile, der Erfahrung und dem Geſchmacke des Compo- niſten uͤberlaßen bleiben, wie weit er ſich von dem feſtgeſetzten Thema entfernen kann und will. b) die Tonſchluͤße. Es iſt zwar ſchon unter dem Titel: Von der Melodie verſchiedenes beruͤhrt wor- den, was auch Bezug auf die Tonſchluͤße hat, weil ſie zur Diſtinction der rhythmiſchen Abſchnitte und der Accente gebraucht werden. Sie beſtehen in dem Gebrauche einiger Intervalle, vermittelſt welcher eine Harmo- nie oder vielmehr der Abſchnitt einer Melodie oder ein ganzes Muſikſtuͤck geendet wer- den kann. Jeder Tonſchluß iſt entweder vollkommen oder unvollkommen. Sie ſind leicht zu unterſcheiden, weil es dabei durchaus auf den Grundton ankommt. Ein vollkommener Tonſchluß iſt nur derjenige zu nennen, der durch den Dreiklang geſchieht, in welcher Tonart oder Harmonie es auch ſei; auch iſt es gleich- viel, ob ſich die Melodie in der Octave oder Quinte oder Terz oder Prime ſchließt. Ein unvollkommener Tonſchluß iſt derjenige, wenn der Abſchnitt einer Me- lodie durch den Grundbaß des Sexten oder Sext-Quarten-Accords bezeichnet wird, der G g 2

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Siegmeyer, Johann Gottlieb: Theorie der Tonsetzkunst. Berlin, 1822, S. 235. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/siegmeyer_tonsetzkunst_1822/253>, abgerufen am 21.11.2024.