war der liebste Jagdhund meines unglücklichen Herrn; da hättest du ihn in den waldigen Thälern sehen sollen, wie weidlich er durchs Gestrüppe dem Wild nachspürte! Jetzt aber, seit sein Herr dahin ist, liegt er hier ver¬ achtet, und die Mägde geben ihm nicht einmal das nöthige Futter!"
Mit diesen Worten ging der Sauhirt in den Pa¬ last; der Hund aber, nachdem er im zwanzigsten Jahre seinen Herrn wiedergesehen, senkte seinen Kopf und starb.
Odysseus als Bettler im Saal.
Im Innern des Hauses wurde Telemach zuerst den Sauhirten gewahr und rief ihn heran. Eumäus schaute sich vorsichtig um, ergriff den leeren Stuhl, auf welchem der Fleischzerleger vor dem Mahle zu sitzen pflegte, und setzte sich auf einen Wink an den Tisch seines Herrn, diesem gegenüber, wo ihm sofort der Herold Fleisch und Brod reichte. Bald nach ihm wankte auch Odysseus der Bettler am Stabe herein und setzte sich innerhalb der Pforte auf die Schwelle von Eschenholz nieder, an den einen der schön geschnitzten Thürpfosten aus Cypressen¬ holz gelehnt. Sobald Telemach ihn erblickte, langte er aus dem vor ihm stehendem Korb ein ganzes Brod, nahm dazu eine Hand voll Fleisch, und gab beides dem Sau¬ hirten mit den Worten: "Hier, mein Freund, reiche diese Gaben dem Fremdling, und sag' ihm, er soll sich der Scham entschlagen, und bei den Freiern herum¬ betteln!" Odysseus empfing die Gabe segnend mit beiden
war der liebſte Jagdhund meines unglücklichen Herrn; da hätteſt du ihn in den waldigen Thälern ſehen ſollen, wie weidlich er durchs Geſtrüppe dem Wild nachſpürte! Jetzt aber, ſeit ſein Herr dahin iſt, liegt er hier ver¬ achtet, und die Mägde geben ihm nicht einmal das nöthige Futter!“
Mit dieſen Worten ging der Sauhirt in den Pa¬ laſt; der Hund aber, nachdem er im zwanzigſten Jahre ſeinen Herrn wiedergeſehen, ſenkte ſeinen Kopf und ſtarb.
Odyſſeus als Bettler im Saal.
Im Innern des Hauſes wurde Telemach zuerſt den Sauhirten gewahr und rief ihn heran. Eumäus ſchaute ſich vorſichtig um, ergriff den leeren Stuhl, auf welchem der Fleiſchzerleger vor dem Mahle zu ſitzen pflegte, und ſetzte ſich auf einen Wink an den Tiſch ſeines Herrn, dieſem gegenüber, wo ihm ſofort der Herold Fleiſch und Brod reichte. Bald nach ihm wankte auch Odyſſeus der Bettler am Stabe herein und ſetzte ſich innerhalb der Pforte auf die Schwelle von Eſchenholz nieder, an den einen der ſchön geſchnitzten Thürpfoſten aus Cypreſſen¬ holz gelehnt. Sobald Telemach ihn erblickte, langte er aus dem vor ihm ſtehendem Korb ein ganzes Brod, nahm dazu eine Hand voll Fleiſch, und gab beides dem Sau¬ hirten mit den Worten: „Hier, mein Freund, reiche dieſe Gaben dem Fremdling, und ſag' ihm, er ſoll ſich der Scham entſchlagen, und bei den Freiern herum¬ betteln!“ Odyſſeus empfing die Gabe ſegnend mit beiden
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0242"n="220"/>
war der liebſte Jagdhund meines unglücklichen Herrn;<lb/>
da hätteſt du ihn in den waldigen Thälern ſehen ſollen,<lb/>
wie weidlich er durchs Geſtrüppe dem Wild nachſpürte!<lb/>
