Die Freier waren noch immer beisammen, als ein berüchtigter Bettler aus der Stadt in den Saal trat, ein ungeheurer Vielfraß, groß von Gestalt, aber ohne alle Leibeskraft; von Haus aus hieß er Arnäus, aber die Jugend der Stadt nannte ihn mit einem Unnamen, Irus, was einen Boten bezeichnete, denn er pflegte um Lohn Botendienste zu thun. Die Eifersucht führte ihn herbei, denn er hatte von einem Nebenbuhler gehört, und so kam er heran, den Odysseus aus seinem eigenen Hause zu vertreiben. "Weiche von der Thüre, Greis," rief er beim Eintreten, "siehst du nicht, wie mir Alles mit den Augen zuwinkt, dich am Fuß hinauszuschleppen? Geh freiwillig und zwinge mich nicht dazu!" Finster blickte ihn Odysseus an und sprach: "Die Schwelle hat Raum für uns beide. Du scheinst mir arm zu seyn wie ich. Beneide mich nicht, wie ich selbst dir deinen Antheil gönne. Reize meinen Zorn nicht und fordere mich nicht zum Faustkampf heraus: so alt ich bin, so möchten dir doch bald Brust und Lippen bluten, und das Haus dürfte morgen Ruhe vor dir haben." Jetzt fing Irus nur noch ärger zu poltern an: "Was schwatzest du da, Fresser," sprach er, "was plauderst du wie ein Hökerweib? Ein paar Streiche von mir rechts und links sollen dir Backen und Maul zerschmettern, daß dir die Zähne auf den Bo¬ den fallen wie aus einem Schweinsrüssel. Hast du Lust, es mit einem Jüngling aufzunehmen, wie ich einer bin?"
Schwab, das klass. Alterthum III. 15
Odyſſeus und der Bettler Irus.
Die Freier waren noch immer beiſammen, als ein berüchtigter Bettler aus der Stadt in den Saal trat, ein ungeheurer Vielfraß, groß von Geſtalt, aber ohne alle Leibeskraft; von Haus aus hieß er Arnäus, aber die Jugend der Stadt nannte ihn mit einem Unnamen, Irus, was einen Boten bezeichnete, denn er pflegte um Lohn Botendienſte zu thun. Die Eiferſucht führte ihn herbei, denn er hatte von einem Nebenbuhler gehört, und ſo kam er heran, den Odyſſeus aus ſeinem eigenen Hauſe zu vertreiben. „Weiche von der Thüre, Greis,“ rief er beim Eintreten, „ſiehſt du nicht, wie mir Alles mit den Augen zuwinkt, dich am Fuß hinauszuſchleppen? Geh freiwillig und zwinge mich nicht dazu!“ Finſter blickte ihn Odyſſeus an und ſprach: „Die Schwelle hat Raum für uns beide. Du ſcheinſt mir arm zu ſeyn wie ich. Beneide mich nicht, wie ich ſelbſt dir deinen Antheil gönne. Reize meinen Zorn nicht und fordere mich nicht zum Fauſtkampf heraus: ſo alt ich bin, ſo möchten dir doch bald Bruſt und Lippen bluten, und das Haus dürfte morgen Ruhe vor dir haben.“ Jetzt fing Irus nur noch ärger zu poltern an: „Was ſchwatzeſt du da, Freſſer,“ ſprach er, „was plauderſt du wie ein Hökerweib? Ein paar Streiche von mir rechts und links ſollen dir Backen und Maul zerſchmettern, daß dir die Zähne auf den Bo¬ den fallen wie aus einem Schweinsrüſſel. Haſt du Luſt, es mit einem Jüngling aufzunehmen, wie ich einer bin?“
Schwab, das klaſſ. Alterthum III. 15
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><pbfacs="#f0247"n="225"/></div><divn="3"><head><hirendition="#b">Odyſſeus und der Bettler Irus.</hi><lb/></head><p>Die Freier waren noch immer beiſammen, als ein<lb/>
berüchtigter Bettler aus der Stadt in den Saal trat,<lb/>
