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Seume, Johann Gottfried: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802. Braunschweig u. a., 1803.

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Heute besuchte ich auch Virgils Grab. Die um¬
ständliche Beschreibung mag Dir ein Anderer machen.
Es ist ein romantisches, idyllisches Plätzchen; und ich
bin geneigt zu glauben, der Dichter sey hier begraben
gewesen, die Urne mag nun hingekommen seyn, wo¬
hin sie wolle. Das Gebäudchen ist wohl nichts an¬
ders als ein Grab, nicht weit von dem Eingange der
Grotte Posilippo, und eine der schönsten Stellen in
der schönen Gegend. Ich weiss nicht, warum man
sich nun mit allem Fleiss bemüht, den Mann auf die
andere Seite der Stadt zu begraben, wo er nicht halb
so schön liegt, wenn auch der Vesuv nicht sein Nach¬
bar wäre. Ich bin nicht Antiquar; aber die ganze Be¬
hauptung, dass er dort drüben liege, beruht doch wohl
nur auf der Nachricht, er sey am Berge Vesuv begra¬
ben worden. Das ist er aber auch, wenn er hier
liegt; denn der Berg ist gerade gegen über: in eini¬
gen Stunden war er dort, wenn er zu Lande ging,
und setzte er sich in ein Boot, so ging es noch schnel¬
ler. Die Entfernung eines solchen Nachbars, wie Ve¬
suv ist, wird nicht eben so genau genommen. Alle
übrige Umstände sind mehr für diese Seite der Stadt.
Hier ist die reichste, schönste Gegend, hier waren die
vorzüglichsten Niederlagen der römischen Grossen, vor¬
nehmlich auf der Spitze des Posilippo die Gärten des
Pollio, der ein Freund war des römischen Avtokra¬
tors und ein Freund des Dichters; nach dieser Gegend
lagen Puteoli und Bajä und Cumä, der Avernus und
Misene, die Lieblingsgegenstände seiner Dichtungen;
diese Gegend war überhaupt der Spielraum seiner lieb¬
sten Phantasie. Wahrscheinlich hat er hier gewohnt,

Heute besuchte ich auch Virgils Grab. Die um¬
ständliche Beschreibung mag Dir ein Anderer machen.
Es ist ein romantisches, idyllisches Plätzchen; und ich
bin geneigt zu glauben, der Dichter sey hier begraben
gewesen, die Urne mag nun hingekommen seyn, wo¬
hin sie wolle. Das Gebäudchen ist wohl nichts an¬
ders als ein Grab, nicht weit von dem Eingange der
Grotte Posilippo, und eine der schönsten Stellen in
der schönen Gegend. Ich weiſs nicht, warum man
sich nun mit allem Fleiſs bemüht, den Mann auf die
andere Seite der Stadt zu begraben, wo er nicht halb
so schön liegt, wenn auch der Vesuv nicht sein Nach¬
bar wäre. Ich bin nicht Antiquar; aber die ganze Be¬
hauptung, daſs er dort drüben liege, beruht doch wohl
nur auf der Nachricht, er sey am Berge Vesuv begra¬
ben worden. Das ist er aber auch, wenn er hier
liegt; denn der Berg ist gerade gegen über: in eini¬
gen Stunden war er dort, wenn er zu Lande ging,
und setzte er sich in ein Boot, so ging es noch schnel¬
ler. Die Entfernung eines solchen Nachbars, wie Ve¬
suv ist, wird nicht eben so genau genommen. Alle
übrige Umstände sind mehr für diese Seite der Stadt.
Hier ist die reichste, schönste Gegend, hier waren die
vorzüglichsten Niederlagen der römischen Groſsen, vor¬
nehmlich auf der Spitze des Posilippo die Gärten des
Pollio, der ein Freund war des römischen Avtokra¬
tors und ein Freund des Dichters; nach dieser Gegend
lagen Puteoli und Bajä und Cumä, der Avernus und
Misene, die Lieblingsgegenstände seiner Dichtungen;
diese Gegend war überhaupt der Spielraum seiner lieb¬
sten Phantasie. Wahrscheinlich hat er hier gewohnt,

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[190/0216] Heute besuchte ich auch Virgils Grab. Die um¬ ständliche Beschreibung mag Dir ein Anderer machen. Es ist ein romantisches, idyllisches Plätzchen; und ich bin geneigt zu glauben, der Dichter sey hier begraben gewesen, die Urne mag nun hingekommen seyn, wo¬ hin sie wolle. Das Gebäudchen ist wohl nichts an¬ ders als ein Grab, nicht weit von dem Eingange der Grotte Posilippo, und eine der schönsten Stellen in der schönen Gegend. Ich weiſs nicht, warum man sich nun mit allem Fleiſs bemüht, den Mann auf die andere Seite der Stadt zu begraben, wo er nicht halb so schön liegt, wenn auch der Vesuv nicht sein Nach¬ bar wäre. Ich bin nicht Antiquar; aber die ganze Be¬ hauptung, daſs er dort drüben liege, beruht doch wohl nur auf der Nachricht, er sey am Berge Vesuv begra¬ ben worden. Das ist er aber auch, wenn er hier liegt; denn der Berg ist gerade gegen über: in eini¬ gen Stunden war er dort, wenn er zu Lande ging, und setzte er sich in ein Boot, so ging es noch schnel¬ ler. Die Entfernung eines solchen Nachbars, wie Ve¬ suv ist, wird nicht eben so genau genommen. Alle übrige Umstände sind mehr für diese Seite der Stadt. Hier ist die reichste, schönste Gegend, hier waren die vorzüglichsten Niederlagen der römischen Groſsen, vor¬ nehmlich auf der Spitze des Posilippo die Gärten des Pollio, der ein Freund war des römischen Avtokra¬ tors und ein Freund des Dichters; nach dieser Gegend lagen Puteoli und Bajä und Cumä, der Avernus und Misene, die Lieblingsgegenstände seiner Dichtungen; diese Gegend war überhaupt der Spielraum seiner lieb¬ sten Phantasie. Wahrscheinlich hat er hier gewohnt,

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Zitationshilfe: Seume, Johann Gottfried: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802. Braunschweig u. a., 1803, S. 190. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seume_syrakus_1803/216>, abgerufen am 26.04.2024.