Jetzt aber, ſeit ſein Herr dahin iſt, liegt er hier ver¬<lb/>
achtet, und die Mägde geben ihm nicht einmal das<lb/>
nöthige Futter!“</p><lb/><p>Mit dieſen Worten ging der Sauhirt in den Pa¬<lb/>
laſt; der Hund aber, nachdem er im zwanzigſten Jahre<lb/>ſeinen Herrn wiedergeſehen, ſenkte ſeinen Kopf und ſtarb.</p><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/></div><divn="3"><head><hirendition="#b">Odyſſeus als Bettler im Saal.</hi><lb/></head><p>Im Innern des Hauſes wurde Telemach zuerſt den<lb/>
Sauhirten gewahr und rief ihn heran. Eumäus ſchaute<lb/>ſich vorſichtig um, ergriff den leeren Stuhl, auf welchem<lb/>
der Fleiſchzerleger vor dem Mahle zu ſitzen pflegte, und<lb/>ſetzte ſich auf einen Wink an den Tiſch ſeines Herrn,<lb/>
dieſem gegenüber, wo ihm ſofort der Herold Fleiſch und<lb/>
Brod reichte. Bald nach ihm wankte auch Odyſſeus der<lb/>
Bettler am Stabe herein und ſetzte ſich innerhalb der<lb/>
Pforte auf die Schwelle von Eſchenholz nieder, an den<lb/>
einen der ſchön geſchnitzten Thürpfoſten aus Cypreſſen¬<lb/>
holz gelehnt. Sobald Telemach ihn erblickte, langte er aus<lb/>
dem vor ihm ſtehendem Korb ein ganzes Brod, nahm<lb/>
dazu eine Hand voll Fleiſch, und gab beides dem Sau¬<lb/>
hirten mit den Worten: „Hier, mein Freund, reiche<lb/>
dieſe Gaben dem Fremdling, und ſag' ihm, er ſoll ſich<lb/>
der Scham entſchlagen, und bei den Freiern herum¬<lb/>
betteln!“ Odyſſeus empfing die Gabe ſegnend mit beiden<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[220/0242]
war der liebſte Jagdhund meines unglücklichen Herrn;
da hätteſt du ihn in den waldigen Thälern ſehen ſollen,
wie weidlich er durchs Geſtrüppe dem Wild nachſpürte!
Jetzt aber, ſeit ſein Herr dahin iſt, liegt er hier ver¬
achtet, und die Mägde geben ihm nicht einmal das
nöthige Futter!“
Mit dieſen Worten ging der Sauhirt in den Pa¬
laſt; der Hund aber, nachdem er im zwanzigſten Jahre
ſeinen Herrn wiedergeſehen, ſenkte ſeinen Kopf und ſtarb.
Odyſſeus als Bettler im Saal.
Im Innern des Hauſes wurde Telemach zuerſt den
Sauhirten gewahr und rief ihn heran. Eumäus ſchaute
ſich vorſichtig um, ergriff den leeren Stuhl, auf welchem
der Fleiſchzerleger vor dem Mahle zu ſitzen pflegte, und
ſetzte ſich auf einen Wink an den Tiſch ſeines Herrn,
dieſem gegenüber, wo ihm ſofort der Herold Fleiſch und
Brod reichte. Bald nach ihm wankte auch Odyſſeus der
Bettler am Stabe herein und ſetzte ſich innerhalb der
Pforte auf die Schwelle von Eſchenholz nieder, an den
einen der ſchön geſchnitzten Thürpfoſten aus Cypreſſen¬
holz gelehnt. Sobald Telemach ihn erblickte, langte er aus
dem vor ihm ſtehendem Korb ein ganzes Brod, nahm
dazu eine Hand voll Fleiſch, und gab beides dem Sau¬
hirten mit den Worten: „Hier, mein Freund, reiche
dieſe Gaben dem Fremdling, und ſag' ihm, er ſoll ſich
der Scham entſchlagen, und bei den Freiern herum¬
betteln!“ Odyſſeus empfing die Gabe ſegnend mit beiden
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 220. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/242>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.