Geschlecht ein Land, welches sie bald Hesperien, bald Italien benannte. Das geschah aber, als Troja noch lange stand, und wer dachte damals im Ernste daran, daß jemals teukrische Männer ihre Heimath verlassen, und nach den fernen Küsten Hesperiens auswandern würden? ja, wer achtete damals überhaupt nur auf die Reden Kassandra's, die für eine Närrin und keine Sehe¬ rin galt! Jetzt aber laßt uns dem Wort Apollo's nach¬ geben, und auf seine Warnung dem besseren Winke folgen."
So sprach Anchises. Inzwischen hatte sich das Volk zur beschlossenen Abfahrt nach Delos versammelt; als es nun die neue Weisung der Götter vernommen, brach es in einen lauten Jubel aus. Alles rüstete sich; nur we¬ nige Kranke und Genesende blieben in der neugegründe¬ ten Pflanzstadt zurück. Durch sie wurde die neue Ansie¬ delung der Trojaner erhalten; glücklichere Zeiten kamen, die kleinen Ueberbleibsel vermehrten sich, und in späten Tagen blühte auf der Insel Kreta noch Pergamus die Troerstadt.
Die Andern aber richteten die Segel, und bald steuerte die Flotte wieder auf der hohen See.
Sturm und Irrfahrten. Die Harpyien.
Als kein Land mehr sichtbar, und rings herum nur Himmel und Gewässer war, sammelte sich über den Häuptern der Schiffenden ein graues Gewölk, das Nacht und Sturm herbeiführte, und die Woge fing in schwar¬ zer Finsterniß zu schauern an. Sofort brachten Orkane
Geſchlecht ein Land, welches ſie bald Hesperien, bald Italien benannte. Das geſchah aber, als Troja noch lange ſtand, und wer dachte damals im Ernſte daran, daß jemals teukriſche Männer ihre Heimath verlaſſen, und nach den fernen Küſten Hesperiens auswandern würden? ja, wer achtete damals überhaupt nur auf die Reden Kaſſandra's, die für eine Närrin und keine Sehe¬ rin galt! Jetzt aber laßt uns dem Wort Apollo's nach¬ geben, und auf ſeine Warnung dem beſſeren Winke folgen.“
So ſprach Anchiſes. Inzwiſchen hatte ſich das Volk zur beſchloſſenen Abfahrt nach Delos verſammelt; als es nun die neue Weiſung der Götter vernommen, brach es in einen lauten Jubel aus. Alles rüſtete ſich; nur we¬ nige Kranke und Geneſende blieben in der neugegründe¬ ten Pflanzſtadt zurück. Durch ſie wurde die neue Anſie¬ delung der Trojaner erhalten; glücklichere Zeiten kamen, die kleinen Ueberbleibſel vermehrten ſich, und in ſpäten Tagen blühte auf der Inſel Kreta noch Pergamus die Troerſtadt.
Die Andern aber richteten die Segel, und bald ſteuerte die Flotte wieder auf der hohen See.
Sturm und Irrfahrten. Die Harpyien.
Als kein Land mehr ſichtbar, und rings herum nur Himmel und Gewäſſer war, ſammelte ſich über den Häuptern der Schiffenden ein graues Gewölk, das Nacht und Sturm herbeiführte, und die Woge fing in ſchwar¬ zer Finſterniß zu ſchauern an. Sofort brachten Orkane
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Geſchlecht ein Land, welches ſie bald Hesperien, bald
Italien benannte. Das geſchah aber, als Troja noch
lange ſtand, und wer dachte damals im Ernſte daran,
daß jemals teukriſche Männer ihre Heimath verlaſſen,
und nach den fernen Küſten Hesperiens auswandern
würden? ja, wer achtete damals überhaupt nur auf die
Reden Kaſſandra's, die für eine Närrin und keine Sehe¬
rin galt! Jetzt aber laßt uns dem Wort Apollo's nach¬
geben, und auf ſeine Warnung dem beſſeren Winke
folgen.“
So ſprach Anchiſes. Inzwiſchen hatte ſich das Volk
zur beſchloſſenen Abfahrt nach Delos verſammelt; als es
nun die neue Weiſung der Götter vernommen, brach es
in einen lauten Jubel aus. Alles rüſtete ſich; nur we¬
nige Kranke und Geneſende blieben in der neugegründe¬
ten Pflanzſtadt zurück. Durch ſie wurde die neue Anſie¬
delung der Trojaner erhalten; glücklichere Zeiten kamen,
die kleinen Ueberbleibſel vermehrten ſich, und in ſpäten
Tagen blühte auf der Inſel Kreta noch Pergamus die
Troerſtadt.
Die Andern aber richteten die Segel, und bald
ſteuerte die Flotte wieder auf der hohen See.
Sturm und Irrfahrten. Die Harpyien.
Als kein Land mehr ſichtbar, und rings herum nur
Himmel und Gewäſſer war, ſammelte ſich über den
Häuptern der Schiffenden ein graues Gewölk, das Nacht
und Sturm herbeiführte, und die Woge fing in ſchwar¬
zer Finſterniß zu ſchauern an. Sofort brachten Orkane
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 302. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/324>, abgerufen am 21.11.2024.
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