ein ungeheurer Vielfraß, groß von Geſtalt, aber ohne<lb/>
alle Leibeskraft; von Haus aus hieß er Arnäus, aber<lb/>
die Jugend der Stadt nannte ihn mit einem Unnamen,<lb/>
Irus, was einen Boten bezeichnete, denn er pflegte um<lb/>
Lohn Botendienſte zu thun. Die Eiferſucht führte ihn<lb/>
herbei, denn er hatte von einem Nebenbuhler gehört, und<lb/>ſo kam er heran, den Odyſſeus aus ſeinem eigenen Hauſe<lb/>
zu vertreiben. „Weiche von der Thüre, Greis,“ rief er<lb/>
beim Eintreten, „ſiehſt du nicht, wie mir Alles mit den<lb/>
Augen zuwinkt, dich am Fuß hinauszuſchleppen? Geh<lb/>
freiwillig und zwinge mich nicht dazu!“ Finſter blickte<lb/>
ihn Odyſſeus an und ſprach: „Die Schwelle hat Raum<lb/>
für uns beide. Du ſcheinſt mir arm zu ſeyn wie ich.<lb/>
Beneide mich nicht, wie ich ſelbſt dir deinen Antheil gönne.<lb/>
Reize meinen Zorn nicht und fordere mich nicht zum<lb/>
Fauſtkampf heraus: ſo alt ich bin, ſo möchten dir doch<lb/>
bald Bruſt und Lippen bluten, und das Haus dürfte<lb/>
morgen Ruhe vor dir haben.“ Jetzt fing Irus nur noch<lb/>
ärger zu poltern an: „Was ſchwatzeſt du da, Freſſer,“<lb/>ſprach er, „was plauderſt du wie ein Hökerweib? Ein<lb/>
paar Streiche von mir rechts und links ſollen dir Backen<lb/>
und Maul zerſchmettern, daß dir die Zähne auf den Bo¬<lb/>
den fallen wie aus einem Schweinsrüſſel. Haſt du Luſt,<lb/>
es mit einem Jüngling aufzunehmen, wie ich einer bin?“<lb/></p><fwtype="sig"place="bottom"><hirendition="#g">Schwab</hi>, das klaſſ. Alterthum <hirendition="#aq">III</hi>. 15<lb/></fw></div></div></div></body></text></TEI>
[225/0247]
Odyſſeus und der Bettler Irus.
Die Freier waren noch immer beiſammen, als ein
berüchtigter Bettler aus der Stadt in den Saal trat,
ein ungeheurer Vielfraß, groß von Geſtalt, aber ohne
alle Leibeskraft; von Haus aus hieß er Arnäus, aber
die Jugend der Stadt nannte ihn mit einem Unnamen,
Irus, was einen Boten bezeichnete, denn er pflegte um
Lohn Botendienſte zu thun. Die Eiferſucht führte ihn
herbei, denn er hatte von einem Nebenbuhler gehört, und
ſo kam er heran, den Odyſſeus aus ſeinem eigenen Hauſe
zu vertreiben. „Weiche von der Thüre, Greis,“ rief er
beim Eintreten, „ſiehſt du nicht, wie mir Alles mit den
Augen zuwinkt, dich am Fuß hinauszuſchleppen? Geh
freiwillig und zwinge mich nicht dazu!“ Finſter blickte
ihn Odyſſeus an und ſprach: „Die Schwelle hat Raum
für uns beide. Du ſcheinſt mir arm zu ſeyn wie ich.
Beneide mich nicht, wie ich ſelbſt dir deinen Antheil gönne.
Reize meinen Zorn nicht und fordere mich nicht zum
Fauſtkampf heraus: ſo alt ich bin, ſo möchten dir doch
bald Bruſt und Lippen bluten, und das Haus dürfte
morgen Ruhe vor dir haben.“ Jetzt fing Irus nur noch
ärger zu poltern an: „Was ſchwatzeſt du da, Freſſer,“
ſprach er, „was plauderſt du wie ein Hökerweib? Ein
paar Streiche von mir rechts und links ſollen dir Backen
und Maul zerſchmettern, daß dir die Zähne auf den Bo¬
den fallen wie aus einem Schweinsrüſſel. Haſt du Luſt,
es mit einem Jüngling aufzunehmen, wie ich einer bin?“
Schwab, das klaſſ. Alterthum III. 15
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 225. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/247>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.