Seinen Vater Anchises auf den Schultern, seinen Sohn Askanius an der Hand, geschützt von seiner Mutter Venus, war der trojanische Held Aeneas dem Brande seiner eroberten Vaterstadt entronnen*), und am Fuße des Idagebirges, wo dieses in das Meer ausläuft, in der kleinen Hafenstadt Antandros angekommen. Hier sammelten sich um ihn befreundete Flüchtlinge in großer Anzahl, Männer, Frauen und Kinder, lauter un¬ glückliche, des Vaterlands verlustige Menschen, und alle bereit, unter seiner Anführung eine neue Heimath auf¬ zusuchen. Noch ungewiß, wohin sie das Geschick führen, wo es ihnen Ruhe vergönnen würde, fingen sie mit Hülfe der geretteten und zusammengeschossenen Habe sich eine Flotte zu zimmern an, die mit dem ersten Beginne des Frühlings fertig war, unter Segel zu gehen. Der älteste Trojaner, der sich in ihrer Mitte befand, der greise Held Anchises selbst gab das Zeichen zum Aufbruch, und sagte zuerst dem unterjochten Geburtsland ein ewiges Lebewohl. Weinen und Wehklagen ertönte von den Schiffen, als sie sich von der Heimathküste loßrißen, und bald war diese aus den Blicken der Flüchtlinge ver¬ schwunden.
Nach einer ununterbrochenen Fahrt von mehreren Tagen landete die Flotte an dem Gestade Thraciens, das vor Zeiten der wilde Verächter des Bacchus, der König Lykurgus beherrscht ha te, dessen jetzige Bewohner
*) S. Bd. II. S. 421--422.
Aeneas verläßt die trojaniſche Küſte.
Seinen Vater Anchiſes auf den Schultern, ſeinen Sohn Askanius an der Hand, geſchützt von ſeiner Mutter Venus, war der trojaniſche Held Aeneas dem Brande ſeiner eroberten Vaterſtadt entronnen*), und am Fuße des Idagebirges, wo dieſes in das Meer ausläuft, in der kleinen Hafenſtadt Antandros angekommen. Hier ſammelten ſich um ihn befreundete Flüchtlinge in großer Anzahl, Männer, Frauen und Kinder, lauter un¬ glückliche, des Vaterlands verluſtige Menſchen, und alle bereit, unter ſeiner Anführung eine neue Heimath auf¬ zuſuchen. Noch ungewiß, wohin ſie das Geſchick führen, wo es ihnen Ruhe vergönnen würde, fingen ſie mit Hülfe der geretteten und zuſammengeſchoſſenen Habe ſich eine Flotte zu zimmern an, die mit dem erſten Beginne des Frühlings fertig war, unter Segel zu gehen. Der älteſte Trojaner, der ſich in ihrer Mitte befand, der greiſe Held Anchiſes ſelbſt gab das Zeichen zum Aufbruch, und ſagte zuerſt dem unterjochten Geburtsland ein ewiges Lebewohl. Weinen und Wehklagen ertönte von den Schiffen, als ſie ſich von der Heimathküſte loßrißen, und bald war dieſe aus den Blicken der Flüchtlinge ver¬ ſchwunden.
Nach einer ununterbrochenen Fahrt von mehreren Tagen landete die Flotte an dem Geſtade Thraciens, das vor Zeiten der wilde Verächter des Bacchus, der König Lykurgus beherrſcht ha te, deſſen jetzige Bewohner
*) S. Bd. II. S. 421—422.
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Aeneas verläßt die trojaniſche Küſte.
Seinen Vater Anchiſes auf den Schultern, ſeinen
Sohn Askanius an der Hand, geſchützt von ſeiner Mutter
Venus, war der trojaniſche Held Aeneas dem Brande
ſeiner eroberten Vaterſtadt entronnen *), und am Fuße
des Idagebirges, wo dieſes in das Meer ausläuft, in
der kleinen Hafenſtadt Antandros angekommen. Hier
ſammelten ſich um ihn befreundete Flüchtlinge in großer
Anzahl, Männer, Frauen und Kinder, lauter un¬
glückliche, des Vaterlands verluſtige Menſchen, und alle
bereit, unter ſeiner Anführung eine neue Heimath auf¬
zuſuchen. Noch ungewiß, wohin ſie das Geſchick führen,
wo es ihnen Ruhe vergönnen würde, fingen ſie mit
Hülfe der geretteten und zuſammengeſchoſſenen Habe ſich
eine Flotte zu zimmern an, die mit dem erſten Beginne
des Frühlings fertig war, unter Segel zu gehen. Der
älteſte Trojaner, der ſich in ihrer Mitte befand, der greiſe
Held Anchiſes ſelbſt gab das Zeichen zum Aufbruch, und
ſagte zuerſt dem unterjochten Geburtsland ein ewiges
Lebewohl. Weinen und Wehklagen ertönte von den
Schiffen, als ſie ſich von der Heimathküſte loßrißen, und
bald war dieſe aus den Blicken der Flüchtlinge ver¬
ſchwunden.
Nach einer ununterbrochenen Fahrt von mehreren
Tagen landete die Flotte an dem Geſtade Thraciens,
das vor Zeiten der wilde Verächter des Bacchus, der
König Lykurgus beherrſcht ha te, deſſen jetzige Bewohner
*)
S. Bd. II. S. 421—422.
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. [293]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/315>, abgerufen am 21.11.2024.
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