Der Sohn des Anchises wählte aus allen Schiffen des Geschwaders die ausgezeichnetsten Männer, hundert an der Zahl, als Redner oder Gesandte, die an den Laurenterkönig abgeschickt werden sollten. Diese traten, bebänderte Oelzweige, gleich Schutzflehenden, in den Händen, die Reise an und gelangten bald in die Stadt der Latiner. Vor der Stadt tummelte sich die Jugend Latiums zu Wagen und Roß, andere vergnügten sich mit Wurfspießwerfen und Bogenschießen, mit Faustkampf und Wettrennen. Als nun die fremden Gesandten kamen, eilte ein Bote zu Roß in die Stadt voran und brachte dem alten Könige die unerwartete Botschaft, daß eine Schaar großer, herrlicher Männer friedlich herannahe. Dieser befahl sogleich, sie in seine Wohnung zu rufen und versammelte alle die Seinigen um den Thron seiner Ahnen.
Der Palast des Königs war groß und herrlich, in der obersten Burg der Stadt gelegen. Hundert Säulen trugen ihn, und ein heiliger Hain umringte ihn mit hohen, Ehrfurcht gebietenden Bäumen. Im Innern des¬ selben saß auf einem hohen Throne Latinus und beschied die Trojaner vor sich. Als sie eingetreten waren, sprach er mit freundlichem Angesichte: "Euer Geschlecht ist mir nicht unbekannt, ihr Dardaniden, und ihr waret mir ver¬ kündiget, noch als ihr lang auf dem Meere umherirrtet. Möget ihr nun durch Stürme hieher verschlagen, oder
Lavinia dem Aeneas zugeſagt.
Der Sohn des Anchiſes wählte aus allen Schiffen des Geſchwaders die ausgezeichnetſten Männer, hundert an der Zahl, als Redner oder Geſandte, die an den Laurenterkönig abgeſchickt werden ſollten. Dieſe traten, bebänderte Oelzweige, gleich Schutzflehenden, in den Händen, die Reiſe an und gelangten bald in die Stadt der Latiner. Vor der Stadt tummelte ſich die Jugend Latiums zu Wagen und Roß, andere vergnügten ſich mit Wurfſpießwerfen und Bogenſchießen, mit Fauſtkampf und Wettrennen. Als nun die fremden Geſandten kamen, eilte ein Bote zu Roß in die Stadt voran und brachte dem alten Könige die unerwartete Botſchaft, daß eine Schaar großer, herrlicher Männer friedlich herannahe. Dieſer befahl ſogleich, ſie in ſeine Wohnung zu rufen und verſammelte alle die Seinigen um den Thron ſeiner Ahnen.
Der Palaſt des Königs war groß und herrlich, in der oberſten Burg der Stadt gelegen. Hundert Säulen trugen ihn, und ein heiliger Hain umringte ihn mit hohen, Ehrfurcht gebietenden Bäumen. Im Innern deſ¬ ſelben ſaß auf einem hohen Throne Latinus und beſchied die Trojaner vor ſich. Als ſie eingetreten waren, ſprach er mit freundlichem Angeſichte: „Euer Geſchlecht iſt mir nicht unbekannt, ihr Dardaniden, und ihr waret mir ver¬ kündiget, noch als ihr lang auf dem Meere umherirrtet. Möget ihr nun durch Stürme hieher verſchlagen, oder
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><pbfacs="#f0374"n="352"/></div><divn="3"><head><hirendition="#b">Lavinia dem Aeneas zugeſagt.</hi><lb/></head><p>Der Sohn des Anchiſes wählte aus allen Schiffen<lb/>
des Geſchwaders die ausgezeichnetſten Männer, hundert<lb/>
an der Zahl, als Redner oder Geſandte, die an den<lb/>
Laurenterkönig abgeſchickt werden ſollten. Dieſe traten,<lb/>
bebänderte Oelzweige, gleich Schutzflehenden, in den<lb/>
Händen, die Reiſe an und gelangten bald in die Stadt<lb/>
der Latiner. Vor der Stadt tummelte ſich die Jugend<lb/>
Latiums zu Wagen und Roß, andere vergnügten ſich<lb/>
mit Wurfſpießwerfen und Bogenſchießen, mit Fauſtkampf<lb/>
und Wettrennen. Als nun die fremden Geſandten kamen,<lb/>
eilte ein Bote zu Roß in die Stadt voran und brachte<lb/>
dem alten Könige die unerwartete Botſchaft, daß eine<lb/>
Schaar großer, herrlicher Männer friedlich herannahe.<lb/>
Dieſer befahl ſogleich, ſie in ſeine Wohnung zu rufen<lb/>
und verſammelte alle die Seinigen um den Thron ſeiner<lb/>
Ahnen.</p><lb/><p>Der Palaſt des Königs war groß und herrlich, in<lb/>
der oberſten Burg der Stadt gelegen. Hundert Säulen<lb/>
trugen ihn, und ein heiliger Hain umringte ihn mit<lb/>
hohen, Ehrfurcht gebietenden Bäumen. Im Innern deſ¬<lb/>ſelben ſaß auf einem hohen Throne Latinus und beſchied<lb/>
die Trojaner vor ſich. Als ſie eingetreten waren, ſprach<lb/>
er mit freundlichem Angeſichte: „Euer Geſchlecht iſt mir<lb/>
nicht unbekannt, ihr Dardaniden, und ihr waret mir ver¬<lb/>
kündiget, noch als ihr lang auf dem Meere umherirrtet.<lb/>
Möget ihr nun durch Stürme hieher verſchlagen, oder<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[352/0374]
Lavinia dem Aeneas zugeſagt.
Der Sohn des Anchiſes wählte aus allen Schiffen
des Geſchwaders die ausgezeichnetſten Männer, hundert
an der Zahl, als Redner oder Geſandte, die an den
Laurenterkönig abgeſchickt werden ſollten. Dieſe traten,
bebänderte Oelzweige, gleich Schutzflehenden, in den
Händen, die Reiſe an und gelangten bald in die Stadt
der Latiner. Vor der Stadt tummelte ſich die Jugend
Latiums zu Wagen und Roß, andere vergnügten ſich
mit Wurfſpießwerfen und Bogenſchießen, mit Fauſtkampf
und Wettrennen. Als nun die fremden Geſandten kamen,
eilte ein Bote zu Roß in die Stadt voran und brachte
dem alten Könige die unerwartete Botſchaft, daß eine
Schaar großer, herrlicher Männer friedlich herannahe.
Dieſer befahl ſogleich, ſie in ſeine Wohnung zu rufen
und verſammelte alle die Seinigen um den Thron ſeiner
Ahnen.
Der Palaſt des Königs war groß und herrlich, in
der oberſten Burg der Stadt gelegen. Hundert Säulen
trugen ihn, und ein heiliger Hain umringte ihn mit
hohen, Ehrfurcht gebietenden Bäumen. Im Innern deſ¬
ſelben ſaß auf einem hohen Throne Latinus und beſchied
die Trojaner vor ſich. Als ſie eingetreten waren, ſprach
er mit freundlichem Angeſichte: „Euer Geſchlecht iſt mir
nicht unbekannt, ihr Dardaniden, und ihr waret mir ver¬
kündiget, noch als ihr lang auf dem Meere umherirrtet.
Möget ihr nun durch Stürme hieher verſchlagen, oder
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 352. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/374>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.