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Seume, Johann Gottfried: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802. Braunschweig u. a., 1803.

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nem Ort beysammen denken kann: nur kann ich mir
in den französischen Soldaten, ich mag sie besehen
wie ich will, immer noch nicht die Sieger von Euro¬
pa vorstellen. Wir sind mehr durch den Geist ihrer
Sache und ihren hohen Enthusiasmus als durch ihre
Kriegskunst geschlagen worden. Die taktische Methode
des Tiraillierens, die aber nur der Ueberlegene an
Anzahl brauchen kann, hat das ihrige auch gethan.
Von Bonaparte sollte ich vielleicht lieber schweigen,
da ich nicht sein Verehrer bin. Einen solchen Mann
sieht man auf zwey hundert Meilen vielleicht besser
als auf zehn Schritte. Es scheint aber in meinem
Charakter zu liegen, Dir über ihn etwas zu sagen;
und das will ich denn mit Offenheit thun. Ich bin
keines Menschen Feind, sondern nur der Freund der
Wahrheit, Freyheit und Gerechtigkeit. Neid und Her¬
absetzungssucht sind meiner Seele fremd, ich nehme
immer nur die Sache. Ich bin dem Mann von seiner
ersten Erscheinung an mit Aufmerksamkeit gefolgt,
und habe seinen Muth, seinen Scharfblick, seine mili¬
tärische und politische Grösse nie verkannt. Proble¬
matisch ist er in seinem Charakter immer gewesen,
und ist es jetzt mehr als jemals, wenn man ihn nicht
verdammen soll. Bis auf den Tag von Marengo, wo
ihn Desaix Tod aus den republikanischen Gränzen
heraus hob, hat er als Republikaner im Allgemeinen
handeln müssen: seitdem hat er nichts mehr im Sinne
eines Republikaners gethan.

Als er aus Aegypten kam, trat er die Krise seines
Charakters an. Wir wollen sehen was er in Paris
thut, dachte ich, und dann urtheilen. Ich tadle ihn

nem Ort beysammen denken kann: nur kann ich mir
in den französischen Soldaten, ich mag sie besehen
wie ich will, immer noch nicht die Sieger von Euro¬
pa vorstellen. Wir sind mehr durch den Geist ihrer
Sache und ihren hohen Enthusiasmus als durch ihre
Kriegskunst geschlagen worden. Die taktische Methode
des Tiraillierens, die aber nur der Ueberlegene an
Anzahl brauchen kann, hat das ihrige auch gethan.
Von Bonaparte sollte ich vielleicht lieber schweigen,
da ich nicht sein Verehrer bin. Einen solchen Mann
sieht man auf zwey hundert Meilen vielleicht besser
als auf zehn Schritte. Es scheint aber in meinem
Charakter zu liegen, Dir über ihn etwas zu sagen;
und das will ich denn mit Offenheit thun. Ich bin
keines Menschen Feind, sondern nur der Freund der
Wahrheit, Freyheit und Gerechtigkeit. Neid und Her¬
absetzungssucht sind meiner Seele fremd, ich nehme
immer nur die Sache. Ich bin dem Mann von seiner
ersten Erscheinung an mit Aufmerksamkeit gefolgt,
und habe seinen Muth, seinen Scharfblick, seine mili¬
tärische und politische Gröſse nie verkannt. Proble¬
matisch ist er in seinem Charakter immer gewesen,
und ist es jetzt mehr als jemals, wenn man ihn nicht
verdammen soll. Bis auf den Tag von Marengo, wo
ihn Desaix Tod aus den republikanischen Gränzen
heraus hob, hat er als Republikaner im Allgemeinen
handeln müssen: seitdem hat er nichts mehr im Sinne
eines Republikaners gethan.

Als er aus Aegypten kam, trat er die Krise seines
Charakters an. Wir wollen sehen was er in Paris
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[455 /0483] nem Ort beysammen denken kann: nur kann ich mir in den französischen Soldaten, ich mag sie besehen wie ich will, immer noch nicht die Sieger von Euro¬ pa vorstellen. Wir sind mehr durch den Geist ihrer Sache und ihren hohen Enthusiasmus als durch ihre Kriegskunst geschlagen worden. Die taktische Methode des Tiraillierens, die aber nur der Ueberlegene an Anzahl brauchen kann, hat das ihrige auch gethan. Von Bonaparte sollte ich vielleicht lieber schweigen, da ich nicht sein Verehrer bin. Einen solchen Mann sieht man auf zwey hundert Meilen vielleicht besser als auf zehn Schritte. Es scheint aber in meinem Charakter zu liegen, Dir über ihn etwas zu sagen; und das will ich denn mit Offenheit thun. Ich bin keines Menschen Feind, sondern nur der Freund der Wahrheit, Freyheit und Gerechtigkeit. Neid und Her¬ absetzungssucht sind meiner Seele fremd, ich nehme immer nur die Sache. Ich bin dem Mann von seiner ersten Erscheinung an mit Aufmerksamkeit gefolgt, und habe seinen Muth, seinen Scharfblick, seine mili¬ tärische und politische Gröſse nie verkannt. Proble¬ matisch ist er in seinem Charakter immer gewesen, und ist es jetzt mehr als jemals, wenn man ihn nicht verdammen soll. Bis auf den Tag von Marengo, wo ihn Desaix Tod aus den republikanischen Gränzen heraus hob, hat er als Republikaner im Allgemeinen handeln müssen: seitdem hat er nichts mehr im Sinne eines Republikaners gethan. Als er aus Aegypten kam, trat er die Krise seines Charakters an. Wir wollen sehen was er in Paris thut, dachte ich, und dann urtheilen. Ich tadle ihn

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Zitationshilfe: Seume, Johann Gottfried: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802. Braunschweig u. a., 1803, S. 455 . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seume_syrakus_1803/483>, abgerufen am 26.04.2024.